Ab ins Berghain

von Christian Rakow

Berlin, 24. Oktober 2015. Hören Sie mal in diesen Elektrosong rein: "The game is not over". Wenn Sie sagen: Oh ja, das ist meines, das klingt nach Dark Room, stickiger Luft, Berlin Berghain, Stroboskop, Plastiksex, endloser Sehnsucht, endloser Gier, Höhenrausch, tiefem Fall, Leere nach dem Kick, Verlorenheit, so was, dann sind Sie mutmaßlich die Zielgruppe dieses Abends (und man würde womöglich eher "Ihr" statt "Sie" sagen).

Und dann muss man warnen: Bis Ihr beim Elektrobeat-Gefühlsflipper ankommt, geht's in Nurkan Erpulats neuem Abend am Berliner Maxim Gorki Theater "Die juristische Unschärfe einer Ehe" durch einige Filter. Erpulat greift zu einem Roman von Olga Grjasnowa, der vergleichsweise wenig szenisches Fleisch bietet, stattdessen viel Erzählerbericht, und also zum frontalen Monologisieren einlädt. Viel Prosa in der dritten Person mithin, viel Rumstehen, Distanzen zwischen den Spielern. Zum Protagonisten wird das Mikrophon, dem man seinen Erzählstoff anvertraut.

In der Solotanz-Disconebelwolke

Einmal durchstößt Mehmet Ateşçi die Solotanz-Disconebelwolke um die Figuren und chargiert hinreißend komisch eine Drag Queen aus der Berliner Nachteulenszene. Aber ansonsten herrscht ein fast schon heiliger Ernst, im Nachgang der selbstredend gestrafften und um viele schöne Szenenschnitte beraubten Grjasnowa-Fabel.

Juristische Unschaerfe3 560 Ute Langkafel uBerghain-Gestalten an trostlosen "Joy"-Lettern: Mehmet Ateşçi, Lea Draeger (Leyla), Taner Şahintürk (Altay) und Mareike Beykirch © Ute Langkafel

Der Stoff ist quasi Berghain pur. Leyla wurde an der Moskauer Ballett-Kaderschmiede des Bolschoi auf Primadonna gedrillt und liebt Frauen. Ihr Ehemann Altay ist Psychiater und schwul. Keine guten Startbedingungen in einem Land, das meint, Schwule "umerziehen" oder "umpolen" zu müssen. Gemeinsam gehen die beiden nach Berlin und leben eine juristisch (eigentlich wohl eher: ethisch) unscharfe Ehe, sprich: haufenweise bindungsloser Sex mit wechselnden Partner*innen, eingehegt durch platonische Zweisamkeit im Eheleben. Im Finale des Buches geht es zurück nach Baku/Aserbaidschan, in Leylas Herkunftsland, wo die gestürzte Ballerina das Road Movie sucht und Altay die schwule Subkultur.

Trostlos blinkt die Freude

Erpulat streut Sounds und Videos, spielt Bilder von Berlin wie von Baku ein, giert nach Atmosphäre. Aber der Abend bleibt seltsam spröde und statisch. Der west-östliche Trip schildert nur die geographische Verrückung einer labilen Ménage à trois (mit wechselnden Gespiel*innnen). Erpulat sucht Konturen: In den Erzählungen über die postsowjetische Disziplinarwelt springen die vier Spieler*innen (Mehmet Ateşçi, Mareike Beykirch, Lea Draeger, Taner Şahintürk) gegen eine stilisierte Zellenwand; in Berlin und Baku öffnet sich der Raum zum Gerippe eines Jahrmarkts. "Joy", Freude, steht in großen, trostlos blinkenden Lettern über dem Berliner Szenario. Gesucht ist die Landschaft einer erfüllungslosen, ortlosen Sehnsucht im langen Schlagschatten der Diktaturen. Eigentlich eine Installation, keine Erzählung.

