Tatort Theben

von Michael Stadler

München, 17. Oktober 2015. Es ist schon sehr angenehm, wenn eine Inszenierung gerade mal neunzig Minuten dauert. Nicht nur für den Nachtkritiker, der zu einer halbwegs anständigen Zeit ins Bett kommt, sondern für das Publikum insgesamt, das nach Aufführungsende noch Zeit hat, einen trinken zu gehen oder sonst was mit der noch jungen Nacht anzufangen, vielleicht ja über das eigene Dasein nachzudenken. Schließlich ist "König Ödipus" ein Selbstfindungs-Stück schlechthin, bringt Tieferliegendes, gar allgemein Unbewusstes an die Oberfläche (ach, Ödipuskomplex!) im Laufe eines schmerzhaften Erkenntnisprozesses, der auch im alten Reclam-Heft nicht länger als 60 Seiten dauert.

Zu Beginn beeindruckt die Inszenierung von Mateja Koležnik mit einem Bühnenbild, das in einiger Hinsicht filmisch wirkt. Auch wenn man auf dem Balkon sitzt, weit hinten, ist das kein schlechter Platz. Im Gegenteil: Man sitzt auf Augenhöhe mit der Bühne, die Raimund Orfeo Voigt in einigem Abstand zum Boden eingerichtet hat.

Im Leinwandformat

Das Parkett, gerade die ersten Reihen, darf nach oben blicken, mit jener Kopfhaltung also, die man vom Kino kennt. Ein minimalistisch-realistisches Szenario streckt sich da im Leinwandformat entlang, zum Publikum hin verglast: eine Art Vorraum, links und rechts eine braune Tür. Beide führen wohl zu einem Verhandlungssaal, aus dem die Stimme des Titelhelden Ödipus dringt, aus dem Off sozusagen.

Mikrofonverstärkt spricht dieser Herrscher zu seinem Volk, versichert, dass er alles Erdenkliche unternehmen wird, um jenen Mann zu finden, der seinen Vorgänger König Laios umgebracht hat. Die Götter haben das Land mit der Pest bestraft, der Schuldige muss daher baldigst gefunden werden. Die Stimme von Thomas Lettow klingt dabei so pompös, als ob er mindestens im Bundestag eine Rede hält. Es ist der Ton der (falschen) Versprechung, selbstbewusst, wie man es von einem Mächtigen im Licht der Öffentlichkeit erwartet.

Gruppenbildung in slow-motion

Derweil der Chef drinnen von Klärung schwadroniert, leert und säubert eine Dienstkraft im Vorraum einen einsam dastehenden Aschenbecher-Ständer. Den Bühnenrealismus bricht die Regie früh. Schwarze, ascheähnliche Teilchen werden beispielsweise von einem Lüftchen aufgewirbelt, das kaum von einer der leicht geöffneten Türen kommen kann. Durch diese haben die geschniegelten Herren des Politikgeschäfts ihre Auf- und Abgänge, für Zigarettenpausen, für die wirklich wichtigen Gespräche. Der Raum selbst, das Fenster zum Publikum wird durch sechs gleichmäßig verteilte Streben segmentiert, was für noch mehr Einordnung sorgt: für Bilder der Grüppchenbildung und Isolation, gerade wenn Ödipus alleine zwischen zwei Streben steht.

Oedipus4 560 Dashuber uHinter Glas, aber ganz im Licht der Öffentlichkeit: "König Ödipus" © Thomas Dashuber

In welches Identitätskästchen er hineingehört, wo seine Grenzen liegen, welche er unwissentlich und vom Orakel vorhergesagt überschritten hat, darum dreht sich der wohl bekannte Mythos, der hier in schlanker Fassung und gutem Tempo durchläuft. Der Look erinnert an die Mad Men oder Momos graue Herren, Zeit wird weggeraucht und verlangsamt sich, wenn die alte Ich-Vorstellung in Rauch und Asche zerfällt. Dann bewegt sich der Chor der Dressmen in Slow Motion, Einzelne fallen, stehen wieder auf, wandeln am schockstillen Ödipus vorbei, dessen Detektivarbeit ins Innere geführt hat.

Auf den Weg zur Erkenntnis, dass er der Mörder seines Vaters ist, dass er seine eigene Mutter geheiratet hat, führt ihn der blinde Seher Teiresias, der ihm so lange die Wahrheit vorenthält, bis Ödipus ihn anklagt, mit dem potentiellen Verräter, letztlich aber gar nicht so machtgeilen Kreon (Bijan Zamani) unter einer Decke zu stecken. Selbst dann bewahrt der große Hans-Michael Rehberg als Teiresias jene tiefe Ruhe, die eine wahre Autorität ausmacht. Mit dem Blindenstock klopft er die Scheibe ab, um die richtige Gehdistanz zu bemessen  Teiresias ein Mann des Maßes, der wie später ein alter Hirte (Alfred Kleinheinz) von Ödipus dazu gezwungen wird, für mehr Durchblick zu sorgen.

