Die Show als Tribunal

von Sascha Westphal

Dortmund, 26. September 2015. Gerade einmal eine Woche ist es her, dass das Zentrum für politische Schönheit das Publikum im Schauspiel Dortmund medienwirksam beschimpft hat. Gut anderthalb Stunden wurde man von vier aus der Zukunft des Jahres 2099 kommenden Philosophen und Zeitreisenden für nahezu alle Übel der Welt verantwortlich gemacht. Theater weniger als Aktion, denn als flammende Strafpredigt. Einer der vier aufrechten Empörten war der Schauspieler Björn Gabriel, der vor gut drei Jahren zusammen mit der Bühnenbildnerin Stefanie Dellmann die freie Gruppe Sir Gabriel Dellmann gegründet hat.

Politik als Übung im Stillstand

Wie die Projekte des Zentrums kreisen auch deren Arbeiten, die mittlerweile zu verschiedenen Festivals eingeladen und für mehrere Preise nominiert wurden, um Fragen der politischen Partizipation. Ihre letzte Produktion "The Great Democracy Show – It's unbelievable" war genau das: eine bedauerlicherweise ziemlich glaubhafte Show über den Ausverkauf der Demokratie als sinnentleertes Spektakel für die von Fernsehen und Internet anästhesierten Massen.

Wohindesweges 560 MeyerOriginals uAbstimmung per SMS in der Democracy-Show: Martin Hohner  © Meyer Originals

Mit "Wohin des Weges – Volksvertreter?" führt Björn Gabriel seine Analyse unserer sich gerade selbst immer weiter abschaffenden Demokratie nun konsequent fort. Zugleich etabliert er etwa drei Kilometer nördlich vom Schauspielhaus im Theater im Depot noch eine Art Gegengewicht zum Wuttheater des Zentrums für politische Schönheit. "Wohin des Weges – Volksvertreter?" ist, wie sollte es in einer Post-McLuhanschen Welt, in der das Medium jede Message ersetzt, auch anders sein, eine Fernseh-Talkshow. Der Moderator Dr. Martin Hohner hat sich drei Politikerinnen und Politiker in die Sendung eingeladen, um mit ihnen über die zentralen Themen unserer Zeit zu diskutieren.

Theaterdarsteller als Politikerdarsteller

Nur haben weder die Fraktionsvorsitzende und Regierungschefin Dr. Fiona Metscher, die Politik vor allem als Übung in Stillstand betrachtet, und ihr Wirtschaftsexperte Dr. Matthias Kelle, der den Kapitalismus und natürlich Deutschland vor all den linken Spinnern und Ideologen retten will, noch die linke Oppositionspolitikerin Dr. Aischa-Lina Löbbert, die ständig zwischen revolutionärem Furor und lethargischen Entsetzen hin und her pendelt, Interesse an einer echten Diskussion. Selbst der 'demokratische Clou' der Show, die Zuschauer im Theater dürfen nach jedem Themenblock per SMS abstimmen, wer sie am ehesten überzeugt hat, reißt sie nicht aus ihren gewohnten Mustern heraus. Muss er auch nicht, denn schon bei der zweiten Umfrage offenbart sich im Publikum eine deutliche Abstimmungsmüdigkeit.

So ist es in dieser "performativen Intervention" anscheinend genauso wie in der Wirklichkeit. Die Politiker-Darsteller halten ihre antrainierten Reden und verfallen in ihre Pawlowschen Reflexe, während die Bürger mal amüsiert, mal fassungslos zu sehen, bis dann doch noch etwas Außergewöhnliches geschieht: eine Gruppe namenloser Aktivisten kapert die Sendefrequenz und verwandelt die Show in ein Tribunal.

Natürlich arbeiten Gabriel und seine Mitstreiter mit den klassischen Techniken des politischen Kabaretts. Die Ähnlichkeiten zwischen den von Aischa-Lina Löbbert, Fiona Metscher und Matthias Kelle verkörperten Polit-Profis und realen Polit-Persönlichkeiten sind alles andere als zufällig. Und natürlich ist es ein großer Spaß zu sehen, wie Fiona Metscher in einem Moment der Ekstase sich vor einer Reproduktion von Eugène Delacroix’ Gemälde Die Freiheit führt das Volk stehend in eine deutsche Marianne verwandelt: Die Kanzlerin führt das Volk ... in die Unmündigkeit.

Placebofunktion des politischen Theaters

Aber jenseits all der Show-Elemente und der Schock-Videos von geschlachteten Tieren und verhungernden Menschen in Afrika, von hilflos im Mittelmeer treibenden Flüchtlingen und politischen Gefangenen sucht Björn Gabriel nach Möglichkeiten, die Bühne tatsächlich wieder zur Agora, zum direkten demokratischen Mittelpunkt unserer Gesellschaft, zu machen. Also klagt er den Zuschauer nicht schimpfend an und macht ihn auch nicht zum Sündenbock. Er verabschiedet das Publikum lieber mit Brechtscher Ironie: "Wir haben das soziale Engagement für sie übernommen und als Theater verkleidet. Und sie haben sich die ganze Show-se angeschaut. Damit haben sie genug geleistet."

Vor allem hat das kritische, das politische Theater damit eins geleistet, seine eigene Placebo-Funktion offengelegt. So ist es eben mit der Repräsentation: Die Bürger geben ihre Macht ständig ab, mal an Politiker, mal an Künstler. Aber Letztere können sie zumindest wieder zurück in die Hände des Publikums legen. Genau so muss man auch den Live-Stream der Aufführung in den "Salon Fink", ein Café in der Dortmunder Nordstadt, verstehen. Das Theater strahlt aus zu denen, für die all die in "Wohin des Weges – Volksvertreter?" so verräterisch nicht-diskutierten Themen eine zentrale Relevanz haben. Vielleicht führt die Freiheit doch noch einmal das Volk, wenn es sich seiner Macht und seiner Verantwortung erinnert.

 

Wohin des Weges – Volksvertreter?
von Björn Gabriel
Regie: Björn Gabriel,  Produktionsleitung: Anna Marienfeld, Ausstattung: Stefanie Dellmann, Vision & Sound: Tilman Oesterreich, Mario Simon, Technik / Licht: Peter Fotheringham, Benno Fotheringham.
Mit: Aischa-Lina Löbbert, Fiona Metscher, Martin Hohner, Matthias Kelle
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.depotdortmund.de
www.sir-gabriel-dellmann.de

 

 

Kommentare  
Wohin des Weges, Dortmund: multimediale Kreativlosigkeit
Die Übertragung im Salon Fink war eine Katastrophe. Ebenso die vermeintliche Abstimmung, die inszeniert war und keine Zuschauerstimmen berücksichtigt hat. Also wenn das die Distanz zwischen sogenanntem "Volk" und Poltik illustrieren sollte, bitte sehr. Aber die Mischung aus unglaublich platter, moralisierender Phrasendrescherei à la Wutbürgersprech (Demokratie schafft sich ab, Wir sind das Volk) und multimedialer Kreativlosigkeit kann Ihnen doch nicht entgangen sein Herr Westphal? Also wenn das politisches Theater ist, bin ich Ulrike Meinhof.
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