Neigungswinkel der Kapitalismuskritik

von Martin Pesl

Wien, 22. Oktober 2015. Dieses Teil. Es hängt an vier strammen Seilzügen an der Decke. Es besteht aus gebogenen Holzbrettern. Eine Sitzbank, ein paar Stühle und Tische sind daran fixiert. Es kann gehoben und gesenkt, aber auch schräg oder sogar fast senkrecht gestellt werden. Es will der Star des Abends sein. Deshalb hat es vielleicht Lampenfieber und zappelt, wechselt fahrig die Position, wann immer jemand drunter muss, um zu lauschen, oder wenn es den Menschen darauf zu steil wird. Dieses Teil ist die Bühne. Das Burgtheater hat seinen Hausregisseur von vor 15 Jahren, Andreas Kriegenburg für eine Inszenierung von Maxim Gorkis "Wassa Schelesnowa" nach Wien zurückgeholt.

Hysterische Langeweile

Die an Seilzügen befestigte Bühne erinnert in ihrer Beweglichkeit auf den ersten Blick an Kriegenburgs großen Münchner Erfolg Der Prozess. Auch wenn das Bühnenbild diesmal nicht von Kriegenburg sondern von Harald B. Thor stammt. Damals in München wurde den Schauspielern permanent akrobatische Anpassung an die unersättlichen Kapriolen eines gigantischen Auges abverlangt.

Wassa2 560 Georg Soulek u Auf schwankendem Grund: Russische Provinzler in Weiß und die aus der Stadt angereiste Tochter des Hauses (Andrea Wenzl) in Gelb  © Georg Soulek

Jetzt in Wien sieht es nie nach Anstrengung aus. Einmal schnallt Sabine Haupt sich umständlich ein Geschirr um und seilt sich ab. Als brave haushaltsführende Verwandte im Hause Schelesnow macht sie mit Dienstmädchen Alina Fritsch eingangs Ordnung und legt Leintücher zusammen, auf denen sich wie zufällig im Zwischentitelstil ein Dialog entfaltet. "Du Huhn!" "Oh je!"

Das Kostümbild erinnert ebenso wie viele Stummfilmanspielungen an das frühe 20. Jahrhundert, aus dem die hier gespielte Erstfassung des Stückes stammt. Je nach Möchtegernstatus hat Andrea Schraad die russischen Provinzler in Schmutzigweiß-Abstufungen gekleidet, sodass Andrea Wenzl als aus der Stadt angereiste Tochter von Welt in ihrem limettenen Kleid geradezu einen Farbfleck bildet. Sie wurde von der Mutter, der titelgebenden Wassa, heimgeholt, da der Vater schwerkrank ist und der Onkel (Peter Knaack) droht, nach dessen Ableben seine Geldmittel aus dem Familienunternehmen wieder zu entfernen. Das will Wassa verhindern, bis sie es aber tut, vergeht eine lange Zeit des Leidens, des Jammerns und der hysterischen Langeweile, bekannt vor allem vom Kollegen Tschechow. Eine Stunde dauert der erste von drei Akten, der ausschließlich der Exposition dient: Wer? Wie? Was?

Impulsartig aufbrechende Fummeleien

Also: Sohn Semjon hatte mit dem Dienstmädchen ein Kind, aber das wurde getötet; das gemeinsame Kind mit seiner Frau Natalja ist krank, sie selbst (Frida-Lovisa Hamann) etwas gaga: übertragene Geschlechtskrankheiten. Der andere Sohn Pawel (Tino Hillebrand) hat einen Buckel, der der Mutter wohlgesinnte Verwalter (Dietmar König) hat ihm seine Tochter zur Frau gegeben, aber die ekelt sich vor ihm, und so weiter. Matriarchin Wassa selbst? Ist bei Christiane von Poelnitz ein zwar immer wieder mal nah am Wasser gebautes, insgesamt aber sehr kalkuliert agierendes Familienoberhaupt. Als sie am Ende alles Geld hat und ihre Söhne los geworden ist (den einen mit dem Hamlet'schen "Geh ins Kloster!"), dräut plötzlich das schlechte Gewissen.

Wassa3 560 Georg Soulek u Gebogene Bretter mit schwebenden Figuren: Aenne Schwarz (Ljudmila), Andrea Wenzl (Anna)
© Georg Soulek

Was genau den Regisseur an dieser Urfassung interessiert hat, ist schwer auszumachen. Wie die seekrank umherschaukelnde Bühne scheint er sich nie für einen Neigungswinkel entscheiden zu wollen. Kapitalismuskritik, wie sie den Autor einst beschäftigte, erschöpft sich in der simplen Feststellung, dass es allen nur ums Geld geht. Seinen Figuren oktroyiert Kriegenburg irritierende Manierismen auf, lässt sie manchmal erst ein paar Sekunden glucksend über die Schaukel stapfen oder stottern, bevor sie Sätze sagen dürfen. Impulsartig aufbrechende Fummeleien der Anwesenden an sich und aneinander legen mannigfaltige innerfamiliäre Inzestgelüste in dieser Familie nahe, die den einzelnen Charakteren aber eher an Substanz rauben, als sie mit Geheimnis zu füttern.

