Brutale Zärtlichkeit

von Sabine Leucht

München, 14. Oktober 2015. Roccos Tränen fließen hier erst am Schluss. Bei Visconti weinte der junge Alain Delon ganze drei Male: Nachdem sein Bruder Simone vor seinen Augen beider große Liebe Nadia vergewaltigte, nach seinem ersten Sieg im Boxring und – ganz am Ende dieser Passionsgeschichte einer Familie – als Simones Messer in Nadias Körper geblieben war. Bis zum Tode.

Endlich wieder Figuren!

Delons Rocco, dieser fast heilige, unendlich aufopferungsvolle Träumer, gab mit jeder Träne ein weiteres Stück von sich her. Den bei Thomas Hauser vergleichsweise coolen und auch verbal erstaunlich schlagfertigen Rocco haut erst die letzte Situation um, während Samouil Stoyanows Simone in einen enervierend regelmäßigen Lachrhythmus verfällt, den er durch den Zuschauerraum der Kammer 1 – das vormalige Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele – nach draußen trägt. Wo diese falschen Töne das Premierenpublikum mit etwas Abstand einmal fast umrunden.

Rocco1 560 ThomasAurin uMünchner Neorealismus à la Maximilianstraße: mit Thomas Hauser, Christian Löber, Samouil Stoyanov,  Johannes Geller und Wiebke Puls  © Thomas Aurin

"Rocco und seine Brüder" ist die vierte echte Premiere nach dem Amtsantritt Matthias Lilienthals in München. Und schon spürt man, wie sehr einem bereits jetzt dieses Weinen und Lachen, diese Konfrontation Fleisch gegen Fleisch, Marotte gegen Marotte abgegangen ist. Endlich sieht man wieder Figuren sich aneinander reiben und ein Stück einen dramatischen Drive entwickeln, wie es ihn es als Gegenstand der mehr oder weniger spitzfindigen Ferndiagnose nicht entwickeln kann.

Der 1984 in Basel geborene Australier Simon Stone gilt seit seiner Übermalung von Ibsens "Wildente" bei den Wiener Festwochen 2013 als ganz große Nummer oder nervige Castorf-Kopie. Egal! Stone glaubt noch an Gefühle, die sich allerdings erst allmählich in dem beiläufigen Grundton behaupten, der in dieser Inszenierung herrscht. Erst wirkt es fast lächerlich, dass einfach jeder spricht, wie er spricht: Stoyanow ein teigiges Österreichisch; Frank Rogowski als ältester der fünf Brüder näselt verschnupft. Alle reden schnell und oft durcheinander. Statt des hohen Bühnentons hört man Privatsprechweisen per Mikroports verstärkt. Wenn die knacken oder übersteuern, passt das zum aufgerauten Look des Abends.

Edelboutique statt Wäscherei

In Luchino Viscontis neorealistischem Meisterwerk von 1960 verschmolz die Kälte des italienischen Nordens mit der der Industrialisierung und zerfraß die von harter körperlicher Arbeit, den Olivenbäumen Lukaniens und dickem Blut genährten Familienbande. So toll der Film ist, die Geschichte von (Roccos) Schuld und Sühne, in der sich Monologe wie Predigten breit machen, passt nicht in die heutige Zeit. Der "Autor-Regisseur" Stone hält sich dennoch grob an Plot und Chronologie des Films, lässt das Abenteuer aber statt auf dem Mailänder Bahnhof auf dem Flughafen einer wahrscheinlich deutschen Großstadt beginnen, wo es statt verlockender Lichter Austern, Kaviar und Luxuslabels zu sehen gibt. Statt in der Wäscherei arbeitet Rocco in einer Edelboutique, wo Simone eine 18 000 Euro schwere Tasche klaut. Man verpatzt Verabredungen via WhatsApp, was Ausreden erschwert ("Aber die Häkchen waren blau!").

Man ist jung und fasst es in Worte: Für alles braucht man(n) "Eier" und bald kommt es einem so vor, als wären "gefickt" oder "ungefickt" menschliche Aggregatszustände. Man sagt "Lifechoices" und macht dem, der einem blöd kommt, sein iPhone 6s kaputt. Die Sprache hebt ab ins Heute und die Übertreibung, was nur ein bisschen nervt, weil die Inszenierung am Boden bleibt. Und wo es szenisch hakt, hakt es meist so deutlich, dass man es als Zeichen lesen kann: wie dort, wo Simone die Boutiquenchefin verführt, bei Wiebke Puls eine todschicke Dame, die den kleinen dicken Bomberjackenträger um einen guten Kopf überragt. Kein erotischer, ein Akt des Größenwahns! Symptomatisch für die Art, wie dieser Traum vom Aufstieg aus dem Ruder läuft, zu dem es in Gestalt von Ciro ein hübsches Kontrastprogramm gibt. Ciro, auch bei Christian Löber der Realist der Familie, will nur "etwas, das besser als schrecklich ist" und verheddert sich beim Werben um seine Freundin aufs Wunderbarste in seiner Schüchternheit.

