Mit dem Flügelschlag der Lebenslügen

von Jens Fischer

Hamburg, 17. Oktober 2015. Es war einmal ein Engel in Amerika. Tony Kushner fantasierte ihn in seine "schwulen Variationen über gesellschaftliche Themen". Fünfzehn Jahre vor der Jahrtausendwende sollte er mit lässigem Flügelschlag die Lebenslügen von den Lebensängsten wirbeln und als Bote der Hoffnung von einem großen Werk künden, das bald beginnen würde. Nachdem aber die epiphanischen Worte landauf, landab auch in Deutschland abgefeiert und die Silvesterfeuerwerke 2000 verpufft waren, galt es zu konstatieren, dass weder die Apokalypse entzündet noch das Jüngste Gericht einberufen wurde.

Amerika, unheilbar, geisteskrank, böse

Fünfzehn Jahre nach dem Millenniumswechsel fantasiert nun Bastian Kraft den Engel am Hamburger Thalia Theater auf die Bühne. Und er sieht aus wie tot – ist nämlich halsaufwärts im Amy-Winehouse-Design frisiert und geschminkt. Sind auch seine Thesen, Prophezeiungen und Hilfsangebote von gestern? Ist "Engel in Amerika" ein lehrzauberhafter Zeitstück-Hit – und als sprachwitzig sarkastische Abrechnung mit der Reagan-Ära nur noch aus historischen Gründen interessant? Hilft der Rückblick beim Durchblick hier und heute? Das deutet jedenfalls der Engel (hinreißend genervtes Showgirl: Marie Löcker) an, als er gegen die Traditionslosigkeit und den antimetaphysischen Pragmatismus Amerikas argumentiert. Das als "unheilbar, geisteskrank und böse" beschimpft wird. Die politischen und sozialen Verwerfungen rechnet Kushner mit den Ozonlöchern zum Kostenpaket einer maroden Globalisierung hoch. Die Welt ist aus den Fugen.

Engel012 560 Krafft Angerer hFreiheitsstatue vor den unbegrenzten Möglichkeiten der Video-Spiegel: Ernest Allan Hausmann in "Engel in Amerika" am Thalia Theater Hamburg © Krafft Angerer

Louis liebt Prior, Louis liebt Joseph. Also verlässt Louis seinen HIV-positiven Lebenspartner, weil er die Verantwortung nicht erträgt, ihn bis in den Tod zu betreuen. Und lässt sich leidenschaftlich auf den jungen Anwalt Joseph ein, der als Mormone und Republikaner damit kämpft, seine Homosexualität nicht mehr nur in dunklen Parkecken ausleben zu wollen. Diverse solcher Handlungsfäden verwebt Kushner zu einem Gesellschaftspanorama der Homophobie.

Die Polemik der Erzkonservativen aufgespießt

Bastian Kraft hat mehr als die Hälfte des Stücks gestrichen, nicht aber Hinweise auf Geschichtsvergessenheit, den Zerfall der Ideologien, eine Erosion von Sinnzusammenhängen, das Ausleiern menschlicher Beziehungen. Zusammenbruch der Zivilisation, da Abwehrmechanismen versagen? Jedenfalls wird der Einbruch von Aids in die angeblich so aufgeklärt tolerante Gesellschaft als Metapher genutzt, um die "Schwulenseuche"-Polemik der Erzkonservativen gegen deren Politik in Stellung zu bringen. Gleichzeitig wird Aids als Krankheitsbild beschrieben sowie die Ignoranz und Hilflosigkeit, mit der Epidemie umzugehen.

Aber da hat sich doch was getan inzwischen, oder? Das Stück triumphierte in einer Epoche, in der das Tragen roter Solidaritätsschleifen zum modischen Accessoire wurde. Jetzt werden sie mit dem Hinweis auf Spenden für die Aidshilfe kostenlos im Thalia-Foyer verteilt, weil so gut wie keiner damit zur Premiere erscheint. Gleichzeitig wird im Programmheft "hinnerk – Hamburgs schwules Stadtmagazin" zitiert: "Die Aidskrise ist ja, zumindest hierzulande, überwunden."