Wenn man nun nicht ganz zur Zielgruppe des Abends gehört (er wird seine Fans finden, die durch alle Filter durchdringen), dann steht man etwas distanziert vor dem Ganzen. Dann denkt man an den letzten Grjasnowa-Text am Gorki Theater zurück, an die so lässige wie spielwütige, boulevardesk zuspitzende, komische und doch emotional anfassende Romanadaption Der Russe ist einer, der Birken liebt von Yael Ronen. Und man hört an diesem Abend die kurzen politischen Invektiven von Mehmet Ateşçi in der Rolle eines schwulen aserbaidschanischen Politiker-Sohns ("Der Diskurs über Homosexualität ist eine Waffe des Westens gegen den Osten."), und sagt sich: Um wie viel offener, bissiger, persönlicher, konfrontativer hatte das Gorki solche Diskurse in Falk Richters Small Town Boy (in der unvergessenen Suada von Thomas Wodianka) aufgespießt. Und überhaupt fragt man sich, warum riecht das hier alles so nach der Literatur fürs Berlin der 1990er Jahre? Und man denkt, die Filter, die dieser Abend hat, die sind für mich gar keine Filter, die sind schon dichte Vorhänge, oder gar Trennwände.

 

Die juristische Unschärfe einer Ehe
nach dem Roman von Olga Grjasnowa
in einer Textfassung von Nurkan Erpulat
Uraufführung
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Pieter Bax, Musik: Valentin von Lindenau / kling klang klong, Video: Sebastian Pircher, Bewegungschoreographie: Nir de Volff, Dramaturgie: Daniel Richter.
Mit: Mehmet Ateşçi, Mareike Beykirch, Lea Draeger, Taner Şahintürk.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Olga Grjasnowas Roman porträtiere "eine Generation junger Wanderer zwischen Ost und West, die in dem doppelten Dilemma stecken, sich einerseits von den repressiven Strukturen der Herkunftskultur emanzipieren zu wollen, im Westen aber andererseits zu bemerken, dass ihnen diese Kultur buchstäblich in den Knochen steckt", so Eva Behrendt für Deutschlandradio Kultur (Fazit, 24.10.2015). Erpulat ziehe für seine Inszenierung "ästhetisch alle Register: Formstrenge Szenen (...) gehen über in bildüberflutete Videoclipsettings, von lauten Beats getriebene Clubszenen stehen neben minutenlang ausgehaltener Ruhe". Immer wieder switche der Abend "von Pathos zu Satire zu Melancholie. Zusammengehalten werden diese extremen atmosphärischen Wechsel von den vier starken Gorki Spielern (...). Ihre souveräne, freie Haltung beglaubigt sämtliche Gefühlsachterbahnen, die das Theater hier manchmal etwas oberflächlich behauptet." Eine insgesamt "sehr körperliche und sinnliche Inszenierung".

Bei aller oberflächlichen Texttreue gehe es der Inszenierung nicht um eine möglichst lineare Umsetzung von Olga Grjasnowas Roman, diagnostiziert Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel (26.10.15). Sondern die Spieler nutzten die Vorlage, "um die wie im Stroboskopblitz ihrer Erfinderin aufscheinenden Szenen vollends zu dekonstruieren". In dem Maß, "wie die längliche Exposition sich erledigt auf der Reise von Berlin nach Baku", finde der Abend in seine "faszinierend stille Mitte". "Die Schauspieler spielen sich die Seele aus dem Leib und den Leib aus der Seele, bis sie aus erotischer Erdenschwere in paradiesische Körperlosigkeit zu entschweben scheinen."

