Es muss gestorben sein

von Anne Peter

Berlin, 18. Oktober 2015. 100 Sekunden sind verdammt wenig Zeit, um zu erzählen, warum jemand freiwillig in den Tod geht. Immer wieder fährt die strenge Stimme aus dem Megaphon die vier Schauspieler an, wenn sie nicht schnell genug auf den Lebensendpunkt kommen. Da wäre zum Beispiel Mohamed Bouazizi, der sich selbst verbrannte und damit den Arabischen Frühling auslöste. Oder Holger Meins, der gegen das "Schweinesystem" anhungerte und bei 33 kg verstarb. Oder Johanna von Orléans, die an Gottes Seite in die Schlacht zog. Oder der Weißrusse, der nach Tschernobyl in die kontaminierten Gebiete ging, um zu beweisen, dass der Kernreaktor doch ein Segen sei. Und Fatma Al Neijar, die 9 Kinder und 40 Enkel hinterließ und sagte: "Vielleicht ist mein Tod nützlicher, als mein Leben hätte sein können."

Das 100-Sekunden-Limit ist die Spielregel, die Regisseur Christopher Rüping dem Team für seine Sinnsucherstückentwicklung "100 Sekunden (wofür leben)" verordnet hat, bei der die Zuschauer auf Flohmarkt-Style-Stühlen locker auf der Bühne der DT-Kammerspiele verteilt sitzen. Rüping, geboren 1985, ist einer jener jungen Verspielten, die der Theaterbetrieb gerade heftig umwirbt. Thalia Theater Hamburg, Münchner Kammerspiele heißen die Hausnummern. Und eben Deutsches Theater Berlin. In diesem Frühjahr hochkatapultiert zum Theatertreffen (mit dem "Fest" aus Stuttgart), malte er in den DT-Kammerspielen zuletzt mit einer spielwütig ideensprühenden "Romeo und Julia"-Variante den pubertätsradikalen Liebesduselfuror der Shakespeare-Teenager ziemlich hinreißend aus. Apropos Romeo und Julia – auch sie hätten in diesen Reigen hineingepasst, ist doch gegen Ende von einem jungen Liebespaar in Bangladesch die Rede, das sich gemeinsam das Leben nahm, weil sie von den Eltern an einen anderen Mann verheiratet worden war.

Märtyer-Auftürmung

Wofür hier alles gestorben wird! Für die Liebe, für das Vaterland, für den Gott, für die gerechte Sache, die richtige Politik, die Tierliebe, die Schönheit – alles einerlei? Die höchst verschiedenen Einzelfälle und vielfältigsten Motive werden zu einem Beliebigkeitsbrei vermengt – ohne dass sich aus der Auftürmung von Märtyrer-Storys zunächst etwas ergäbe. Es ist eine lange Liste von mal zeitgenössischen, mal historischen, mal der Dramenliteratur oder auch der Bibel entlehnten Schicksalen, die sich bisweilen milde kommentieren oder thematische Schnittmengen bilden, en gros aber vor allem in ihrer Disparatheit auffallen. Das Serielle nivelliert den Einzelfall, und man hält etwas ratlos nach einer Richtung Ausschau.100 Sekunden 560 Arno Declair hDas Singen wird es bringen: Wiebke Mollenhauer, Camill Jammal, Katharina Matz
und Michael Goldberg in "100 Sekunden" © Arno Declair

Doch dann bröckelt die Form, wirft Wiebke Mollenhauer unwillige Blicke gen Megaphon, stockt Katharina Matz ungläubig beim Verlesen des Iphigenie-Opfers, erhebt Michael Goldberg Zeigefinger und Stimme – gegen die Begrenzung, gegen das Ende, gegen das achtlose Hinweggehen über die Tode, die doch nicht umsonst sein sollen. Konfetti rieselt schüchtern, Kostüme kommen ins Spiel, die Komik lockert sich. Sogar ziemlich komisch wird es, wenn die Technik Film-Sound zupumpt, Mollenhauer sich blaue Farbe ins Gesicht schmiert und als Mel "Braveheart" Gibson pathetisch die Faust für die "Freiheit" reckt. Oder wenn Camill Jammal konsequent nicht als Gandhi, sondern als dessen Filmverkörperer Ben Kingsley auftritt. Che Guevara, der gegen die Türken wetternde Papst, Stalingrad-Verfechter, sie alle verschwimmen jetzt in feurigem Ideologie-Aufputschertum.