Am Rande des Sentiments

Montiert werden die rasant wechselnden Szenen tempodrosselnd in-, neben- und durcheinander zu einem kleinteiligen Mosaik, in dem alle Figuren irgendwie zusammenhängen – und sei es, dass sie aus ihrer Halluzination in den Traum eines anderen Wesens wechseln. Den holzschnittartig überzeichneten Charakteren widmet sich das Ensemble mit sanfter Präzision – emotional sachlich und doch rühren wollend.

Kraft feiert dabei jedes Erweichen verhärteter Verhaltensmuster, jeden wärmespendenden Funken, der einem gut isolierten Menschenkraftwerk entweicht. Sogar dem übelsten aller Schwulen hassenden Schwulen, dem egozentrischen Rechtsaußen-Juristen Roy Cohn, werden dank Matthias Lejas Darstellung ironischer Machtbesessenheit noch Sympathiepunkte spendiert. Schnell balanciert die Inszenierung am Rande des Sentiments statt des Abgrunds – und darf nicht nur Kammerspiel, soll auch optisch großes Theater sein. Dafür hat Bühnenbilder Peter Baur eine Art Mega-Parabolspiegel gebaut. So kann nun gleichzeitig in einem Bett auf der Bühne, auf der Spiegelfolie und in darüber projizierten Live-Video-Bildern gelitten werden.

Politisch korrektes Gebrauchstheater

In Großaufnahmen ist zudem zu erleben, wie um Würde beim Sterben, Coming-out, Scheiden, Verdrängen der Homosexualität gekämpft wird. Auch die Engelsperspektive ist den Zuschauern vergönnt: Wie Schachfiguren, mit denen zu spielen Gott das Interesse verloren hat, sehen die Schauspieler aus, wenn die Kamera vom Bühnenhimmel aus ihr ratloses Herumstehen oder Voneinander-weg-Streben einfängt. Eine handwerklich bodenständige Perfektion der Szenenarrangements, eher plakatierte als analysierte Inhalte, die darstellerische Virtuosität – all das und noch einiges mehr verortet den Abend in allerfeinster angelsächsischer Aufführungstradition.

Politisch korrektes Gebrauchstheater. Das trotzdem wie der dritte Aufguss einer ehemals kraftvollen Mischung dramatischer Mittel wirkt. Auch wenn der Nachweis einer gewissen zeitlosen Aktualität durchaus nachvollziehbar ist: Alle Figuren verlieren, was ihnen am wichtigsten war, und suchen dann "im freien Fall durch die Möglichkeiten" eine Zäsur. Mormonin Harper verschenkt jedenfalls die Pillen ihrer Valiumsucht, nachdem sie ihren schwulen Mann verlassen hat, und propagiert schmerzlichen Fortschritt als Nachtflug in ein neues Leben. Stimmungsaufheller, Mutmacher, Optimismusinfizierer – etwas plump, aber mit Herz wird das Thalia bei der Engelshow zum 3-D-Hollywoodkino.

 

Engel in Amerika
von Tony Kushner
Regie: Bastian Kraft, Bühne/Video: Peter Baur, Kostüme: Anna van Leen, Musik: Björn SC Deigner, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: Alicia Aumüller, Kristof Van Boven, Sandra Flubacher, Julian Greis, Ernest Allan Hausmann, Matthias Leja, Marie Löcker, Oliver Mallison.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"'Engel in Amerika' ist von gestern, gottlob haben die Zeiten das Stück überholt", schreibt Monika Nellissen in der Welt (19.10.2015). Neben seinen unzweifelhaften Qualitäten als tolles Schauspielerfutter erhielte es "Gültigkeit bis ins Heute, wenn man es neu fasste und inszenierte, brutaler, radikaler, gebrochener". Kraft versenke sich jedoch "texttreu und empathisch in Leiden und Mysterien einer gesellschaftlich oktroyierten verkorksten Sozialisation, in der alle Verlierer sind". Das sei "nicht viel mehr als eine glänzend präsentierte Schwulen-Soap in Zeiten von Aids, Sektenhörigkeit und Homophobie".

