Euer Theater ist viel besser, als ihr denkt

von Holger Syme

Toronto, 2. Oktober 2015. Woran krankt das deutsche Theater? Klagen über Klagen in den Feuilletons, auf nachtkritik.de eine lange Reihe von Texten zur Stadttheaterdebatte. Zwei jüngere Beiträge stammen von der ehemaligen Dramaturgin des Bochumer Schauspiels Sabine Reich und dem ZEIT-Redakteur Peter Kümmel. Beide ziehen in ihren sehr unterschiedlichen Essays ein ähnliches Fazit: Das deutsche Theater krankt an seiner Utopielosigkeit.

Welche Zombies meint er?

Kümmel konstatiert ein Theater, das gerade in den klassischen Dramen nur noch Zombiefiguren entdecken kann und dem deshalb vieles fehlt: ein Verhältnis zur Vergangenheit, ein klarer Blick auf die Gegenwart und die Fähigkeit, über ein "zukünftiges Leben" nachzudenken. Wo Kümmel die vermeintliche Ohnmacht des Theaters, einen Bezug zur Welt herzustellen symptomatisch in seinem Unwillen verortet, vergangene Figuren und Texte "im Spiel ... zurückzuholen", sieht Reich ein zentrales Problem in der angeblichen Obsession deutscher Theatermacher, diesen Versuch der Wiederbelebung unablässig zu unternehmen. Ganz im Gegensatz zu Kümmel ist Reich überzeugt, dass unsere Theater "die Ordnung der alten Eliten in sich tragen" – dass sie zu sehr, nicht zu wenig, vom Geist der literarischen Dramentradition beseelt sind, und eben deshalb keinen Bezug zum Heute mehr finden: Sie versuchen, eine Welt zu "belehren ..., die uns schon lange vergessen hat." Das ist der Punkt an dem sich beide Autoren, trotz ihrer gegenläufigen Anamnesen, in der Diagnose einig sind: Das Theater hat der Welt keine Lösungen, keine Visionen, keine Utopien mehr anzubieten.

Zeit Titel1Peter Kümmels "Zombie"-Aufmacher im Zeit-Feuilleton © Screenshot

Aus meiner kanadischen Perspektive erscheinen mir beider Analysen reichlich verzerrt, wenn nicht gar grundfalsch: Da wird ein Theater vereinheitlicht und totgeredet, dem es aus meiner Sicht weder an unterschiedlichen Theaterformen und -sprachen, noch an Vitalität zu mangeln scheint. So verweist Kümmel auf die Bühnenzombies in den Inszenierungen von Frank Castorf, Sebastian Hartmann, Armin Petras, Martin Kušej, Michael Thalheimer – und ich frage mich erstens, welche Zombies er da überhaupt meint; zweitens, ob man diese Regisseure wirklich so einfach über einen Kamm scheren kann; und drittens, weshalb diese fünf Männer, allesamt lange etabliert, für das gesamte deutsche Gegenwartstheater einstehen sollten.

Hängt ausgerechnet das Theater in Deutschland mehr an Texten als andere?

Kümmel gefällt das Bild von der Zombiekunst so sehr, von einem Theater, das immer nur und immer wieder die "Leblosigkeit des Menschen" demonstrieren will, dass er völlig den Blick darauf verloren zu haben scheint, was diese Regisseure und ihre Spieler eigentlich tun: Man kann Castorf zwar vieles vorwerfen, aber Leblosigkeit wohl nicht. Wer denkt denn bitte in so hochtheatralischen Momenten wie dem herrlichen Ende von Reise ans Ende der Nacht an Zombies? Verschmelzen in einer solchen Szene Figur und Spieler etwa nicht, so wie das Kümmel fordert? Nur das bei diesem Verschmelzen Bibiana Beglau eben sichtbar bleibt, und nicht einfach hinter der Rolle verschwindet. Mein naives Auge zumindest sieht da nicht eine Selbstdarstellerin, sondern eine Spielerin, die einer Figur ihren Körper leiht, ohne ihn gänzlich aufzugeben.

