Presseschau vom 10. Oktober 2015 – Eine Kritik der deutschen Theaterkritik auf SWR2

Tummelplatz für Insider?

Tummelplatz für Insider?

10. Oktober 2015. Der Radiosender SWR2 strahlte am 9. Oktober 2015 eine Sendung aus mit dem Titel "Hart und sehr selbstbewußt!". Eine Kritik der deutschen Theaterkritik. Unter der Gesprächsleitung von Reinhard Hübsch diskutierten Kathrin Röggla, Schriftstellerin und Vize-Präsidentin der Akademie der Künste Berlin; Gerhard Jörder, langjähriger Juror des Berliner Theatertreffens, ehemaliger Feuilletonchef der Badischen Zeitung in Freiburg und Autor der Wochenzeitung Die Zeit, Berlin; sowie Dr. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele.

Selbstredend drehte sich das Gespräch, da es um Theaterkritik ging, wesentlich auch um nachtkritik.de. Im Folgenden geben wir den Anfang der Diskussion in zum Teil zusammenfassender Transkription wieder. Natürlich ist die direkte Transkription, die hier vorliegt, kein grammatikalisches Leuchtstück. Wir bitten dies in Kauf zu nehmen, weil uns der Originalton wertvoll schien.

Unangemessene Kritik

Reinhard Hübsch: "... In der Theaterkritik brodelt es vernehmlich. Im vergangenen Jahr wagte sich der Schauspieler Ulrich Matthes aus der Deckung, als er Berliner Theaterrezensenten attestierte, sie seien 'hart, sehr selbstbewusst und ein bisschen zu kulturpolitisch'.  Und wer sich hinter den deutschsprachigen Bühnenkulissen weiter umhört, vernimmt ein deutliches Unbehagen auch bei Regisseuren und Intendanten wie Ulrich Khuon und Thomas Ostermeier, Letzterer etwa sieht 'stillschweigende Übereinkünfte in der deutschen Feuilleton-Kritik'. Selbst Kritiker gehen mit der eigenen Zunft hart ins Gericht. Gerhard Jörder, lange Jahre Jury-Mitglied des Berliner Theatertreffens, bescheinigte seinen Kolleginnen und Kollegen jüngst, vielfach 'undifferenziert auf das aktuelle Schauspielgeschehen zu reagieren'. Gerhard Jörder, können Sie zum Start unserer Debatte kurz skizzieren, was Sie Ihren Kollegen und Kolleginnen Rezensenten vorwerfen?"   

Gerhard Jörder: "Da müsste ich vorweg sagen, dass ich auf jeden Fall kein Kollegen-Bashing machen will und keine Nest-Beschmutzung, wie mir das auch schon einmal vorgeworfen worden ist. Ich bin aber wirklich der Meinung, dass Kritik auch Selbstkritik erfordert. Das Theater hat, das müsste man aber vorausschicken und darüber sind wir uns wohl sehr einig, in den letzten Jahrzehnten einen enormen Bedeutungs-, Ansehens-, Reputations- und Legitimationsverlust erlitten – und wie hat das Theater darauf reagiert? Um es mal ganz allgemein zu sagen: erstaunlicherweise nicht mit Konzentration, mit Nachdenklichkeit, sondern mit Hektik, mit Speed. Und in diese Hektik, in diese enorme Geschwindigkeit hinein, die manchmal auch reiner Leerlauf ist, nach meiner Ansicht, stellt sich die Frage: Wie reagiert jetzt die Theaterkritik darauf?"

Hübsch: "Angemessen? Nicht angemessen?" 

Jörder: "Ich meine: nicht angemessen. Das heißt: nicht kontrazyklisch, sondern eigentlich im gleichen Tempo. Sie macht auch Speed, sie macht auch Tempo und sie reagiert eigentlich heftig, schnell und eben mit einigen Dingen, die ich jetzt mal als permanentes Ausrufen von Hype, Sensation, Spektakel bezeichnen würde. Also: Sie hechelt hinterher, statt Konzentration zu schaffen, nachdenklich zu werden."   