Spaß und Sinn unterm leergeräumten Himmel

Im zweiten Teil des Abends öffnet sich der Vorhang zu einem wirkmächtig eingenebelten und von Gegenlicht durchfluteten Zuschauerraum. Von dort, wo wir normalerweise Platz nehmen, werfen uns die Schauspieler nun zur Klavierbegleitung Jammals unser Spaßgesellschaftsspiegelbild in Form lebensfroher Songs von "Life is Life" bis "Always look on the bright side..." entgegen.

Aus dem Kontrast zwischen dieser augenverschließenden, sinnentleerten Lebensfreudigkeit einerseits und der einem übergeordneten Höheren entspringenden Todesbejahung andererseits gewinnt die Inszenierung an Triftigkeit. Der 15-jährige Pakistani ist bereit, für die Taliban zu sterben, ein Gleichaltriger in Deutschland würde wohl eher "von einem neuen Fahrrad träumen", heißt es. Und wie hilflos stehen wir vor einer Geschichte wie derjenigen von Sandra, die aus dem Ruhrgebiet nach Syrien aufbricht und ihren Eltern auf der Kinderzimmerwand den Schriftzug "I love IS (Herzchen)" hinterlässt.

Unterm leergeräumten Himmel, wo vor allem die Sterne des Konsumismus zum Greifen einladen, gieren wir nach Helden und Führern, sind verführbar für jene, die noch einen Sinn anzubieten haben. Die konkreten Inhalte sind da, so mag die pessimistische Botschaft des Abends lauten, gefährlich austauschbar. Nur ein immer wieder so schön wie störrisch dazwischenfahrendes Klagelied in fremder Sprache (Schwarmintelligenz, hilf!), das Mollenhauer und Jammal einander zusingen, spendet Trost. Ein wenig.

 

100 Sekunden (wofür leben)
vom Ensemble
Regie: Christopher Rüping, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Anna Maria Schories, Musik: Camill Jammal, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Katharina Matz, Wiebke Mollenhauer, Michael Goldberg, Camill Jammal.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Lange falle es schwer, den Geschichten zu folgen, "zu viel Text in zu knappen Zeiträumen; zu wenig Interaktion der Schauspieler", schreibt René Hamann in der taz (20.10.2015). Die Leistung des Abends bestehe am ehesten darin, einen geschichtlichen Raum zu öffnen. "Auch hätte man damit rechnen können, dass alles todtraurig wird – oder gezwungen lebensbejahend. Aber traurig war es irgendwie nicht." Fazit: "Mit '100 Sekunden' gelingt es Rüping, die Mittel der Inszenierung auszuschöpfen – das Essenzielle des Stücks selbst verschwindet aber in Redundanz, vielleicht sogar in Gleichgültigkeit."

"Auch wenn die Regel zunehmend aufweicht und die vier Erzähler mutiger gegen die Zähl-Stimme aufbegehren, die Hetzerei wird nicht weniger", so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau (20.10.2015). Die Häufung von Sterbegründen, die wertfrei aneinandergereiht werden, führe einen zu der Frage, ob man wirklich für etwas sterben muss, um sinnvoll zu leben, und das "zum tautologischen Selbstzweck, wie er im entsetzlichen, so feierlaunigen wie verzweifelten 80er-Jahre-Hit 'Live is Life' auf den Punkt gebracht wird." Diesen und andere strunzig-lebensbejahende Musikbeiträge intoniere die Truppe mit derartiger Frohsinnsverzweiflung, dass man schnell das Gefühl habe, da wird sich schon wieder für etwas geopfert – "recht so, im Theater sind Helden noch immer willkommen".

Die Behauptung, hier die ganz großen Fragen und Phrasen zu verhandeln, oder wenigstens zu dekonstruieren, laufe leer, findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (20.10.2015). "Die szenischen Mittel sind bedauernswert kümmerlich. Mit dieser Arbeit bleibt Rüping (...) brutal unter seinen Möglichkeiten." Das liege nicht nur an der gefälligen Ironie und dem Desinteresse an seinen Figuren, "sondern nicht zuletzt an der konfusen Textfassung", und wenn noch Magda Goebbels zur Lachnummer werde, "fragt man sich, ob man sich am Deutschen Theater für gar nichts zu schade ist".