Die letzten Minuten von Frank Castorfs "Reise ans Ende der Nacht"-Inszenierung
© Residenztheater München / Youtube

Gerade, dass Kümmel seine Analyse nicht an bestimmten Inszenierungen festmacht, wird zum Problem. Das Einheitstheater, das er beschwört, gibt es nicht. Ähnlich vage bleibt Sabine Reichs Kritik – und schlägt einen ähnlich allumfassenden Ton an. "Theater in Deutschland", meint sie, "sind mehr als in jeder anderen Kultur gebunden an Texte und ihre Deutung." Ein erstaunlicher Satz: also nicht etwa England, wo die Schauspiellehrerin Patsy Rodenberg für den Mainstream spricht, wenn sie verkündet, der Spieler müsse sich als Gefäß und Sprachrohr für den Text auffassen. Nicht die USA, wo Autoren Theatern den Vertrag kündigen, wenn eine Szene gestrichen wird. Nicht Kanada, wo Schauspieler sich selten die Freiheit nehmen, auch nur Bewegungen auszuführen, die im Text nicht vorgegeben sind. Nicht Frankreich mit seiner lebendigen Tradition des formell perfekten Sprechens im klassischen Schauspiel. Nicht Russland, wo die korrekte Inszenierung dramatischer Klassiker mit zunehmend rabiater Zensur sichergestellt wird. Sondern Deutschland ist die Theaterkultur, die mehr an Texten hängt als jede andere?

Mehr German Angst!

Wenn Reich zudem schreibt, das deutsche Theater habe sich rettungslos der Narration verschrieben und vernachlässige "Bilder, Körper, Sounds und Musik", könnte man glatt vergessen, dass "Storytelling" das bei weitem gebräuchlichste Schlagwort englischsprachiger, nicht deutscher Theatermacher ist. In Wirklichkeit ist das Theater, das Reich fordert, in Deutschland doch bereits alltägliche Bühnenkunst – und durchaus nicht nur in den Metropolen. Selbst bei einem mittlerweile so international massenkompatiblen Regisseur wie Thomas Ostermeier geht es ja nicht primär um das Erzählen, und selbst an seiner Schaubühne sind eindrucksvolle Bilder und Musik von zentraler Bedeutung. Ich kann mich tatsächlich an kaum eine deutschsprachige Inszenierung der letzten Jahre entsinnen, bei der Körper, Sounds, und Bilder nicht ein Hauptaugenmerk von Regie und Spiel waren, und zwar ganz unabhängig vom Regiestil und der Örtlichkeit: Elmar Goerdens Wildente in Mannheim beispielsweise, oder Jette Steckels Romeo und Julia am Thalia Theater, oder Alvis Hermanis' Wassa im Werkraum der Münchner Kammerspiele – alles extrem unterschiedliche Abende, alle zutiefst dem holistischen Ansatz verpflichtet, den Sabine Reich vermisst.

Interessanterweise sehen beide Kritiker die Angst als Kernursache des vorgeblichen Problems: Regisseure, die fürchten, sich durch eine altmodische Formensprache zu blamieren (bei Kümmel); Theaterschaffende, die das Scheitern und seine möglichen budgetären Konsequenzen ängstigen (bei Reich). Ich will nicht anzweifeln, dass es diese Ängste gibt, muss aber auch sagen, dass ich mir wünschte, mehr englischsprachige Regisseure fürchteten das Konventionelle; und dass ich mir nicht sicher bin, ob irgendein Publikum der Welt bereit wäre, ein Theater zu tolerieren, das Künstlern noch mehr Freiheit zu scheitern ließe als das deutsche.

Was wäre die Alternative?

