Eine Runde durch die Familien-Geisterbahn

von Reinhard Kriechbaum

Linz, 10. Oktober 2015. In Rom tagen gerade die katholischen Bischöfe zum Thema Familie. Angeblich sind ja in dieser kleinsten gesellschaftlichen Einheit alle Positiva des Humanum zu fokussieren. Wie arm wäre das Theater, wenn dem auch nur annähernd so wäre! Regisseur Armin Holz lässt uns aber ganz beruhigt zurück: Der Tanz der Gespenster, die aus verqueren Beziehungen herauswachsen, geht so rasch nicht zu Ende. Zwischendurch darf man schon den Atem anhalten in dieser Familien-Geisterbahn. Gespenster, wohin man schaut, bei Henrik Ibsen, bei Virginia Woolf und bei Komponist Paul Abraham und seinen Textdichtern der Zwischenkriegszeit.

Verdrängtes

Ibsen, das ist der expressionistische Teil im Trio infernal an Familienaufstellungen, die Armin Holz in den Kammerspielen des Linzer Landestheaters nebeneinander gestellt, aber dezidiert nicht miteinander verwoben hat. Unkontrolliertes Kichern, bizarre Verrenkungen – alle Anzeichen von Hysterie nach Freud'scher Analytik verpasst der Regisseur der Personnage von Ibsens "Gespenstern". Die Jahre des Schweigens haben Seelenverwüstungen hinterlassen, nicht nur bei Helene Alving (Anne Bennent), die sich ob der Dauer-Untreue ihres Mannes seinerzeit Pastor Manders (Klaus Christian Schreiber) anvertraut hat. Das war deutlich mehr als ein Schutz-Suchen, und dafür muss sie sich jetzt auch noch Vorwürfe von dem scheinheiligen geistlichen Herrn anhören. Auch diese Beziehung kommt also jetzt mit Vehemenz wieder zurück, zusätzlich zu jenen Gespenstern der Vergangenheit, die der totkranke Sohn und das angebliche Dienstmädchen – in Wirklichkeit seine Halbschwester – durch ihre Liebe zueinander wachrütteln.

Familienfeste1 560 Joseph Gallus Rittenberg uAnne Eger und anne Bennent in "Gespenster" © Joseph Gallus Rittenberg

In seiner klugen Strichfassung arbeitet Armin Holz die so verheerende wie allgegenwärtige seelische Nähe zwischen der Witwe und dem Pastor heraus, indem er die körperliche Bezogenheit der Figuren aufeinander radikal sichtbar macht. Es wird berührt, gegrapscht, auch Küsse ringt der Pastor der vermeintlich Schutzbefohlenen ab: Psychoanalyse in handgreiflicher Dimension. Zuletzt: Was für ein hilfloser, Verzeihen heischender Blick des Pastors, wenn er noch einmal kehrt macht und stumm vor Helene kniet. Sie sitzt da auf einem güldenen, thronartigen Sitzmöbel: So allein kann man bleiben im Gefängnis-Hort Familie.

Hirnereien

"Wie ich hinter meinen Figuren schöne Höhlen ausgrabe", hat Virginia Woolf ihrem Tagebuch anvertraut, als sie an "Mrs Dalloway" arbeitete. Ihre Psycho-Höhlen dieses Romans drängen sich nicht auf für eine Bühnenumsetzung. Zu den durchgängigen Ausstattungsstücken – einem stilisierten Baum, einem Stein rechts vorne – kommen hier noch ein riesiges Pappgehirn dazu und eine steile Metallstiege. Es ist die sperrige Gehirnganglien-Episode des weit über vierstündigen Abends.

Familienfeste3 560 Joseph Gallus Rittenberg uAnne Bennent und Valerie Koch in "Mrs. Dalloway"  © Joseph Gallus Rittenberg

Der Roman ist auf 35 Sprech-Minuten doch zu sehr eingekocht. Wieder sind Anne Bennent und Klaus Christian Schreiber (die prominenten Gäste für diese so ausufernde wie ehrgeizige Produktion in Linz) die eng vertrauten Gegenspieler. Bei Virginia Woolf ist es die Nicht-Familien-Aufstellung, die zum Problem wird. Denn zum Ehepaar sind Clarissa und Septimus Warren Smith ja nicht geworden. Jetzt ist er aus der indischen Kolonie heimgekehrt und schneit in Clarissas Abendgesellschaft hinein. Was sie denken, fühlen, zueinander (nicht) sagen: Das wäre, wenn überhaupt, einen eigenen Theaterabend wert. Zwischen den "Gespenstern" und "Viktoria und ihr Husar" nimmt sich das staubtrocken aus. Wie das wohl wirkt, wenn die Trias zweigeteilt wird und der Sprechtheater-Abend mit "Mrs Dalloway" trocken ausklingt nach den saftig-expressiven "Gespenstern"?