"Rüping kombiniert Böses, Banales und wahrhaft Bewegendes ohne zu werten", so Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (20.10.2015). Wie oft bei ihm gerate das bisweilen etwas ausladend, "es gibt Szenen, die den Ton einer verkicherten Kostüm-Party anschlagen und andere, die zu Tränen rühren. All das steht unkommentiert nebeneinander, so disparat, wie das Leben und das Sterben eben ist." Aber es bleibe, obwohl die Grundidee und die Darsteller überzeugen, doch auch ein bisschen beliebig.

"Wie manipulativ ist das denn?", fragt Anke Dürr auf Spiegel Online (19.10.2015) in Bezug auf den Schluss, wo auf den nun leeren Zuschauersitzen Kerzen aufgestellt werden. Der erste Teil, vor der Ironisierung, habe "schon eine Wucht, und nur das leise Lied, das Mollenhauer und Jammal zwischendurch immer wieder anstimmen, lässt einen ab und zu zum Durchatmen kommen in dieser streng getakteten Hetzjagd des Todes".

 

Kommentare  
100 Sekunden, Berlin: einer der schlimmsten Abende
Leider habe ich den Wechsel von totaler Beliebigkeit der Textauswahl zur Triftigkeit im zweiten Teil verpasst. Tatsächlich rutscht der Abend mit viel Sentimentalität und Kerzen anzünden etwas besser, dennoch wird eine x-beliebige Geschichte weiter an die andere gehängt. Ein junger Pianist spielt dazu mit freiem Oberkörper schön arrangierte Songs von Lady Gaga - von mir aus! Dass der ganze Abend allerdings auf einem pubertären Schülertheater Niveau daher dümpelt, unterschlägt die Kritik. Einer der schlimmsten Abende, die ich seit langem im Theater gesehen habe.
100 Sekunden, Berlin: die Leere ist nicht auszuhalten
Die Spielzeit 2015/16 ist mit Der leere Himmel überschrieben. Leere ist nicht auszuhalten. Leere erzeugt Angst. Überall ist sie spürbar diese Angst – Angst ausgeschlossen zu sein, nicht dazuzugehören. Angst vor Abstieg, Verlust, Bedeutungslosigkeit.
Wenn ich das interpretieren sollte, so stelle ich fest, dass die Intendanz sich dieses sehr zu Herzen genommen hat.
Ich habe nur noch Angst vor der nächsten unerträglichen Vorstellung. Vielleicht wäre ein Intendantenwechsel eine Überlegung, bevor das Deutsche Theater in vollkommene Bedeutungslosigkeit abrutscht?
100 Sekunden, Berlin: Archiv der Popkultur
Was und wie würden eigentlich Theaterregisseure inszenieren, wenn sie sich nicht mehr im nicht endenden Sampel-Archiv von Popkultur und Kino-Geschichte bedienen könnten?
100 Sekunden, Berlin: egozentrisch
Ich hatte am Anfang des 1.Teils das Gefühl schon die schlimmsten Befürchtungen - Countdown setting, das irgendwann von den Protagonisten ob der Schwere der rezitierten historischen persönlichen Schicksale gebrochen wird, ein wildes entgegen setzen von bekannten Figuren aus griechischer, christlicher und orientalischer Mystik/politischer Realität...

Die Neugier, die am Anfang noch da war verflog spätestens beim 2. Teil, der wohl dazu da war, uns die Sinnlosigkeit des Heldenprinzips, gleich welcher Motivation, vor Augen zu führen. Ab da wurde es dann unerträglich zäh und leer.

Der Regisseur erspart sich jegliche Mühe, den patchworkartigen Inhalt dieser 2,5 Stunden!!! mit einer eigenen Wertung oder Position zusammen zu binden und dadurch das Stück über das zu erheben, was WIR (die Zuschauer) schon längst wissen.

Dazu kommt noch, das man auf die Hinterbühne und auf zusammen gewürfelte und befestigte Stühle gesetzt wird und Teile des Textes komplett auf englisch, ohne Übertitel oder Anderes vorgetragen werden. Es geht anscheinend nicht um das Publikum oder um Inhalte, an sonsten wäre mehr Respekt im Spiel und nicht diese egozentrische Lust, Alles folgenlos für sich und seine Selbstdarstellung zu nutzen.

Für wen macht der Regisseur dieses Stück und warum darf er das auf eine Bühne im Deutschen Theater/Kammerspiele bringen?

