Es muss gestorben sein

von Anne Peter

Berlin, 18. Oktober 2015. 100 Sekunden sind verdammt wenig Zeit, um zu erzählen, warum jemand freiwillig in den Tod geht. Immer wieder fährt die strenge Stimme aus dem Megaphon die vier Schauspieler an, wenn sie nicht schnell genug auf den Lebensendpunkt kommen. Da wäre zum Beispiel Mohamed Bouazizi, der sich selbst verbrannte und damit den Arabischen Frühling auslöste. Oder Holger Meins, der gegen das "Schweinesystem" anhungerte und bei 33 kg verstarb. Oder Johanna von Orléans, die an Gottes Seite in die Schlacht zog. Oder der Weißrusse, der nach Tschernobyl in die kontaminierten Gebiete ging, um zu beweisen, dass der Kernreaktor doch ein Segen sei. Und Fatma Al Neijar, die 9 Kinder und 40 Enkel hinterließ und sagte: "Vielleicht ist mein Tod nützlicher, als mein Leben hätte sein können."

Das 100-Sekunden-Limit ist die Spielregel, die Regisseur Christopher Rüping dem Team für seine Sinnsucherstückentwicklung "100 Sekunden (wofür leben)" verordnet hat, bei der die Zuschauer auf Flohmarkt-Style-Stühlen locker auf der Bühne der DT-Kammerspiele verteilt sitzen. Rüping, geboren 1985, ist einer jener jungen Verspielten, die der Theaterbetrieb gerade heftig umwirbt. Thalia Theater Hamburg, Münchner Kammerspiele heißen die Hausnummern. Und eben Deutsches Theater Berlin. In diesem Frühjahr hochkatapultiert zum Theatertreffen (mit dem "Fest" aus Stuttgart), malte er in den DT-Kammerspielen zuletzt mit einer spielwütig ideensprühenden "Romeo und Julia"-Variante den pubertätsradikalen Liebesduselfuror der Shakespeare-Teenager ziemlich hinreißend aus. Apropos Romeo und Julia – auch sie hätten in diesen Reigen hineingepasst, ist doch gegen Ende von einem jungen Liebespaar in Bangladesch die Rede, das sich gemeinsam das Leben nahm, weil sie von den Eltern an einen anderen Mann verheiratet worden war.

Märtyer-Auftürmung

Wofür hier alles gestorben wird! Für die Liebe, für das Vaterland, für den Gott, für die gerechte Sache, die richtige Politik, die Tierliebe, die Schönheit – alles einerlei? Die höchst verschiedenen Einzelfälle und vielfältigsten Motive werden zu einem Beliebigkeitsbrei vermengt – ohne dass sich aus der Auftürmung von Märtyrer-Storys zunächst etwas ergäbe. Es ist eine lange Liste von mal zeitgenössischen, mal historischen, mal der Dramenliteratur oder auch der Bibel entlehnten Schicksalen, die sich bisweilen milde kommentieren oder thematische Schnittmengen bilden, en gros aber vor allem in ihrer Disparatheit auffallen. Das Serielle nivelliert den Einzelfall, und man hält etwas ratlos nach einer Richtung Ausschau.100 Sekunden 560 Arno Declair hDas Singen wird es bringen: Wiebke Mollenhauer, Camill Jammal, Katharina Matz
und Michael Goldberg in "100 Sekunden" © Arno Declair

Doch dann bröckelt die Form, wirft Wiebke Mollenhauer unwillige Blicke gen Megaphon, stockt Katharina Matz ungläubig beim Verlesen des Iphigenie-Opfers, erhebt Michael Goldberg Zeigefinger und Stimme – gegen die Begrenzung, gegen das Ende, gegen das achtlose Hinweggehen über die Tode, die doch nicht umsonst sein sollen. Konfetti rieselt schüchtern, Kostüme kommen ins Spiel, die Komik lockert sich. Sogar ziemlich komisch wird es, wenn die Technik Film-Sound zupumpt, Mollenhauer sich blaue Farbe ins Gesicht schmiert und als Mel "Braveheart" Gibson pathetisch die Faust für die "Freiheit" reckt. Oder wenn Camill Jammal konsequent nicht als Gandhi, sondern als dessen Filmverkörperer Ben Kingsley auftritt. Che Guevara, der gegen die Türken wetternde Papst, Stalingrad-Verfechter, sie alle verschwimmen jetzt in feurigem Ideologie-Aufputschertum.

Spaß und Sinn unterm leergeräumten Himmel

Im zweiten Teil des Abends öffnet sich der Vorhang zu einem wirkmächtig eingenebelten und von Gegenlicht durchfluteten Zuschauerraum. Von dort, wo wir normalerweise Platz nehmen, werfen uns die Schauspieler nun zur Klavierbegleitung Jammals unser Spaßgesellschaftsspiegelbild in Form lebensfroher Songs von "Life is Life" bis "Always look on the bright side..." entgegen.

