Presseschau vom 21. Oktober 2015 – Frank Castorf im Interview mit den Stuttgarter Nachrichten und mit der Stuttgarter Zeitung über totalitäre Kunst, Bert Neumann und die Nach-Volksbühnen-Zeit

"Dazu bin ich zu asozial"

"Dazu bin ich zu asozial"

21. Oktober 2015. Anlässlich von Frank Castorfs am 22. Oktober stattfindender Premiere am Schauspiel Stuttgart hat Nicole Golombek von den Stuttgarter Nachrichten (19.10.2015) mit dem Chef der Berliner Volksbühne gesprochen – über große russische Literatur, sein Intendanz-Ende am Rosa-Luxemburg-Platz und die Hoffnung, die Vegard Vinges 24-Stunden-Theater bedeutet.

Angesprochen auf die Tendenz aktueller Theaterarbeit, die sich, so Golombek, "in den Dienst tagesaktueller Aufklärung" stelle, indem sie z.B. Flüchtlinge auf die Bühne bringt, meint Castorf, es sei zurzeit "eine Inflation des Mittelmaßes zu erleben und der Scheindemokratie. Es kann nicht jeder alles. Kunst ist nicht demokratisch, Kunst ist totalitär." Dass man etwas können müsse, um Kunst zu machen, gerate auch bei Kulturpolitikern gern in Vergessenheit. "Alles, was Inseln abschottenden Denkens widerspiegelt, kann ich mit Shakespeare sagen, da muss ich mir nicht schlechte Texte von syrischen Originalquellen geben lassen." Man müsse "Konkretes ab-strahieren, um wieder in einer anderen Form verständlich zu werden und zu einer Synthese zu kommen. (...) das ist ein bisschen aus dem modischen Zeitfenster gerückt, das weiß ich."

Bert Neumann "ist die andere Hälfte von mir gewesen"

Danach befragt, was er nach dem Ende seiner Volksbühnen-Intendanz 2017 tun werde, sich zur Ruhe setzen oder wieder ein Haus zu leiten, antwortet Castorf: "Ich bin schon eher durch Zufall zu dem jetzigen Haus gekommen. Ich bin durch meinen Freund Ivan Nagel dazu gedrängt worden, und ich wollte nur kurz an der Volksbühne bleiben, um dann zu meinem Freund Dieter Mann ans Deutsche Theater zurückzugehen. Na ja. Aus dem, was ich verspreche, wird meistens nichts." Um "ein Haus zu übernehmen, dazu bin ich zu asozial." Er werde wohl eher wieder "als armer jüdischer Mensch zur nächsten Verwandtschaft schnorren gehen". Der Tod Bert Neumanns sei "ein sehr trauriger Moment" für ihn gewesen. "Aber er war auf dem Höhepunkt seines Schaffens, und er war so bei sich und ist so produktiv von mir gegangen. Er ist wirklich die andere Hälfte von mir gewesen. Und wenn die weg ist, ist es richtig, wenn auch etwas wie die Volksbühne für mich zu Ende geht."

Es störe ihn nicht, wenn in seinen  Inszenierungen die Zuschauer auch mal kurz einschliefen. Es sei "fast ein bisschen pathologisch, dass ich nicht aufhören kann. (...) ich glaube an Überforderung. Daran, dass man merkt, dass das Medium anders ist und sich nicht an den Formaten des deutschen Fernsehens orientiert. Das ist der Tod, und das gab es früher nicht." Er beobachtet allerdings "auch eine Bewegung, sich der Konvention zu widersetzen", wofür er auf Vegard Vinge verweist, der "bei mir einen 24-Stunden-Ibsen gemacht" hat. "Ich bin nicht optimistisch, aber zuversichtlich, dass es Aufbrüche geben wird. Nach einer langen Trauerzeit, einer bleiernen Zeit kommt immer etwas andres. Unsere bleierne Zeit ist im Moment bunt angemalt, aber darunter ist viel Tristesse."

(ape)

 

In der Stuttgarter Zeitung spricht er mit Roland Müller (21.10.2015) über den "Luxus" des Theatermachens:  "Schiller spricht vom 'zweckfreien Spiel', für Marx ist Kunst generell eine Modellfall freier geistiger Arbeit. Das heißt: ich bin hier keiner Zweckgebundenheit, keiner Abhängigkeit, keiner Entfremdung ausgeliefert. Zusammen mit meinen Schauspielern versuche ich immer wieder, diese luxuriöse Sphäre auch auszuleben – als Gegengewicht zu Auflagenhöhe und Einschaltquote, dieser politisch sehr korrekten Weise, das öffentliche Bewusstsein außerhalb des Theaters zu strukturieren. Dieses Bewusstsein aber interessiert mich nicht. Ich kann 'Neger' und 'Jude' sagen, weil ich weiß, dass ich kein Rassist bin. Ich halte mich nicht an die Spielregeln, die mir eine amerikanisierte Gesellschaft vorgeben will."

Außerdem preist er Angela Merkel ("vielleicht das Beste ist, das Deutschland derzeit passieren konnte") , spricht über Außenseitertum ("Wenn ich den Tod mittels Kunst überwinden will, kann ich das nur im Angriff auf gesellschaftliche Verhältnisse tun, die dem Einzelnen potenziell feindlich gegenüber stehen.") und die Volksbühne ("Wir müssen die Hand beißen, die uns das Brot gibt – das ist unsere Pflicht!").

(geka)

 

Mehr zu Frank Castorf und seiner Theaterarbeit im entsprechenden Lexikoneintrag.

Mehr zur heftigen Diskussion um seine Nachfolge als Chef der Volksbühne ist in dieser Chronik des Berliner Theaterstreits zusammengetragen.

 

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