Meine Kritik an Kümmels und Reichs Zustandsbeschreibungen heißt nicht, dass ich die gesamte Stadttheaterdebatte für Unfug hielte. Zwar möchte ich dem deutschen Theater und seinen Kritikern zurufen, wie unglaublich spannend und intensiv sich die deutsche Bühnenarbeit vom Ausland her anfühlt, und wie viele Impulse zur Erneuerung der Form zur Zeit von Deutschland ausgehen, vor allem in England. Andererseits ist die Unzufriedenheit, die grundsätzliche Hinterfragung von allem, natürlich eine der wichtigsten und sogar traditionellen Antriebskräfte der deutschen Theaterkunst. "Das reicht doch nicht, da fehlt doch was" könnte ja durchaus als Motto über jedem besseren Theaterportal stehen.

Da ist es doch, das Theater voller Körper, Sounds, und Bilder! – "Romeo und Julia" in der Regie von Jette Steckel in Hamburg © Thalia Theater / Youtube

Trotzdem fällt es mir schwer, diese beiden Essays als produktive Unzulänglichkeitsdiagnosen zu verstehen. Teils, weil das "das", welches sie beschreiben, so wenig mit dem deutschen Theater, das ich kenne, gemein hat; teils, weil das "was", auf das sie hinauswollen, gar so unklar bleibt. Dass zum Beispiel Sabine Reich der Stadttheaterbetrieb missfällt, ist klar – was aber wäre denn die Alternative? Sie scheint zu glauben, dass Theater anderswo viel freier, viel radikaler, viel offener, und viel weniger sprachversessen sein müsse als in Deutschland. Sie wird schon Recht haben: Irgendwo in der Welt ist das sicher so. In Diktaturen, zum Beispiel. An Orten, wo Theater tatsächlich eine Art von Öffentlichkeit schafft, die ansonsten politisch nicht gegeben ist; an Orten, wo Theater, meist an Straßenecken oder in Kellern, Ideen zum Ausdruck bringen kann, die anderswo totgeschwiegen werden; an Orten, wo "Theaterschaffender" kein Berufsbild, sondern eine politische Rolle ist. Dem deutschen Theater eine solche Funktion zu wünschen, fällt mir allerdings schwer.

Wo die Unzufriedenheit darauf zielt, das Theater als solches völlig neu zu definieren, nicht primär als Ort des Spielens, sondern als politisches Forum, da läuft sie Gefahr, mehr zu zerstören als zu erneuern. Es stimmt schlicht nicht, dass in einer demokratischen Gesellschaft nur Theater Öffentlichkeit schaffen können. Und so werden sich die Bühnen wohl damit abfinden müssen, Kunst zu schaffen: Kunst, die sich ihres gesellschaftlichen Kontextes bewusst ist; Kunst, die politisch Stellung bezieht; die sich selbst hinterfragt – sicher. Aber auch Kunst, die Ansprüche stellen darf an ihr Publikum; Kunst, die einen lebendigen Bezug herstellt zu spezifischen Traditionen und geschichtlichen Vorläufern; und Kunst, die von ihren Kritikern erwarten darf, in ihren konkreten Setzungen und Mitteln wahr- und ernstgenommen zu werden. Nicht, dass die deutsche Theaterlandschaft einem solchen Ideal ganz entspräche. Aber ich zumindest kenne in der westlichen Welt kein anderes Theater, das ihm so nahe kommt wie das deutsche.

 

syme1Holger Syme lehrt Theaterwissenschaft und Anglistik an der University of Toronto. Veröffentlichungen u.a. "Theatre and Testimony in Shakespeare's England" (Cambridge 2011), "Locating the Queen's Men", 1583-1603 (Mitherausgeber, Ashgate 2009) und die theatergeschichtliche Einleitung zur neuen Norton Shakespeare Gesamtausgabe (hrsg. von Stephen Greenblatt). Syme arbeitet an einem Forschungsprojekt über die Klassikerinszenierung im deutsch- und englischsprachigen Theater und bloggt regelmäßig auf dispositio.net.

 

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