Diese Fragen und eine große Verärgerung bleiben nach diesem Abend. Der einzige Lichtblick in dieser Farce war die schauspielerische Leistung der Beteiligten, ohne die dies nicht zu ertragen gewesen wäre.
100 Sekunden, Berlin: Verärgerung
Ja, es war schlimm. Zusammenhanglos, spannungslos, sinnlos. Die armen Schauspieler, an denen lag es nämlich nicht. Was steckt dahiner, Eitelkeit der Regie? Unterlaufen Stücke vor der Premiere nicht einem Qualitätstest bei der Intendanz? Fragen über Fragen....und Verägerung.
100 Sekunden, Berlin: Lasst euch nicht beeinflussen!
Liebe Kritiker,
bitte lasst euch beim Verfassen eurer Kritiken nicht weiter davon leiten und beeinflussen, wenn ein meist junger Regisseur von den Theaterbetrieben umworben und vom Theatertreffen noch geadelt ist! Wenn so ein Abend in der Provinz und von unbekannt inszeniert zu sehen sein würde, wäre das der sicherer Garant von eurer Seite dafür, dass der meist junge Regisseur es nicht wirklich nach oben schaffen wird.
Das ist zu durchschaubar, auch weil man euch doch kennt in Berlin und man euch sieht, wie ihr mit langen Gesichtern, wie wir, das Theater verlassen. Oder euch miteinander sprechen und austauschen sieht über den Abend..
Es wäre für den meist jungen Regisseur gar nicht so schlecht, von euch auch immer mal wieder die Leviten gelesen zu bekommen.
100 Sekunden, Berlin: Euphemismus der Zensur?
"Qualitätstest der Intendanz" ???
Ist das Ihr Ernst? Der neue Euphemismus für Zensur und gleichgeschaltete Kunst, vermute ich mal. Da könnte man aus dem Intendanten-Büro gleich ein Politbüro machen.
Und bitte, hören Sie auf mit diesem undifferenzierten Regie-Bashing, sofern sie keine direkte Ahnung haben, wie Probenprozesse am Theater ablaufen. Nebenbei ist das auch eine Bevormundung der Schauspieler*innen, bei denen es sich am DT um erfahrene und gestandene Profis handelt. Die werden sich schon melden, wenn sie nicht hinter der Inszenierung stehen.
100 Sekunden, Berlin: Selbstschutz
ach hänschen! Ja, ist mein Ernst. Und nein, mit "Euphemismus für Zensur und gleichgeschaltete Kunst" hast das nichts zu tun, sondern u.a. mit Selbstschutz des Hauses. Die Regie hätte erneut Gelegenheit zur Selbstüberprüfung durch Diskussion erhalten. Die Schauspieler des DT hatte ich übrigens gar nicht kritisiert, im Gegenteil. Es gab Zuschauer, die sich höchst erbost über "Verschwendung von Lebenszeit" durch den Regisseur äußerten. Das halte ich für sehr problematisch.
100 Sekunden, Berlin: Kaisers neue Kleider
Das Thema hatte mich interessiert, ich war erschüttert, mit welcher Lieblosigkeit der Abend eingerichtet wurde. Des Kaisers neue Kleider. Wenn sich ein Intendant des Deutschen Theaters nicht irren kann, wird ein Kritiker einen Teufel tun, das Stück zu hinterfragen, und vor allem die fehlende Inszenierung.
Und ja, natürlich, liebes Hänschen, genau dafür ist der Intendant eines Theaters da, die Qualität zu kontrollieren und die Reißleine zu ziehen.
100 Sekunden, Berlin: nichts für die Öffentlichkeit
... im Übrigen werden eingebundene Schauspieler*innen sich kaum öffentlich negativ äußern. Klar, oder?
100 Sekunden, Berlin: Intendant in der Endprobe
"Sofern sie keine direkte Ahnung haben, wie Probenprozesse am Theater ablaufen"