Der Erzählung dienend

Um das Geheimnis, wer Ödipus eigentlich ist, wissen viele. Die unterbeschäftigte Sophie von Kessel spielt seine Gattin Iokaste so zurückhaltend, dass man ahnt, dass sie wiederum die Wahrheit ahnt. Was einst passierte, wurde ins Vergessen gedrängt; das Rätsel wird im Vorraum, Backstage gelöst. Ein Diener (Thomas Grässle) trägt hier einen Wasserbehälter hin und her, zunächst voll, dann auf dem Rückweg leer, weil er vermutlich einen Tank fern unserer Blickfelds gefüllt hat.

Oedipus 01 560 Thomas Dashuber uHans-Michael Rehberg als Teiresias, Thomas Lettow als Ödipus © Thomas Dashuber

Wichtige Handlungen, das Eigentliche findet schon bei Sophokles jenseits der Bühne statt: dass Iokaste sich selbst richtet, weil die Ahnung zur Gewissheit wurde; dass Ödipus sich nach ihrem Suizid die Augen aussticht. Der Anzug ist dann weg, das Hemd blutbesudelt bei Thomas Lettow, der hier erstmals am Residenztheater eine Hauptrolle spielt und die Linie vom überheblichen Anführer zum demütigen Menschen schön zieht. Ohne selbstgefällige Spirenzchen, so wie alle im Dienst der Erzählung spielen.

Aber reicht das? Das Publikum klatscht ausdauernd, und es lief ja auch ziemlich glatt. Knapp neunzig Minuten, das ist Tatort-Länge, der Krimi ist vorbei. Aber selbst wenn die Anzugträger, angeführt von René Dumont, am Ende ihrem ach-so-sauberen Tagesgeschäft weiter nachgehen, als ob nichts geschehen sei  manche gucken noch durch die Scheibe, wo wir und jetzt auch der nach draußen abgeführte, blinde, sehende Ödipus sind  es bleibt wenig Irritation nach einem angenehmen Abend.

König Ödipus
von Sophokles, aus dem Griechischen von Dietrich Ebener
Regie: Mateja Koležnik, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Alan Hranitelj, Musik: Mitja Vrhovnik-Smrekar, Licht: Gerrit Jurda, Choreographie: Matija Ferlin, Dramaturgie: Götz Leineweber.
Mit: Thomas Lettow, Sophie von Kessel, Bijan Zamani, Hans-Michael Rehberg, René Dumont, Wolfram Rupperti, Alfred Kleinheinz, Thomas Gräßle.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Mehr zu anderen Ödipus-Inszenierungen der jüngeren Zeit:  an der Berliner Schaubühne inszenierte Romeo Castellucci im März 2015 Ödipus der Tyrann nur mit Frauen, griechischen Gewändern und Tränengas. Klaus Kusenberg brachte Ödipus Stadt in Nürnberg im Oktober 2014 auf die Bühne, Stephan Kimmig Ödipus Stadt am DT Berlin im August 2012. Alice Buddeberg inszenierte Ödipus am Schauspielhaus Hamburg im Oktober 2012.


Kritikenrundschau

"Ein tolles Theater der Rhetorik", hat Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (19.10.2015) am Resi gesehen. Regisseurin Mateja Koležnik beweise "eine gewaltige Freude an der Sprache" und ein "Faible für klare Angelegenheiten", wobei ihr die "eisige Konsequenz von Sophokles' Stück" entgegenkomme. Der Abend liefere "eine klare Vorführung, wie einer vom Sockel der höchsten Macht gestoßen wird."

 Eine "genau gearbeitete, konzentrierte Inszenierung" würdigt Michael Schleicher im Münchner Merkur (19.10.2015), eine Inszenierung mit "scheinbar unaufdringlicher Eleganz", aber auch der "Wucht" des Tragischen. Sie blicke nicht auf das Einzelschicksal des Ödipus, sondern auf die "Strukturen", die ihn umfangen: ein "störungsfrei" dahin schnurrendes, "selbsterhaltendes" Macht-System. Thomas Lettow zeige sich in der Titelrolle als "Polit-Popstar", bei dem das Selbstbewusstsein "allmählich bröckelt".

Wie in ihren Vorgängerarbeiten am Residenztheater "gefriertrocknet" Regisseurin Mateja Koležnik auch hier "die Emotionalität der Figuren in geometrischer Strenge", schreibt Mathias Hejny in der Abendzeitung (19.10.2015). Thomas Lettow sei ein Ödipus "mit jungenhaftem Charme und jugendlichem Ungestüm, der mit schörkelloser Entschlossenheit sowohl die Aufdeckung der Schuld als auch die Sühne betreibt."

 

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