Getränkedosenringparabel

von Hartmut Krug

Rostock, 26. September 2015. Das Motto der zweiten Spielzeit von Sewan Latchinian lautet "Toleranz in religiösen und kulturellen Fragen". Auftakt war der "2. Stapellauf Toleranz", ein ursprünglich siebenteilig geplantes Spektakel, das wegen der zeitweiligen Amtsenthebung des Intendanten nur dreiteilig geriet. Lessings "Nathan", Strawinskys "Le Sacre Du Printemps" und "Liebeslieder", das ganze mit langen Pausen von siebzehn bis ein Uhr morgens.

Wenn "Nathan der Weise" beginnt, ist es dunkel auf der Bühne. Ein Sternenhimmel flimmert über Baumwipfeln, und in einer fernen Geräuschkulisse sind auch Schüsse zu hören. Leer ist die Szene, doch dann fällt Nathan in einer Qualmwolke durch die Tür hinein in den offenen Spielraum, als habe er sich gerettet aus der schlimmen Welt draußen. Aber in der Helligkeit seiner Wohnung präsentiert ihm Daja einen Benzinkanister (gab es etwa einen Brandanschlag?), und seine Tochter Recha humpelt barfuß, ein Bein bandagiert, am Stock herbei. Der schmale, konzentrierte Bernd Färber trägt zwar als Nathan die Kippa auf dem Kopf, wirkt aber sonst in schwarzer Kleidung und mit seiner unaufgeregt nüchternen Art wie ein Allerweltskaufmann. Er spielt keinen weisen Helden, sondern einen lebendigen, nachdenklichen Menschen. Daja bringt ihm eine Getränkedose, dann umarmt und küsst sie ihn. Die beiden kommen sich auch später immer wieder körperlich sehr nahe, als seien sie ein verliebtes Paar.

Nehmt Leben an, ihr Schemata!

Sewan Latchinian inszeniert Lessings Stück nicht als hehres Ideendrama, sondern betont als realistische Geschichte mit lebendigen, emotionalen Menschen. Das macht den Abend durchaus unterhaltsam, doch werden manche Figurenbeziehungen, auch durch dramaturgisch ungeschickte Kürzungen, unlogisch. Warum Daja (Juschka Spitzer gibt sie als lebenslustig sprühende Frau) offen legt, dass Recha nicht die leibliche und damit jüdische Tochter ihres Nathans, sondern von christlicher Geburt sei, erschließt sich so nicht recht. Noch weniger, warum der Tempelherr hier eine Templerin ist. Zwar gibt Sabrina Frank im Freizeit-Kampfanzug mit Patronentaschen eine äußerst  lebensvolle, energische Templerin, die mit kraftvollem Witz und aggressivem Trotz agiert, aber für die Beziehung zur ebenfalls sehr selbstwussten und lebhaften Recha (Cornelia Wöß) ergibt sich aus ihrem Frausein nichts. Sodass man darauf tippt, die Besetzung sei aus einem Engpass im Ensemble entstanden.

Nathan2 560 Dorit Gaetjen uInga Wolff und Ensemble © Dorit Gaetjen

Beim heftigen Versuch, Lessings Parabel mehr direkten Realismus und ihren oft mehr aus dem Gedanken geborenen Figuren mehr individuelle Lebendigkeit zu geben, findet Regisseur Latchinian allerdings manch schöne Effekte. Wenn der Klosterbruder Nathan eröffnet, er sei der Reitknecht gewesen, der ihm einst Recha übergeben habe, und ihm auch die Beweise für Rechas Abstammung schafft, dann muss er vielerlei komödiantisch effektvolle Versuche unternehmen, bis Nathan kapiert und reagiert: Ah, der will ja eine Belohnung! Und immer wieder werden Getränkedosen geöffnet. Wobei der Aufreißring einer Dose Nathan wohl die Anregung zu seiner Ringparabel gibt. Aber es gibt auch einige nur bühnenwirksam auftrumpfende, unlogische Einfälle.