Visionärer Dada

So war's Intermezzo, hin zur Operette, einer aus jener Ära des Genres, die man abschätzig "blechernes Zeitalter" nennt. "Viktoria und ihr Husar" ist 1930 entstanden. Da war der Erste Weltkrieg noch in den Köpfen, aber – dafür war der Komponist Paul Abraham ein Spezialist – der Jazz aus der neuen Welt schon in den Ohren. Von Grodek, einem der verheerendsten Schlachtfelder, ist die Rede. Dort, glaubt Viktoria, sei ihr Verlobter gefallen. Nun ist das in die Jahre gekommene Ungarn-Mädel Ehefrau eines amerikanischen Diplomaten. Im fernen Osten kommt es zufällig zur Begegnung mit dem Husaren-Rittmeister, der doch nicht tot ist. Damit dieses Paar dann doch zusammen kommt, braucht es eine beinah dadaistisch anmutende Story, die dann auch noch in St. Petersburg und natürlich zuletzt in einem ungarischen Dorf spielt. Das wirkt, so man sich nicht einlullen lässt von Schlagern wie "Mausi, süß warst du heute Nacht" oder "Meine Mama stammt aus Yokohama", beängstigend visionär: Flucht und Exil sind nur einige Jahre später für den Komponisten und für einen der beiden Textdichter, Alfred Grünwald, bedrohliche Wirklichkeit geworden. Der zweite Autor, Fritz Löhner-Beda, ist in Auschwitz umgekommen.

Familienfeste2 560 Joseph Gallus Rittenberg uAnne Bennent in "Viktoria und ihr Husar" © Joseph Gallus Rittenberg

So eng Armin Holz bei Ibsen die Figuren aneinander gekettet hat, so weit stehen sie hier – ausgerechnet in der Operette! – voneinander entfernt. Klaus Christian Schreiber ist jetzt der Rittmeister. Wirres Haar, grimmiger Blick. So umkreist er Viktoria, die ihm vermeintlich untreu geworden ist. Mit dem Mut der Verzweiflung spielt dieses alternde Ungarn-Mädel das Gestenrepertoire des Genres durch, aber ihr Blick bleibt verhärmt, die Liebes-Lebensperspektive scheint ausgeblendet. Diese Rolle ist in dem Portfolio der drei Rollen sozusagen das Filetstück für Anne Bennent, die sich auch singend mehr als gut schlägt. Klaus Christian Schreiber ist ja ohnedies ein ausgewiesener Musik-Theatraliker, um seine weichen Tenor-Töne kann ihn mancher Fachkollege beneiden.

Die Musik ist reduziert auf ein Zwei-Personen-Orchester (Akkordeon, Saxophone plus ein paar andere Instrumente). Manches wird überhaupt völlig unbegleitet gesungen. Da ist aller Speck weg – aber bemerkenswerterweise nicht der Charme. Man sieht und hört "Viktoria und ihr Husar" an, dass der Regisseur zwei Jahre in Wien studiert hat. Jedem der Stücke hat Armin Holz charakteristischen Touch gegeben, jedem seinen eigenen Stil, nichts über einen Kamm geschert. Vielleicht gerade deshalb ist das Ganze deutlich mehr als seine Teile.

 

Familienfeste (1+2+3)
Gespenster & Mrs Dalloway & Viktoria und ihr Husar
von Henrik Ibsen, Virginia Woolf und Paul Abraham, alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda
Regie: Armin Holz, Ausstattung: Armin Holz, Michael Müller, Mitarbeit Kostümbild: Richard Stockinger, Musik: Lisa Bassenge, Musikalische Leitung Operette: Paul Schuberth, Dramaturgische Beratung: Gerhard Ahrens.
Mit: Anne Bennent. Valerie Koch, Anna Eger, Klaus Christian Schreiber, Stefan Matousch, Peter Pertusini, Oliver Urbanski, Georg Bonn. Musiker: Paul Schuberth, Victoria Pfeil.
Dauer: 4 Stunden 15 Minuten, zwei Pausen

www.landestheater-linz.at

 

Kritikenrundschau

An dem Wochenende, an dem alle Theaterprofis in München waren, zum Spielzeitauftakt der Kammerspiele unter Matthias Lilienthal, präsentierte Armin Holz sein "Familienfeste", und "im grellen Gegenlicht wird Linz zur Alternative. Zur Gegenposition. Oder vorsichtiger: zu einer Ahnung davon, was Theater auch sein könnte", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (18.10.2015). "Erzählend. Sinnlich. Konservativ im Sinne von nicht zerstörend." Holz propagiere ein Theater der Innerlichkeit, des ''zärtlichen Gefühls", keines der programmatischen Gesten und wirkästhetischen Selbstbespiegelungen. Fazit: "Auch wenn das Genre-Crossover nicht ganz aufgeht, wenn der Anfang für einen so langen Abend zu stark und das Ende zu schwach ist – die Inszenierung wagt etwas. Und das gibt es in diesen Tagen auf dem Theater nicht oft zu sehen."