Neue Form der Kritik

Hübsch: "Wenn Sie, Herr Dr. Oberender, die letzten 15 Jahre überblicken, hat sich aus Ihrer Sicht die Theaterkritik verändert in dieser Zeit?"

Thomas Oberender: "Ja. Es ist eine neue Form von Kritik entstanden. Man muss dazu sagen, dass sich auch die Theater selber sehr stark in ihrer Arbeitsweise verändert haben. Zur Arbeitsgeschichte der Leiterin des Theatertreffens Yvonne Büdenhölzer gehört auch die sehr erfolgreiche Entwicklung eines Theatertreffen-Blogs. Manchmal wird dem vorgeworfen, es ist die Kritik, die institutionell von den Produzenten eingebaut, in die eigene Veranstaltungskreation mitläuft, also ein Forum, in dem wir unsere eigenen Hervorbringungen quasi kritisch reflektieren und kommentieren lassen  das deutet an, in welche Richtung es geht. Ich glaube, Theaterkritik im alten Sinne, dass einer zu vielen spricht und eine hegemoniale Position der besonderen Einsichtstiefe und Beschreibungshoheit hat, das ist in der Entwicklung der Massenmedien, wie wir sie heute verstehen, obsolet geworden. Kritik ist tatsächlich auch ein Medienphänomen, das durch die Massen betrieben wird, das heißt: Es gibt eine Dezentralisierung der Positionen, es gibt ein Feedback-Verhältnis, das andere Autoritäts-Situationen herstellt."

Hübsch: "Sie haben eben gesprochen von dezentralisiert, dereguliert. Man könnte auch positiv formulieren: demokratisiert, oder negativ: banalisiert?"

Oberender: "Also das Banalisieren würde ich einmal schlicht zurückweisen. Die Debatte wird breiter  geführt, vielleicht anonymer, vielleicht mit unbekannteren Teilnehmern, aber in einer Lebendigkeit, wie man sie sich nur wünschen kann."

Euphorie vorüber, Partizipation versendet sich

Jörder: "Die große Euphorie gegenüber dem Netz, der neuen Partizipation, auch gegenüber der Amateurkritik, der Laienkritik, die dort stattfindet, ist ein bisschen weg. Man hat doch begriffen, dass sich das in der zerstreuten Öffentlichkeit des Netzes auch unglaublich versendet. Man hat nicht den Eindruck, dass diese Blogs irgendeinen Einfluss ausüben, dass sie Multiplikatoren sind für irgendetwas."

Kathrin Röggla: "Das Problem ist, dass ich keine Expertin mehr bin für Theaterkritik und das ist auch schon symptomatisch... Ich brauche Kritik nicht mehr für mein Schreiben. Die Dinge versenden sich, das ist genau der richtige Satz zur Situation."

Reinhard Hübsch: "Ist das nicht die Nichtigkeitserklärung der deutschen Theaterkritik?"

Röggla: "Es hängt auch mit der Situation der Theater selbst zusammen. Ich würde mich selbst schwer tun, einen Satz zur Situation der Dramatik von mir zu geben, wo ich irgendeinen Überblick darbiete, weil sehr viel produziert, sehr viel uraufgeführt wird, das ich gar nicht in die Hände bekomme."