"Enthusiastisch und wirkungsorientiert" findet Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (26.10.2015) den "Bilderbogen", den Nurkan Erpulat dem Grjasnowa-Roman abgewinnt, einem Roman, der selbst "ein rasantes, welthaltiges, kalkuliert oberflächlich bleibendes Bilder- und Szenenflackern" sei. Die "Sucht nach Desorientierung bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Geborgenheit", die der Roman produziere, "kann die Inszenierung nicht vermitteln. Es wird nicht gespielt, sondern mit viel Elan und Einsatzfreude planmäßig Ausgedachtes vorgemacht"; die "Spieler verbiegen sich, schwitzen, speisen Leidenschaft und dann wieder Ironie ein, klatschen aufeinander, kriechen ineinander, flicken Klischees zusammen, um sie wieder zu zerdöppern."

"Nurkan Erpulat verwendet große Teile des Originaltextes, am Ende ist man fast ein bisschen verwirrt, man hat irgendwie das Gefühl, man hätte gerade das ganze Buch vorgetragen bekommen", schreibt Hannah Lühmann in der Welt (26.10.15). Das Tolle an Grjasnowas Buch sei seine "strahlende Subtilität". "Dass es diese Geschichte so klar und streckenweise brutal erzählt, dass es nie wirkt, als wolle die Autorin eine These über Herkunft, Identität und Polyamorie illustrieren." Auf der Bühne passiere "etwas Merkwürdiges", so Lühmann: "Statt vom Begehren der jungen Menschen zu erzählen und den Zuschauer mitzureißen, wird das Stück zur unnötigen Veranschaulichung."

Nurkan Erpulat breche in seiner Bühnenfassung die Struktur des Romans auf, arrangiere Szenen um und streiche das Happy End, schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (28.10.2015). "Die Lakonie der Vorlage geht dabei verloren." Aber es entstehe "das kraftvolle Porträt einer heimatlosen Generation". Die vier Schauspieler spielten "ungeschützt und voller Energie", so Meiborg. "Atemlos geht es hier durch die Nacht, Berghain inklusive."

"Die Inszenierung feiert die Dekadenz, die Körperlichkeit, die Abgründe, die Polyamourie, die Insignien der LGBT-Gemeinden. Am Schluss aber bleibt nicht viel mehr als sinnlose Leere", schreibt René Hamann in der taz (28.10.2015). Könne sein, "dass schon der Roman von Olga Grjasnowa mehr heruntererzählt, als dass er irgendetwas Erhellendes bietet". Nurkan Erpulat jedenfalls mache "Theater, wie Theater heutzutage wohl aussehen muss. Es gibt Tanz (aber natürlich nur ironisch), Video, Gymnastik, Gesangseinlagen, das monologisierende Mikrofon, das von Figur zu Figur gereicht wird." Es gebe schon auch "wirklich Momente in diesem Stück, Momente, die Räume aufmachen". Aber dann traue sich die Inszenierung nicht, diese Räume auszuleuchten, "über die Selbstfeier einer Nonkonformität a priori hinaus eine Reflexionsebene zu schaffen".

 

Kommentare  
Unschärfe einer Ehe, Berlin: Trennwände
ja. stimmt so auch für mich.
Zur letzten Frage: Ich glaube es liegt daran, dass die Regie noch in dieser Zeit lebt und diese Auseinadersettzung 2015 in Deutschland auch noch nciht überwunden hat... Wenn an diesen Abend in Izmir spieln lassen würde: WOW!
Und was die Trennwände betreffen: Minderheiten (...) niegen sehr oft dazu, selbst so zu handeln, wie es die tun, von denen sie sich ausgegrenzt fühlen: ausgrenzen... Siehe Positivrassismus... Auch eine Bewegung am Gorki, die mich etwas irritiert...
Unschärfe einer Ehe, Berlin: immerhin was anderes versucht
Hört sich sehr danach an, als ob Herr Rakow noch nie im Berghain war.
Also der abend schläft ja auch schon beim Spielen ein. Und es gibt wieder ne Drehscheibe für Herrn Erpulat und Video.