Holz gelte als der verlorene Sohn des Regie-Theaters, so Ronald Pohl im Standard (12.10.2015). "In seinen wenigen Arbeiten erhält der Erzmanierist aus dem deutschen Krefeld das Gespenst der Schönheit am Leben. Seine Kunst speist sich aus der Anbetung der alten Regie-Monomanen: Zadek, Noelte, Grüber." Ibsens "Gespenster" werde als Kunstmesse zelebriert, im zweiten Teil gelinge Holz "ein zauberhafter Kurzstreckenflug über Woolfs Romangelände". Was immer Armin Holz erzählen wollte, verflüchtige sich im dritten Teil wie ein Gespenst aus der Flasche. Fazit: "Der freundlich akklamierte Dreiteiler gleicht einem Besuch auf der Kunstgewerbemesse. Man freut sich, sieht sich satt. Plötzlich bekommt man Lust auf ein ordentliches Knäckebrot. Was für ein dekadenter Abend."

"In allen Stücken, die Holz nun unter dem Titel 'Familienfeste' zusammenfasst, kehren verschwundene Männer zurück", so Stefan Keim auf Deutschlandradio Kultur (10.10.2015). Durch die wenigen Bühnenelemente – die sich größtenteils durch den ganzen Abend ziehen – bekomme die Aufführung eine Ahnung von Beckett. "So werden Ibsen, Virginia Woolf und Paul Abraham auf emotionaler und ästhetischer Ebene eine Einheit – ohne Gleichmacherei, die Stücke behalten ihren eigenen Charakter." Es gehe um die Suche nach Glück in schweren Zeiten, um die Frage, ob Weltflucht möglich oder sogar nötig ist – als Überlebensstrategie der Feingeister.

 

Kommentare  
Familienfeste, Linz: Bogen zu Ibsen
Der Herr Kriechbaum meint vermutlich Peter Walsh, wenn er Septimius Warren Smith schreibt. Letzterer kommt nämlich nicht aus Indien, sondern aus dem ersten Weltkrieg nach Hause, ist gesellschaftlich meilenweit von Clarissa Dalloways Welt entfernt, und nimmt sich das Leben, um den Gespenstern seiner PTBS zu entkommen. Insofern wäre da vermutlich durchaus ein Bogen zu Ibsens Gespenstern zu schlagen.
Familienfeste, Linz: Manierismen
Ich habe heute Abend "Gespenster" in der Regiearbeit von Armin Holz
gesehn. Es ist schwer für mich, etwas darüber zu sagen. Da waren Ansätze
zu etwas ganz Besonderem, und doch war das Ganze misslungen,
danebengegangen. Es wurde oft auch zu leise gesprochen, und ich verstand nur die Hälfte vom Text. Dadurch kamen die Regie-Manierismen zu aufdringlich in den Vordergrund und überwucherten das schwierige Stück von Ibsen.
"Mrs Dalloway" danach war geradezu eine Erleichterung, und eine Entspannung nach dem qualvollen Ibsen. Eine hübsche, manieristische Regiearbeit.
"Viktoria und ihr Husar" wurde an diesem Abend nicht gebracht.
Familienfeste, Linz: Geniales und Blödes
Wenn ich über Armin Holz lese, er sei ein eigenwilliger, eigensinniger und einzelgängerischer Regiekünstler, so kann ich das durch das Anschauen seiner "Gespenster" nur bestätigen. Ich muss zugeben, ich habe dergleichen noch nie erlebt. Diese seine Regiekunst hat gewiss etwas Ungewöhnliches
(selbst wenn man reinsten Manierismus darin sieht) und Außergewöhnliches. Man glaubt oft etwas "Geniales" auf der Bühne zu erblicken, und dann (wie eine logische Folge) wieder etwas geradezu quälend "Blödes" und
irrsinnig "Lächerliches". (für das Linzer Publikum, welches vorwiegend aus reiferen Damen bestand, die gut als Hintergrund auf der Bühne gepasst hätten - war es zu viel, der Schlussapplaus dauerte auch nicht all-zu-lange) . . . Man könnte sagen: ein einziger, es war ein einziger "Wahnsinnsausbruch", nicht nur Osvalds, sondern auch des Regiesseurs
mit seinen Schauspielern (die durchgehend erstklassig waren, denn nicht viele Schauspieler können bewältigen solche (…) Manierismen eines so ungewöhnlichen Regisseurs). So gesehen, (…) vom Wahnsinn her, passt alles (…). - Von hysterischem, unterdrückten Gelächter oft gerüttelt und geschüttelt, saß ich mit erhitzdem, fieberndem Kopf in der ersten
Balkonreihe (leider zu weit am rechten Rande), und konnte das traumatische Geschehen auf der Bühne gar nicht fassen. Vielleicht, so sage ich mir jetzt, sollte ich nochmals in die Vorstellung gehen . . .
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