Theoriegläubigkeit in Berlin

Jörder: "Die Kritik hat den einen Ort nicht mehr, von dem man weiß: Hier findet etwas statt. Die Dezentralisierung, die ja im Prinzip etwas sehr Demokratisches hatte, hat viele Orte geschaffen. Die Regionalzeitungen haben überhaupt keinen Überblick mehr, die machen praktisch nur noch Kirchturm und Heuhaufen, die überregionalen Zeitungen haben die Theaterberichterstattung ganz stark schrumpfen lassen. Der Theaterkritiker ist in diesen Blättern längst nicht mehr das, was er einmal war: meistens die Nummer eins, der Feuilleton-Chef. In der Sparten-Konkurrenz der Blätter hat das Theater ganz schwer verloren. Und jetzt kommt das Netz: Wir haben in Deutschland mit nachtkritik.de ein Portal, das, kann man sagen, eine Erfolgsgeschichte ist. nachtkritik de ist ein Portal, das gut arbeitet und viele Verdienste hat, dennoch muss ich sagen, die Diskursecke nachtkritik.de und diese bestimmte Theoriegläubigkeit, die sich dort akkumuliert hat, eine Art neuer Schwarm-Intelligenz, halte ich für ziemlich problematisch. Berlin wird dort noch partizipatorisch wahrgenommen vom Publikum, aber gehen Sie mal in Münchner Aufführungen, in Wiener Aufführungen, da nimmt niemand teil, diese Art von Theorie- und Diskursgläubigkeit, wie sie bei nachtkritik.de vorhanden ist, wird von anderen Landschaften, in denen ganz anderes Theater gemacht wird, überhaupt nicht so geteilt. Berlin ist da eine ganz eigene Theoriehochburg."

Röggla: "Aber nachtkritik bringt ja ganz viele regionale ... für mich ist das ein Portal, auf das ich gehe, wenn ich mich über Osnabrück informieren möchte ..."

Jörder: "Haben Sie mal gesehen, wieviel Post [gemeint sind Kommentare auf nachtkritik.de] von da kommt?"

Gedächtnis ins Netz gewandert

Oberender: "nachtkritik.de ist das Einzige, das uns zur Verfügung steht. Das muss man nämlich auch sagen, wenn Sie sagen 'es versendet sich'. Das Interessante am Netz ist ja, dass dort nichts vergessen wird. Und diese Funktion, die früher regionale Theaterkritik in kleinen Blättern, aber auch die großen Blätter, die mal aus den Regionen berichtet haben – das ist ja fast völlig verschwunden –, hat jetzt die Online-Kritik übernommen. Unser Gedächtnis ist längst von den Zeitungen ins Netz gewandert. Nicht nur in Portale wie nachtkritik.de, sondern auch in die Häuser selbst. Fast jedes große Haus hat heute sein eigenes Archiv, das online zugänglich ist, sein Blog, das das öffentliche Tagebuch der eigenen Denkprozesse und Veranstaltungsgeschichte ist."

Hübsch: "Warum? Hat das Theater an Stellenwert verloren?"

Jörder: "Das Theater hat an Stellenwert verloren, da bin ich vollkommen überzeugt. Das Theater war vor 20, 30 Jahren im Zentrum der städtischen Kulturgesellschaft, das ist heute nicht mehr der Fall. Die Theaterleute selber merken das nicht. Ich habe mehrere hundert Publikumsdiskussionen gemacht, ich bin ja nicht der klassische Kritiker, und habe schon dabei oft gemerkt, wie weit der Abstand ist, zwischen dem, was Kritiker umtreibt, und dem, was ein Publikum wissen, erfahren und erleben will. Das ist das eine.
Aber ich muss unbedingt noch einmal etwas zum Thema Internet sagen: Sie haben ja vollkommen recht, da ist ein Archiv entstanden, großartig, und das ist zum Beispiel auch bei nachtkritik.de wirklich sehr gut. Ich wollte nur auf bestimmte Diskurs-Gewohnheiten und bestimmte Diskurs-Gläubigkeiten der Kritik aufmerksam machen. Da kann ich nur sagen, da sind größte Teile eines Publikums, aber auch übrigens der jungen Leute, die tendenziell an Theater interessiert wären und da mal reingucken – an diesen Diskursen sind sie überhaupt nicht interessiert."

Insiderei

Oberender: "Sie entwickeln so ein abschreckendes Bild von dem Diskursgeschehen, sagen wir mal auf nachtkritik.de. Ich würde sagen, es gab in der Geschichte noch nie ein so hohes Involviert-Sein der Theaterliebhaber in der Auseinandersetzung über Theater, das Mitreden, das Liken, das Retweeten, das Weiterleiten, das Vernetzen, das hat doch einen so hohen, emotional vorwärts getrieben Kommunikationsprozess erzeugt wie noch nie in der öffentlichen Auseinandersetzung über Theater ..."