In die Lächerlichkeit

Martin Vischer als Semjon und Aenne Schwarz als Schwiegertochter Ljuda, das Luder, sind die Einzigen, deren Darstellung der flatternde Irrsinn ganz guttut. Bei den anderen entstehen Szenen mit einer gewissen Dichte vor allem im zweiten Akt, wenn sie das Scharwenzeln vergessen und einfach auf ihr Spiel vertrauen. Tino Hillebrands Pawel, der Krüppel mit der steifen Schulter, wird so zu einem wahrhaft erbarmungswürdigen Liebenden, dem aber verwehrt ist, recht zu wissen, was Liebe ist.

Zum Ende hin zerfasert dann alles in die Lächerlichkeit, die eingangs so heiter zur Schau gestellt wurde. Nicht einmal Wassa ist dann noch ernst zu nehmen. "Ich habe Mitleid mit ihnen, wenn ich sie ruiniere", erklärt sie ihrer neuen Frauenkommune, die unverhofft entstanden ist, nachdem das steile Holzbretterdings als letzten Mann auch den netten Verwalter abgeworfen hat. Ist das steile Teil im letzten Moment also doch noch richtig zum Einsatz gekommen.

 

Wassa Schelesnowa
von Maxim Gorki
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Harald B. Thor, Kostüme: Andrea Schraad, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Eva-Maria Voigtländer
Mit: Alina Fritsch, Frida-Lovisa Hamann, Sabine Haupt, Tino Hillebrand, Peter Knaack, Dietmar König, Christiane von Poelnitz, Aenne Schwarz, Martin Vischer, Andrea Wenzl
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"Der wahre Held dieser Inszenierung ist die Bühne," schreibt Ronald Pohl in der Wiener Tageszeitung Der Standard (24.10.2015). "Zur Welle erstarrt, hängt ein mächtiges, hölzernes Floß an vier Seilen aus dem Schnürboden herab. Der Boden ist uneben. Um ein Geringes nach vorne gekippt, zwingt er Gorkis Hysteriker dazu, auf dem Hosenboden nach unten zu rutschen. Die Damen Schelesnowa (...) drehen an den Seilen der Aufhängung wunderschöne Pirouetten." Doch hat sich der Kritiker "bald sattgesehen an diesem Wunderwerk der Ausstattungskunst". Denn "abgesehen von diesen Schauwerten ist Regisseur Andreas Kriegenburg die Inszenierung unter den Fingern zerflossen". Die Stile bleiben aus seiner Sicht ungeklärt, "die Beziehungen flüchtig erzählt, die szenischen Mittel unverbunden".

Andreas Kriegenburgs Inszenierung wandelt aus Sicht von Barbara Petsch von der Wiener Tageszeitung Die Presse (24.10.2015) "auf den Spuren privater Dramen" wie 'Die Katze auf dem heißen Blechdach' von Tennessee Williams oder 'Eine Familie' von Tracy Letts. Kriegenburgs kompakte Regieführung überzeugt sie, wirkt auf sie "aber teilweise auch spröde. Zum Lachen gibt es nicht viel, seriös sitzt jede Geste, und doch werden nicht die jetzt so modischen Kunstfiguren vorgeführt".

"Kriegenburg gelingen faszinierende Bilder", schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.10.2015), "wenn er die Schwebebühne in die Höhe fahren und darunter die Drehbühne mit dem sterbenden Patriarchen kreisen lässt, während die Schauspieler im Hintergrund vorbeischnüren wie unheimliche Boten, die weder ihren Auftrag noch ihr Ziel kennen." Gorki treibe Machtkämpfe, Intrigenhandlung und Liebeswerben in Zweierbegegnungen voran, die Kriegenburg oft ganz ähnlich choreographiere.

"Zweieinhalb Sternstunden eines atemraubenden Ensembles", schreibt Hans Haider in der Wiener Zeitung  (24.10.2015). "Die zehn Akteure sausen wie Insekten über das rohe Gerüst in Kleidern von Andrea Schraad, weiß, reich verziert, in wunderbaren Nuancen. Gleich erstarrt die Szenerie zum Familienfoto. Bilder zum Sich-daran-Vollsaugen. Gewiss ein Übermaß an akrobatischer Manier und Moskauer Avantgardereminiszenzen. Ermüdung? Die hält konzertierte allerfeinste Schauspielkunst hintan."

"'Wassa Schelesnowa' ist Andreas Kriegenburgs erste Inszenierung am Burgtheater seit mehr als 14 Jahren", weiß Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (26.10.2015) und erinnert sich: "Am Beginn der Direktion Bachler war er zwei Spielzeiten lang als fester Regisseur am Haus engagiert, ohne mit der Stadt und dem Theater so recht warm zu werden. Er ist immer noch nicht angekommen." Nun: Christiane von Poelnitz in der Titelrolle der Wassa spiele statt der eiskalten Matriarchin eine "durchaus mütterliche Frau, die im Bestreben, den Familienbetrieb am Leben zu erhalten, halt leider ein paar unfähige Männer beseitigen muss". "'Wassa Schelesnowa' als schwarze Komödie und perverses Emanzipationsstück? Das wäre eine interessante Lesart", so Kralicek, die Kriegenburg aber "nicht konsequent genug" verfolge. Die Bühne wirke sich kontraproduktiv aufs Spiel aus, und wenn die Inszenierung nach der Pause auf einmal Richtung Tragödie steuere, sei es dafür "längst zu spät".

 

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