Aus dem Kontrast zwischen dieser augenverschließenden, sinnentleerten Lebensfreudigkeit einerseits und der einem übergeordneten Höheren entspringenden Todesbejahung andererseits gewinnt die Inszenierung an Triftigkeit. Der 15-jährige Pakistani ist bereit, für die Taliban zu sterben, ein Gleichaltriger in Deutschland würde wohl eher "von einem neuen Fahrrad träumen", heißt es. Und wie hilflos stehen wir vor einer Geschichte wie derjenigen von Sandra, die aus dem Ruhrgebiet nach Syrien aufbricht und ihren Eltern auf der Kinderzimmerwand den Schriftzug "I love IS (Herzchen)" hinterlässt.

Unterm leergeräumten Himmel, wo vor allem die Sterne des Konsumismus zum Greifen einladen, gieren wir nach Helden und Führern, sind verführbar für jene, die noch einen Sinn anzubieten haben. Die konkreten Inhalte sind da, so mag die pessimistische Botschaft des Abends lauten, gefährlich austauschbar. Nur ein immer wieder so schön wie störrisch dazwischenfahrendes Klagelied in fremder Sprache (Schwarmintelligenz, hilf!), das Mollenhauer und Jammal einander zusingen, spendet Trost. Ein wenig.

 

100 Sekunden (wofür leben)
vom Ensemble
Regie: Christopher Rüping, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Anna Maria Schories, Musik: Camill Jammal, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Katharina Matz, Wiebke Mollenhauer, Michael Goldberg, Camill Jammal.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Lange falle es schwer, den Geschichten zu folgen, "zu viel Text in zu knappen Zeiträumen; zu wenig Interaktion der Schauspieler", schreibt René Hamann in der taz (20.10.2015). Die Leistung des Abends bestehe am ehesten darin, einen geschichtlichen Raum zu öffnen. "Auch hätte man damit rechnen können, dass alles todtraurig wird – oder gezwungen lebensbejahend. Aber traurig war es irgendwie nicht." Fazit: "Mit '100 Sekunden' gelingt es Rüping, die Mittel der Inszenierung auszuschöpfen – das Essenzielle des Stücks selbst verschwindet aber in Redundanz, vielleicht sogar in Gleichgültigkeit."

"Auch wenn die Regel zunehmend aufweicht und die vier Erzähler mutiger gegen die Zähl-Stimme aufbegehren, die Hetzerei wird nicht weniger", so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau (20.10.2015). Die Häufung von Sterbegründen, die wertfrei aneinandergereiht werden, führe einen zu der Frage, ob man wirklich für etwas sterben muss, um sinnvoll zu leben, und das "zum tautologischen Selbstzweck, wie er im entsetzlichen, so feierlaunigen wie verzweifelten 80er-Jahre-Hit 'Live is Life' auf den Punkt gebracht wird." Diesen und andere strunzig-lebensbejahende Musikbeiträge intoniere die Truppe mit derartiger Frohsinnsverzweiflung, dass man schnell das Gefühl habe, da wird sich schon wieder für etwas geopfert – "recht so, im Theater sind Helden noch immer willkommen".

Die Behauptung, hier die ganz großen Fragen und Phrasen zu verhandeln, oder wenigstens zu dekonstruieren, laufe leer, findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (20.10.2015). "Die szenischen Mittel sind bedauernswert kümmerlich. Mit dieser Arbeit bleibt Rüping (...) brutal unter seinen Möglichkeiten." Das liege nicht nur an der gefälligen Ironie und dem Desinteresse an seinen Figuren, "sondern nicht zuletzt an der konfusen Textfassung", und wenn noch Magda Goebbels zur Lachnummer werde, "fragt man sich, ob man sich am Deutschen Theater für gar nichts zu schade ist".

"Rüping kombiniert Böses, Banales und wahrhaft Bewegendes ohne zu werten", so Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (20.10.2015). Wie oft bei ihm gerate das bisweilen etwas ausladend, "es gibt Szenen, die den Ton einer verkicherten Kostüm-Party anschlagen und andere, die zu Tränen rühren. All das steht unkommentiert nebeneinander, so disparat, wie das Leben und das Sterben eben ist." Aber es bleibe, obwohl die Grundidee und die Darsteller überzeugen, doch auch ein bisschen beliebig.

"Wie manipulativ ist das denn?", fragt Anke Dürr auf Spiegel Online (19.10.2015) in Bezug auf den Schluss, wo auf den nun leeren Zuschauersitzen Kerzen aufgestellt werden. Der erste Teil, vor der Ironisierung, habe "schon eine Wucht, und nur das leise Lied, das Mollenhauer und Jammal zwischendurch immer wieder anstimmen, lässt einen ab und zu zum Durchatmen kommen in dieser streng getakteten Hetzjagd des Todes".

 

mehr nachtkritiken