Jörder: "Ja, von Insidern!"

Oberender: "Nein, nicht nur von Insidern, das sind eigentlich alles gerade nicht die Insider, es sind die Theaterbesucher, es sind die Liebhaber, aber es sind auch die ..."

Jörder: "... es sind fast alles Theaterleute aus der zweiten oder dritten Reihe, die da posten, ich sag Ihnen, das ist The-ater-in-sid-erei!"

Oberender: "Das glaube ich auf keinen Fall."

Andere Interessen beim Publikum

Jörder: "Nein? Da will ich einen Theatermann wie Wilfried Schulz zitieren ..."

Oberender: "Ist sein Bürgertheater auch Insiderei?"

Jörder: "... der hat gerade kürzlich im Jahrbuch von Theater Heute gesagt: 90 Prozent dessen, was da in den Diskursen – übrigens auch beim Theatertreffen und natürlich auch in den Zeitungen – in den Feuilletons stattfindet, habe mit der Realität unserer Theater vor Ort nichts mehr zu tun. Das sind andere Wirklichkeiten, andere Wirksamkeiten, andere Publikumsinteressen. Da gibt es einen Dissens. Er sagt, das war vor 20 Jahren auch so, dass Kritikermeinung nicht identisch war mit dem, was so ein Publikum, einen Zuschauer umtreibt, aber er sagt, es fällt STARK auseinander."

Hübsch: "Haben Sie das Gefühl, dass die Printmedien da dichter dran sind als die Internetmedien?"

Jörder: "Ich glaube schon. Ich glaube, dass durch die Regionalität der Printmedien – ich komme ja von einer Regionalzeitung, ich hab 25 Jahre in der sogenannten Provinz, in Freiburg gearbeitet – eine große Bindung entsteht zwischen Schreibern, zwischen Diskussion, Leserbriefen und Publikum. Da gibt's ein Hin und Her, eine Fluktuation und einen Austausch, der im überregionalen Bereich so nicht stattfindet."

Fehlende Tiefe

Röggla: "Das finde ich alles gar nicht so interessant. Das Problem scheint mir mehr zu sein, dass der Diskurs über das Theater nur noch selten lange Argumentationsketten kennt und in die Tiefe geht, das ist immer mehr so eine Art Dabeisein. Es gibt kein Nachdenken über unsere Gesellschaft, kein Abgleichen des Theaters mit dem ..., das findet viel zu wenig statt, deshalb interessiert es mich auch nicht."

Jörder: "Genau. Es handelt sich um eine Debattenkultur, die eigentlich der Selbstbeschäftigung von Kritikern und Intellektuellenkreisen dient. Und ich sage Ihnen auch, dass die Kritik natürlich in dem Spiel der drei Kugeln – Publikum, Theater, Kritik – seit vielen, vielen Jahren ganz stark und ausschließlich auf die Theater selber gerichtet ist. Das Gespräch zwischen diesen beiden Gruppen ist viel stärker ausgebildet – das Publikum wird außen vor gelassen."

Oberender: "Ich glaube, das Publikum hat noch nie so viel mitgeredet oder mitreden können wie im Moment."

Es geht dann noch über 20 Minuten weiter um literarische Kritik, die es nicht mehr gibt, um die Rudelbildung der Berliner Kritiker, die es etwa seit der Gefolgschaftsbildung um das Theater von Frank Castorf gebe, es geht um die Repolitisierung des Theaters, um die Diskursivierung des Theaters bei Jelineks / Stemanns "Die Schutzbefohlenen", über das Insidertheater beim diesjährigen Theatertreffen, über den neuen Typus des in allen Bereichen versierten Kulturkritikers, über die größeren essayistischen Versuche, große Linien in der Ästhetik zu besichtigen, über die fehlenden Schauspielerbeschreibungen, über das neue Lettre-Heft nur zum Theater (über das auf nachtkritik.de demnächst gehandelt werden wird) und über die neue Beurteilungs-Impotenz. Unter anderem.