also... das trifft dann ja wohl eher auf Sie zu.
Ich kenne keine Endprobenphase, in der NICHT irgendwann die Intendanz drin sitzt.
100 Sekunden, Berlin: gegen die vierte Wand
Am Ende zeigt Christopher Rüping noch einmal, warum er derzeit zu den gefragtesten Regisseuren des deutschsprachigen Theaters gezählt wird. Denn die Darsteller*innen durchbrechen die vierte Wand noch einmal und geleiten die Zuschauer auf deren eigentliche Plätze, wo sich gerade noch – unsichtbar – die Märtyrer versammelt hatten, deren Plätze wir einnehmen. Wo wir eben noch lebten, bleiben leere Stühle, auf welche die Schauspieler*innen Kerzen stellen in der Dunkelheit. Dann herrscht Stille, während wir, die nun in den Schuhen der “Märtyrer” stehen, auf das starren, was deren Opfertod hinterlassen hat. Da ist kein Sinn, da ist keine Befreiung, da ist keine Erlösung, nur Leere und Tod. Es ist ein starkes, seltsam versöhnliches Ende eines Abends, der widersprüchlich bleibt, es vielleicht auch bleiben muss. Liest man den Beginn von seinem Ende her, erscheint die erste Hälfte um einiges stimmiger und stringenter, gerade weil sie mit der Beiläufigkeit spielt, weil sie sperrig ist und viel harmloser erscheint, als sie ist. In seinem zweiten Teil steht sich der Abend dann selbst im Weg, und – welch schöne Ironie – opfert sich der besseren Zugänglichkeit willen. Am Schluss ist er wieder ganz bei sich, weil er uns, das Publikum herausfordert, sich nicht nur ihm, sondern vor allem uns selbst zu stellen, unseren Illusionen und Zynismen, unserer Faszination mit dem selbstgewählten Tod, unserer Heldenverehrung und ihrer dunklen Kehrseite, uns, die wir Märtyrer zu brauchen scheinen und sie deshalb produzieren. Lange, sehr lange, sollten wir starren auf die Leere, die wir hinterlassen haben, die wir vielleicht selbst sind.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/10/20/wir-sind-die-leere/
100 Sekunden, Berlin: gegen Bevormundung
@#8, #9, #10, #11