rocco brueder2 560 ThomasAurin uRocco und seine tote Liebe: Thomas Hauser und Birgit Hobmeier © Thomas Aurin

Puddingweicher Mörder

Die Szenen gleiten auf Ralph Myers Bühne rasch und umstandslos ineinander, während darüber in Leuchtschrift die Orte bekanntgegeben werden. Nach der Pause finden die zartesten und brutalsten Szenen um ein ausgebranntes Auto herum statt, und schließlich fährt der Boxring aus dem Schnürboden, in dem jeder Bruder – und sei es nur symbolisch – um seine Selbstachtung und seine Zukunft kämpfen darf. Stone erzählt mehr als Visconti (aber zugleich grell und unscharf) vom Kapitalismus und nur sehr indirekt von Migration. Aber er erzählt von Menschen, von Selbstbetrug und Rache. Wie die Mutter sich den innen wie außen puddingweichen Simone nachträglich als "besten Sohn" hindichtet. Wie der hinüberschwappt in die Liebe, das Boxen, die Schulden und die Gewalt, und wie ihn Brigitte Hobmeier förmlich hineinredet in den Mord an ihr, das ist toll. Für die boshafte Furie und die frivole Prostituierte gräbt die Hobmeier wieder diese abgrundtiefen Töne von Woweißwoher aus. Und dann gurrt sie sich sterbend noch eine romantische Szenerie zusammen. Mit In-die-Augen-Schauen und Wärme – und all dem, was sie mit Rocco hatte. Als sie für kurze Zeit an Hoffnung und Vertrauen glaubte.

 

Rocco und seine Brüder
Nach dem Film von Luchino Visconti
In einer Fassung von Simon Stone
Deutsch von Lilian-Astrid Geese
Regie: Simon Stone, Bühne: Ralph Myers, Kostüme: Henriette Müller, Musik: Stephan Gregory, Licht: Pit Schultheiss, Boxtraining und Choreografie: Tim Yilmaz, Dramaturgie: Tartun Kade.
Mit: Wiebke Puls, Franz Rogowski, Samouil Stoyanow, Thomas Hauser, Christian Löber, Johannes Geller, Brigitte Hobmeier, Gundars Abolins, Stefan Merki, Hannah Schutsch, Maj-Britt Klenke.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Nach all den "postdramatischen Theaterdiskursübungen" des Lilienthal-Auftakts biete "Rocco und seine Brüder" nun tatsächlich: "Theater im Sinne eines Repräsentations- und Identifikationstheaters, also mit richtigen Rollenzuschreibungen, Figuren, Dialogen", befindet Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (16.10.2015). "Auch Gefühle sind erlaubt, werden am Ende sogar pathetisch hochgeschraubt." Stone könne "aus dem Nichts Szenen und Situationen schaffen". Allerdings sei es "mit dem Ensemblespiel (noch) nicht so weit her." Gewöhnungsbedürftig sei auch "der niedrigschwellige Ansatz, mit dem einem an diesem theatergeschichtsträchtigen Ort nun ein Haufen halbstarker Schauspieler - so treten sie zumindest auf - in schnellen, hohlen Schlaglichtszenen ihre Vulgärsätze um die Ohren haut".

Patrick Bahners macht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.10.2015) etwas verspätet eine "Mode der Bearbeitungen von Filmklassikern" aus, um dann Detail für Detail Film und Bühne miteinander zu vergleichen. Zum Nachteil von Stones Inszenierung. "Nur Samouil Stoyanov als Simone, der stürzende Champion und Mörder Nadias, befreit sich, wird zum Bühnencharakter, durch konsequenten Antirealismus: Er hat von Anfang an einen Bierbauch und spricht in wienerischem Singsang. Nach seinem letzten Abgang verfällt er jenseits der Saaltür in ein hysterisches Kichern. Dann umrundet er außen das Parkett und lacht immer weiter. Einen solchen Surround-Effekt kann man im Kino nicht erleben."

"Einen rasanten Hit hat das neue Ensemble mit dieser Inszenierung gelandet", findet hingegen Michael Stadler in der Abendzeitung (16.10.2015). Wer befürchtet habe, dass unter Matthias Lilienthal keine Rollen mehr gespielt würden, werde bei dieser vierten Spielzeit-Premiere beruhigt: "smartes Theater, mit Darstellern, die sich in Figuren reinschrauben, jeder auf seine Weise". Wie etwa Brigitte Hobmeier die Prostituierte Nadia spiele, sei toll: Sie "verführt in Stones’ Version gleich drei Brüder im Handumdrehen, ist mal verrucht, mal zärtlich, rotzt später ihre Verletztheit so raus, dass es einem in der Herzgegend zieht".

 

mehr nachtkritiken