(SWR2 / jnm)

 

Das gesamte Gespräch auf SWR2 können Sie hier nachhören.

Mehr zu der Diskussion über Kritik und nachtkritik.de im Lexikonbeitrag Theaterkritik.

 

Kommentare  
Presseschau SWR Theaterkritik: Insiderles aus Berlin
Lustig und bezeichnend: Der Südwestrundfunk (SWR), mit Sitz in Baden-Baden und Stuttgart sendet eine Theaterkritikkritik mit lauter Leuten aus Berlin, die Insiderles spielen. Und den Diskurs-Diskurs pflegen. Und nachtkritkde loben oder nicht, ich mag das Portal. Lustig auch: Wo hätte es je einen öffentlich relevanten Diskurs Theater-Kritik-Zuschauer gegeben. Normalsterbliche würden doch in diesem Elfenbeinturm gar nicht geduldet. Das ist schließlich Hochkultur! (#augenroll) Die Plebs, das Publikum, sehr der Niedrig-Kultur verdächtig kommt in der oft hochnäsigen Kritik doch nur vor als Masse (gut/nicht gut besucht) oder im Abklatschwahn (stark, wohlwollend, buh, buh). Doch, die Theater (manche) machen viel, um ihr Publikum zu erreichen, mit ihm zu sprechen. Aber die Kritik? Wo? Ah, bestimmt in Berlin :))
Debatte Theaterkritik: Theater in der inneren Emigration
Jaja, zu den Diskursen hat niemand genauer etwas gesagt als Dirk von Petersdorff in einem Gedicht etwa vom Beginn der 90er Jahre. (Am Grunde der Diskurse schwimmt ein Fisch… usw. ein Fisch der nichts zu fassen ist, Entschuldigung, DvP, wenn das aus dem Hut nicht korrekt wiedergegeben ist…) Des vorigen Jahrhunderts.
Ich fühle mich ehrlich gesagt durch die auch nur in Teilen hier auf nk (vielen Dank, liebe fleißige, Kritikkritik-betriebene Redaktion!!) wiedergegebene Podiumsdiskussion als ziemlich sehr fleißiger nk-Leser und Kommentator, unter sehr vielen verschiedenen Namen firmierend, unbekannterweise etwas angegriffen und möchte deshalb darauf reagieren. Man möge es verzeihen, dass ich diesen Weg wähle, ich selbst hätte nichts dagegen gehabt, mit Ihnen selbst da zu diskutieren, Frau Röggla, Herr Jörder, Herr Oberender –
Frau Röggla, ich verstehe Sie nicht: WARUM sehen Sie sich gehindert als Expertin für Dramatik, etwas zur Geltung und Gültigkeit von Dramatik zu sagen, nur weil Sie nicht alle als Dramatik behaupteten Texte, derer sich das Theater schätzenswerter Weise annimmt, vorgelegt bekommen?? Sie werden doch zumindest für Ihre eigene Arbeit genau wissen undoder definieren können, was ihre dramaturgische, also poetische Absicht gegenüber dem Theater damit war?.
Herr Oberender, ich glaube nicht, ganz ehrlich, dass eine Kritik, die Sie gern als veraltet beschreiben möchten, nämlich die Form, dass EINER spricht und andere hören – möglichst gern! – zu, jemals obsolet werden kann. Sie kann sich verstecken, weil sie als obsolet herbeigeredet wird, was ja unangenehm istfür einen Kritiker als Person - das werden Sie besser verstehen vielleicht, wenn Sie einmal als Person als obsolet geworden abgetan und „versendet“ werden, aber sie wird nicht verschwinden. Niemals. Es wird gar keine andere Autoritätssituation hergestellt durch diese mediale Zerstreuung, die Herr Jörder eingangs, wie ich finde, ganz wunderbar beschrieben hat! Sondern es wird bei diesen Vorgängen eine Autoritätssituation mit großem zeitlichen Aufwand und unter hektischem Gebrauch von technischen Hilfsmitteln, theatral ignoriert. …
Das Theater geht offenbar woanders hin heute. In so eine Art innere Emigration. ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie das einmal so öffentlich benennen, dass die öffentlichen Archive des Theaters nicht mehr in den Medien via der Feuilletons beheimatet sind. Sondern Theater in der Mehrzahl bereits ihre eigenen öffentlich einlesbaren Archive haben. Als Tagebücher, in denen ihre eigenen Deutungsprozesse und Auseinandersetzungen mit sich und der Welt jederzeit einsehbar und öffentlich kommentierbar sind. Da hab ich gedacht - und das war für mich wirklich sehr erhellend!, weil es gestattet, Dinge knapp zu formulieren, an denen ich schon lange und zu meinem eigenen Ärger sooo lange schon, laboriere: Aha, DA ist das Theater hingegangen! Das Theatrale am Theater liegt heute in seinem Angebot, seine Denkprozesse und das theatrale Gestalten n i c h t über die Bühne, über Schauspiel mit all seinen wunderbar gewachsenen Möglichkeiten, sichtbar und fühlbar zu machen. Sondern in diesem scheindemokratischen Publikumsbetrug, dass das Publikum an den Prozessen beteiligt sein könnte, wenn es also die Theater-„Tagebücher“ mitliest und kommentiert. Nun sind Tagebücher dazu da, dass man in ihnen Dinge notiert, die fragil sind, nicht sofort geklärt werden können, Merkzettel für Problematisches, das als Problem bemerkt, aber noch nicht geklärt werden kann. Aus verschiedenen Gründen.