Also, der Reihe nach.
Wovor muss ein Theater sich "selbst schützen"? Wenn das Verhältnis zwischen Regie und Leitung bereits unter derartigen Gesichtspunkten beschrieben wird, liegt doch schon etwas grundsätzlich im Argen, oder? Und außerdem: was wird schlimmstenfalls passieren? Am DT? Wird es wegen dieser Inszenierung Einbußen in den Auslastungszahlen geben? Ich denke nicht. Ich denke nicht, dass ein*e junge*r Regisseur*in einem Haus wie dem DT so viel "Schaden" zufügen kann, dass im Vorfeld "Selbstschutz" angebracht ist. Gerade diese Rethorik führt an vielen Häusern häufig zu künsterlischen Einschränkungen.
Und sie schrieben, lieber Hans, nicht von "Selbstprüfung durch Diskussion", sie schrieben vom "Unterlaufen" eines "Qualitätstests". Das find' ich etwas anderes.
Ich sagte auch nicht, dass Sie die Schauspieler*innen kritisieren, sondern dass Sie sie bevormunden.
Und was ist probelematisch daran, wenn Zuschauern der Abend nicht gefallen hat und sie von "verschwendeter Lebenszeit" sprechen? Das ist doch Diskussion. Wir reden hier von Theater, von Kunst und nicht von einem Produkt oder einem Verfahren nach Blaupause, Schema F, Handbuch und EU-Richtlinie. Und das bringt mich zu Ihnen, A.Perlinger.
Wie messen Sie "Qualität" im Theater im Vorfeld? Wirklich als ernst gemeinte Frage! Und was bedeutet "Reißleine"? Die Premiere absagen? Sich "aus künstlerischen Gründen" von der Regie trennen? Es ist ganz bestimmt nicht die Aufgabe einer Intendanz 2 Tage vor der Premiere im Durchlauf zu sitzen, zu antizipieren, was dem Publikum gefallen könnte und was nicht, und dann irgendwelche "Reißleinen" zu ziehen. Die Arbeiten der Regie wurden vorher beschaut, es gab Gespräche zu Konzept, Bühne, Besetzung, etc. Das ist nicht so, dass man sich da jemand vollkommen Fremdes ans eigene Haus lädt.
Und wieder zu Hans: warum sollten sich die Schauspieler*innen öffentlich äußern? An einem Haus wie dem DT, wo, denk' ich mal, ein gewisses Selbstbewusstsein im Ensemble herrscht, werden die sich nicht alles gefallen lassen. Das passiert an kleinen Häusern leider noch viel zu oft, stimmt. Aber das gestandene DT? Woher wollen Sie wissen, was genau jene Schauspieler*innen gerne spielen und was nicht?
Und letztens, MPluralis, ich kenne durchaus Endprobenphasen, wo der Intendant NICHT irgendwann drin sitzt. Außerdem war dieser mein Satz bezogen auf dieses vorherrschende Vorurteil, dass da ein spinnerter Regie-Kauz sitzt, der bloß die diskursive Verlängerung seines eigenen Schniedels inszenieren möchte, und die armen, hilflosen Schauspieler*innen zu Dingen zwingt, die ein Mensch mit Verstand und Selbstachtung niemals tun würde. Leider ist das an enigen Häusern tatsächlich hin und wieder so, das hängt dann aber gerade mit einer WIRKLICHEN Fehlleistung der Leitung zusammen. Und außerdem befinden wir uns da, so glaube ich, im Umbruch. Die Diskussion über das allgemeine Verständnis von Arbeit und am Theater und Initiativen wie das Ensemble-Netzwerk zeigen es.
Und abschließend noch mal: wieso besteht bitte der irrige Anspruch auf ein Produkt, das nach Maßstäben der eigenen Qualität produziert zu sein, und das, bei Nichterfüllung dieser Maßstäbe, aussortiert zu werden hat? Wenn Sie ein neues Auto frisch aus dem Werk kaufen und die Bremsen versagen nach 10 km auf der Landstraße und sie müssen den Weg zurücklaufen, das Auto schiebend, das nenne ich Grund zur Beschwerde über das fehlerhafte Produkt und verschwendete Lebenszeit. Aber wir sprechen doch von Theater. Von Streit. Da ist doch Einschränkung und Verhinderung ("Qualutätstest") kontrapriduktiv, oder?
100 Sekunden, Berlin: Dank
Danke für Ihren ausführlichen Beitrag.
100 Sekunden, Berlin: genau lesen
#14
Sie sollten genau lesen. Ich schrieb (wie meine Vorgänger auch) von Intendanz. Nicht von Intendant. Dazu gehören also auch andere als nur die eine leitende Person. Und dass diese sich gänzlich von Endproben fernhalten habe ich tatsächlich noch nicht erlebt. Und fände ich auch äußerst fahrlässig.
100 Sekunden, Berlin: Hinweis auf Lob bei 3sat
3sat-Kulturzeit, "Da, da & da":

"Das neue Format - häppchenweise, in nur 100 Sekunden große Lebensgeschichten kennenzulernen - ist kein Schonprogramm. "100 Sekunden (Wofür leben?)" ist leidenschaftlich gespielt, klug inszeniert. Der Zuschauer wird mitgenommen auf eine existentielle Reise durch das Gewissen. Eine Zumutung, aber eine großartige."

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=54807
100 Sekunden, Berlin: noch eine positive Kritik
Anke Dürr - die Kritiken im Spiegel werden doch sonst immer in der Presserundschau angeführt, oder? - ist ebenfalls sehr angetan von der Inszenierung, dem Regisseur und den Schauspielern.

http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/deutsches-theater-berlin-100-sekunden-wofuer-leben-a-1058474.html

(Vielen Dank für den Hinweis, wir werden die Kritik in der Rundschau noch nachtragen. MfG, die Redaktion)
100 Sekunden, Berlin: Holger Meins + Helmut Schmidt
HOLGER MEINS...
worauf Helmuth Schmidt sagte " unsere Gefängnisse sind ja schließlich keine Erholungsheime." !!!!!!!!!!!!!!!

(Anmerkung der Redaktion, der Korrektheit halber – das Zitat von Helmut Schmidt lautet: "... und darüber hinaus soll ja niemand vergessen, dass der Herr Meins Angehöriger einer gewalttätigen, andere Menschen vom Leben zum Tode befördert habenden Gruppe, nämlich der Baader-Meinhof-Gruppe war. Und nach alledem was die Angehörigen dieser Gruppe Bürgern unseres Landes angetan haben ist es allerdings nicht angängig, sie, solange sie ihren Prozess erwarten, in einem Erholungsheim unterzubringen. Sie müssen schon die Unbequemlichkeiten eines Gefängnisses auf sich nehmen." Siehe z.B. hier: http://www.heise.de/tp/artikel/12/12660/1.html)
100 Sekunden, Berlin: Ironie und Comedy
„100 Sekunden (wofür leben)“: Märtyrer-Clips, Comedy und Kerzen-Kitsch am DT