Die Konstruiertheit der Erklärungen

Die religiösen Konflikte werden mal leicht unterspielt, mal kitschig ausgemalt. Auffällig dabei, wie stark der Applaus des Rostocker Publikums bei Sätzen ist, mit denen die christliche Kirche kritisiert wird. Der Patriarch tritt unterm von Nonnen getragenen Baldachin als schmallippiger Eiferer auf (hilft nichts, der Jude wird verbrannt), seine Kriegs- und Mordpläne aber spielen kaum eine Rolle. Während der Sultan Saladin bei der Befragung Nathans, die in der Ringparabel mündet, beständig mit seiner Pistole hantiert. Zuvor hatte er mit halbnackten,  blutbeschmierten und mit auf dem Rücken gefesselten Figuren Schach gespielt. Die Figuren, die rausgeworfen wurden, gingen freiwillig ab, worauf der Hinrichtungsschuss ertönte. Warum später, als Recha von Sittah zu sich geholt worden war, die beiden unter schwarzer Vollverschleierung der Burkas nur mit knappen Bikinis bekleidet sind, die sie beim Abgang ohne Burka präsentieren: eine eher entbehrliche Idee.

Doch der Inszenierung gelingt eine schöne, von Beifall umtoste Schlussszene, wenn von Nathan Licht ins Dunkel der Abstammungen gebracht wird. Das Licht im Zuschauerraum geht an, und Lessings meist in eher traurige Unsicherheit der Figuren aufgelöste Szene wird in Rostock fast zu Komödie, indem die verzwickte Unwirklichkeit und Konstruiertheit der Erklärungen ausgestellt wird. Herrlich, wie Sabrina Franks Templerin auf ihre immer neuen Familiennamen reagiert, wie sie genervt und schwach protestierend resigniert. Da muss der Darsteller des Klosterbruders, "Ulf, komm doch mal",  zum Beweis noch einmal auf die Bühne gerufen werden, und als man gar nicht mehr weiter weiß, zücken alle das gelbe Reclam-Heftchen mit Lessings Text und lesen die Schlussszene vor. So bekommt eine Inszenierung, die zwischen Meriten und Schwächen schwankt, schließlich klatschmarschartigen Applaus.

Nathan der Weise
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Sewan Latchinian, Ausstattung: Tobias Wartenberg, Dramaturgie: Martin Stefke.
Mit: Ulrich K. Müller, Inga Wolff, Bernd Färber, Cornelia Wöß, Juschka Spitzer, Sabrina Frank, Steffen Schreier, Ulf Perthel, Till Demuth.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.volkstheater-rostock.de

 

Kritikenrundschau

Sewan Latchinian zeige Lessings "Nathan" "hochaktuell, schärft hier und da nach, wird dadurch brutaler, menschlicher, direkter", schreibt Juliane Hinz in den Norddeutschen Neuesten Nachrichten (28.9.15). Den Pathos verwerfe er, führe ihn als poetische Utopie vor. "Bernd Färber überzeugt als menschlicher Nathan, dessen Weisheit mehr Klugheit ist als Großdenkertum. Sabrina Frank gibt eine jugendliche, energiegeladene und ungeduldige Templerin." Mit Ulrich Müller werde Saladin zum skrupellosen Diktator, so Hinz: "Starke Darsteller und ein rundes Inszenierungskonzept – ein vielversprechender Auftakt."

"So deutlich wie in Sewan Latchinians Inszenierung sah man das Stück selten aufgeführt“, schreiben Dietrich Pätzold und Heinz-Jürgen Staszak in ihrem Resümee des gesamten "Stapellaufs" für die Ostsee-Zeitung (28.9.15) über den "Nathan". Zwar gerate Lessings Konstruktion durch Latchinians direkte Annäherung zwischendurch "arg ins Wackeln", aber der Schluss sei "geschickt gelöst" und vermittle Toleranz "auch gegenüber dem zu schön konstruierten (…) Text".

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