Fortsetzung folgt
Debatte Theaterkritik: Insider-Zugriffe
Öffentlich gemachte Tagebücher sind jedoch keine Tagebücher im Sinne des Genres und waren bei so bereitwilliger Öffentlichkeitsmachung nie als solche gedacht, sondern das sind dann eigentlich Protokolle. In dem Fall Theaterarbeits-Protokolle. Ohne die es offenbar nicht mehr geht, weil sie als Arbeitsnachweis diese Kunst des Theatermachens hier legitimieren sollen. Kunst sollte sich nicht legitimieren müssen. Und wenn sie das also muss, in der Gesellschaft, in der sie existieren will, dann muss sie sich selbstkritisch befragen, ob und was genau an ihr nun Kunst ist Das vermisse ich. Von Seiten des Theaters. Oder: Nein, eigentlich vermisse ich es nicht. Denn ich bemerke, dass sie das tut. Aber auf sehr eigensinnige Art und Weise, die diesem obsolet geworden-Zwang der Gegenwart irgendwie hörig ist, aber ihn andererseits auch austrickst. Wie das also für Kritik und Autorität das Normale ist. Weil sie sich IMMER durchsetzen wird. Auch in den kompliziert gewordenen medialen Strukturen, wie wir sie heute vorfinden und mit denen wir wachsen und mit denen wir uns emanzipatorisch bewegen.
In den Fragen der „Insiderei“- glaube ich, haben Sie einfach beide recht, verehrter Gerhard Jörder und Herr Oberender: Es sind sehr wohl Insider, die das breitgefächerte, zerstreuende „Versenden“ übernehmen. Es sind aber nicht die per se Theater-Insider, sondern unter den Theater-Insidern wie auch dem Zufalls-Publikum die Digitaltechnik-Insider, die als Schnittmenge aus diesen beiden konkreten gegenwärtigen Interessenbereichen möglicherweise momentan die MACHT der Gewohnheit ihrer medial-technischen Beherrschung genießen. Und zwar mehr diese Verbreitungs-Macht genießen, als die Inhalte und dadurch natürlich auch die Formen des zeitgenössischen Theaters. Das heißt nicht, dass sie diese etwa NICHT kritisch wahrnehmen würden. Sondern lediglich, dass das bei der Ausübung ihrer Zerstreuungs-Macht im Moment sekundär ist und Theaterwahrnehmung und deren Beschreibung gerade am Ort ihrer bestmöglichen Verbreitung derselben ihr Primat eingebüßt hat. Und das wird sich natürlich ändern, je mehr Menschen diese Mechanismen der medialen Digitalzerstreuung beherrschen… Das Theater gerät unter diesem Insider-Zugriff zum Smartphone-Witz, den man sich genauso herumreicht und – auch gern öffentlich - einander vorzeigt, wie alle anderen Witzbildchen, Witzsprüche, Romantik- oder Horrorfotos, die eine analoge (Sprach)Kommunikation zum Zweck des emotionsbasierten zwischenmenschlichen Austausches ersetzen sollen. Für den man keine Zeit mehr hat oder sich nehmen möchte. Die einem vom Kapital abgekauft wurde, ohne dass man es bemerkt oder bereit ist, es als zeitgenössische Wahrheit in sein Bewusstsein aufzunehmen. Das ist ja eine aktuelle Grund-Angst, diese Wahrheit sehen zu müssen.