Auf einem verschlungenen Weg geht es in den Backstage-Bereich der Kammerspiele des Deutschen Theaters, wo recht unbequeme, kunterbunt zusammengewürfelte Stühle bereitstehen, wie man sie eher auf dem Flohmarkt als auf der Theaterbühne vermuten würde. Die vier Schauspieler (Michael Goldberg, Camill Jammal, Katharina Matz und Wiebke Mollenhauer) haben sich unter das Publikum gemischt. Abwechselnd erheben sie sich und stellen das Schicksal eines Menschen vor, der für seine Überzeugung in den Tod ging.

Die Uhr tickt unerbittlich: es bleiben genau 100 Sekunden. Eine Stimme aus dem Off zählt die letzten Sekunden herunter und ruft dann mit schneidender Stimme: „Stopppp!“ Provozierend stehen ganz unterschiedliche Persönlichkeiten völlig unvermittelt nebeneinander: vom Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennnung ein Auslöser der Arabellion war, geht es zum Hungerstreik des RAF-Mitglieds Holger Meins. Der Chef-Archäologe von Palmyra, der im August vom IS geköpft wurde, steht neben Magda Goebbels, die ihren Kindern Gift gab, neben Jeanne d´Arc, die Katharina Matz mit viel zu großem, verrutschendem Helm spielt, neben dem biblischen Abraham, der im Alten Testament Gott seinen Sohn Issak opfern sollte, neben japanischen Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg, neben einem Atomwissenschaftler, der sich nach dem Super-Gau von Tschernobyl verstrahlen ließ, und so weiter und so fort.

In diesem Sammelsurium aus Märtyrer-Clips fällt es nicht weiter auf, dass sich auch die Geschichte des sowjetischen Offiziers Stanislaw Petrow, der die Welt am 26. September 1983 vor dem Atomkrieg rettete, dazwischenschmuggelt. Nach 100 Sekunden kommt der Cut und dann gleich die nächste Geschichte, sofern nicht doch wieder der sakral wirkende Klagegesang dazwischen geschoben wird, in dem Wiebke Mollenhauer und Camill Jammal anscheinend Athena beschwören.

Noch etwas haben diese kurzen Szenen gemeinsam: historische Figuren mit der Autorität von Säulenheiligen wie Friedensnobelpreisträger Mahatma Gandhi werden ebenso ironisch gebrochen wie die schon erwähnte Jeanne d Arc mit ihrem schlecht sitzenden Helm. Im Fall von Gandhi lässt sich Jammal einfach nicht davon abbringen, ihn ständig mit Ben Kingsley zu verwechseln, der für seine Gandhi-Darstellung den Oscar gewann.

All die Überzeugungstäter kann man nicht mehr richtig ernst nehmen: „Die Aufklärung hat mit den Göttern und großen Geschichten gehörig aufgeräumt. Doch nicht nur das fortschreitende wissenschaftliche Zeitalter, sondern auch das Ende des großen Systemwettlaufs zwischen Ost und West hat den Himmel der Überzeugungen, der Utopien und Ideologien entleert“, beklagt der Text im Programmheft zu „100 Sekunden (wofür sterben)“, das den Besuchern in die Hand gedrückt wurde.

Das Ende der Utopien mündet in eine schräge Party. Die Wand wird durchgebrochen, Katharina Matz schlüpft in einen Raumfahrer-Anzug, Camill Jammal wirft sich einen Poncho über, setzt sich Insekten-Fühler aus Plastik auf und spielt am Klavier, auf dem sich Wiebke Mollenhauer im Abendkleid räkelt. Von „Live is Life“ bis „Atemlos“ werden Stimmungshits angespielt. Die gute Laune des Ensembles will aber nicht so recht auf das Publikum übergreifen.

Das Publikum wird am Schluss von der Hinterbühne in die Zuschauerränge der Kammerspiele geführt. Auf jedem leeren Platz wird eine Kerze angezündet. Diesen Abend kann dann auch das kitschige Schluss-Bild nicht mehr retten: Christopher Rüpings jüngste Arbeit am Deutschen Theater verliert sich in Ironie und Comedy.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html
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