"Der schmerzliche Fortschritt, das Weitergehen aus der Krise, darin liegen die Möglichkeiten, die über das reine Zeitstück hinausweisen", laute der Name der Krise nun Aids oder auch Krieg und Flucht, findet Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (19.10.2015). Kraft gelinge es letztlich nicht, diese Idee mit Leben zu füllen. Vieles an den von Kushner so wirksam durchgespielten Themen – Sexualität, Politik, Religion und Moral der Reagan-Ära – wirke auf der Bühne seltsam künstlich und plakativ. "Und das, obwohl die Themen so oder schlimmer auch heute noch in der Welt zu finden sind. Die Inszenierung, sie hätte sich entschiedener nach vorne richten müssen."

Bastian Kraft gelängen "ganz erstaunliche Bilder", konzediert Alexander Kohlmann im Deutschlandfunk (19.10.2015). Jedoch: "Die erzählte Geschichte aber, kann leider überhaupt nicht mit dieser faszinierenden technischen Installation mithalten." Das 80er-Jahre-Stück zum Umgang mit Homosexualität in Amerika habe "Patina" angesetzt.

 

Kommentare  
Engel in Amerika, Hamburg: zackige Distanz
Ich empfand es als eine sehr schwache Aufführung. Mich hat da so gar nichts berührt. Ich blieb emotional total außen vor - wie auch sehr viele andere Zuschauer, mit denen ich sprach. Wahrscheinlich liegt es vor allem an der grundlegenden Problematik, die heute - nach 30 Jahren - so einfach nicht mehr nachvollziehbar ist. Die Distanz zur damaligen Situation von Aids und den daran Erkrankten, aber auch die Distanz zu der politischen Situation Amerikas unter Reagan und einer Distanz zu bestimmten amerikanischen Glaubensfragen und -ausrichtungen (z.B. Mormonen). Für mich muss man dieses Stück heute wirklich nicht mehr aufführen. Zumindest nicht auf diese Art und Weise. Zudem gestattet der Regisseur den Figuren noch nicht einmal eine gewisse Tiefe. Es wird kühl, distanziert und rasend schnell alles runtergespielt. Wenn ein Paar sich trennt, dann trennt es sich eben. Zack - nächste Szene. Und so zackt sich der ganze Abend durch die Szenen. Das hat so gut wie gar nichts! Da bleibe ich als Zuschauer völlig emotionslos, ungerührt und mich fasst hier so gar nichts an. Ein Abend, der sich nicht lohnt und der nicht "bleiben" wird.
Engel in Amerika, Hamburg: Kushner so aktuell wie Ibsen
Wie schön, daß jeder Zuschauer anders empfindet, anders sieht, sich anders einen Reim aus dem Stück macht. Herr Brachmann blieb "emotional außen vor", mich hat "Engel in Amerika" emotional berührt, weil das Stück und sein Thema keineswegs überholt sind, man braucht ja nur an die Fundamentalismen zu denken, die durch die Republikaner in den USA drohen, um Parallelen zu heute zu entdecken.Die Lebenslüge - bei Ibsen als bleibendes Thema akzeptiert - bei Kushner veraltet?
Engel in Amerika, Hamburg: Kitsch und Kühle
Pathetisch, altbacken. Der Text hatte einst seine Hochzeit, und seine Regisseure, damit umzugehen. Man hat mich in den Abend mitgeschleppt, und ich war nicht nur erschreckt über das Stück, jetzt, so viele Jahre später, vor allem auch über die zwischen Kitsch und Kühle verlorene Regie.
Kommentar schreiben