Und, lieber Gerhard Jörder – Ihr Optimismus die regionalen, kleineren Theaterereignisse und medialen Austausch mit Lesern/Zuschauern betreffend: mit Verlaub, es ist heute KEIN Argument, dass z.B. online auf nk so wenige Leute aus Osnabrück oder von mir aus Rudolstadt sich melden würden – denn bei denen, die sich da melden, können Sie ebenso wenig sicher sein, dass die sich wirklich von da melden, wie Zeitungsleser oder Leser von Online-Kommentaren (heute) sicher sein können, ob die nicht ebenfalls redaktionell hervorgebracht sind – als inszeniertes Leser/Publikums-Theater z.B. Und eigentlich wissen Sie das doch, Sie unterrichten doch junge angehende Journalisten und wissen, was die auch sonst verbreitungshandwerklich lernen von Ihren Kollegen und Kolleginnen!
Radiodebatte Theaterkritik: Rückführung nach 1958
Oh, die Angst vor den Intelletktuellen geht um (oder manchmal auch: der Hass auf Intellektuelle). Und das im Theater, ausgerechnet. Das kommt mir vor wie Angst vor Ausländern im ländlichen Mecklenburg Vorpommern (oder manchmal auch: wie Hass auf Ausländer in MP). Die von Jörder so geschätzten Printmedien sind da Intelligenz gegenüber tatsächlich feindlicher aufgestellt. In der Zeit fürchtet der Theaterchef das Zombietheater (womit er irgendwie jedes Theater meint, das ein bisschen Theorie nach 1972 mitbekommen hat), gegen Zombiekritiker hatte er auch schon mal gewettert, Zombies sind überhaupt ein ihm liebes Wort, wobei man nie sicher ist, ob er den Zombie ev. auch als Angstbild seiner selbst erkennt, was ja nicht so schwer wäre, wenn man noch etwas Theorie lesen würde oder es je getan hätte, wenn das nur nicht so zombiehaft wäre, so eine Lektüre. Und am Wochenende, an dem das Theater in München eine Art Experiment beginnt, trauert die SZ auf sehr viel Platz nur scheinbar anlassfrei dem Roten Vorhang hinterher, während der Berlinkorrespondent seit ein paar Wochen die Werktreue entdeckt und Regisseure für ihren Beruf verachtet. Die Kritik in den großen Blättern inszeniert gerade ihre Rückführung nach etwa 1958. Das können die machen, weil sie im eigenen Blatt keine Konkurrenz haben. Oder schreibt da noch wer Ernsthaftes unter 50, habe ich wen übersehen? Stellt noch irgendjemand Theaterspezialisten ein? Das Ende ist absehbar, spätestens in 15 Jahren ist es soweit, der Vorfall fällt bereits, entschuldigen Sie das Bild. Bei der FAZ ging der Lappen ja schon runter, Stadelmaier kriegt keinen Nachfolger. Oder bewerben sich gerade alle Genannten auf seine Nachfolge, war das ganze Retrospiel (Vorhang/Zombies/Werktreue/Intellektuelle in Berlin) wirklich nur eine Runde "Wer wir Stadelmaier"?
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