Immerhin wurde mal ästhetisch was anderes versucht.
Juristische Unschärfe einer Ehe, Berlin: Frage
Zu 1: Positivrassismus? In welcher Form? Irritiert sie das Gorki grundsätzlich oder ist das wieder mal eine hohle Anti Gorki Haltung, hohl, weil null belegt?
Die juristische Unschärfe..., Berlin: Kritik der Kritik
Ich liebe ja dieses „alte“ Medium Theater Christian Rakow, vor dem sie mich hier, in Form dieses Abends warnen wollen, und ich gehöre, schon auf Grund meines Alters, nicht zu der von ihnen beschriebenen Zielgruppe. Zudem suche ich auch nicht, wahrscheinlich genau so wie sie, das Berghain pur, wenn ich ins Gorki gehe. Da ginge ich dann wohl lieber direkt in jenen Club, denn ich ziehe die Realität, wenn es um Tanzen, Sex und Elektrobeat geht, dem Theater vor. Und mit etwas Mühe würde ich wahrscheinlich sogar noch dort eingelassen, trotz meiner mehr als fünfzig Jahren. Nur kann ich einfach nicht erkennen, dass diese Inszenierung von Nurkan Erpulat nach Atmosphäre im Stile eines Clubs gierte. Eher das Gegenteil war der Fall. Und so muss man wohl diesen übergroßen Schriftzug Joy anders, als Kritik an dieser stickigen Darkroom Atmosphäre mit Stroboskop, Plastiksex, endloser Sehnsucht, endloser Gier, Höhenrausch, tiefem Fall, Leere nach dem Kick, Verlorenheit usw. verstehen, denn keines Falls versucht Erpulat das Berghain auf die Gorki Bühne zu kopieren, um mit dem Ruhm dieses weltberühmten Clubs zu wetteifern. Das wollten sie wohl bewusst missverstehen, um dem Haus trendigen Unfug nachzusagen.

„Einmal durchstößt Mehmet Ateşçi die Solotanz-Disconebelwolke um die Figuren und chargiert hinreißend komisch eine Drag Queen aus der Berliner Nachteulenszene“. Das ist es also, was sie sehen wollten und erwarteten, hinreißend komische Schwulen-Nummern. Da wären sie wohl in einem Transen-Cabaret besser aufgehoben gewesen. Vielleicht ist es ja umgekehrt: sie kommen als Zielgruppe einfach nicht in Frage, weil sie mit den falschen Erwartungen an einen solchen Abend herangehen, Erwartungen, die man früher im Chez Romy Haag leicht erfüllt bekam, lang ist´s her. Aber eben nicht so schnell an einem Theater, dass eher, zumindest in diesem Fall, einen kritischen Zugang zu Themen wie Homosexualität und Rassismus suchte. Da waren sie wohl in doppelter Hinsicht am falschen Ort, sowohl nicht im Berghain, wie auch nicht in einer Cabaret Show. Was kann man da nur machen? Wo schickt man sie da hin,wenn nicht gleicht direkt in die Theaterhölle zum schmerzhaften Durch garen ihrer trüben Sinne? Ach, wissen sie was, gehen sie doch einfach in eine Schwulenbar direkt bei ihnen um die Ecke und lassen sie sich dort beraten, zu welcher Zielgruppe sie gehören könnten, denn im Gegensatz zu ihnen, war ich in einem Abend, der schwule und auch lesbische Lieben kritisch würdigte, und eben nicht das Berghain abfeierte. Sicherlich wirkte einiges etwas steif, nicht so ausgelassen, wie sie sich das gewünscht hätten, und schnell spielen sie hier Erpulat gegen Ronen und Falk Richter aus. Wie unfein! Sie legen das Gorki auf ein Label fest. Spielwütig, boulevardesk, zugespitzt, komisch und doch emotional anfassend soll es sein. Mehr noch: viel offener, bissiger, persönlicher, konfrontativer! Da haben sie das Haus ja schon ganz schöne auf ein Label festgeschrieben. Aber sind sie sich sicher, dass all dies auch der Roman, den sie übrigens nicht wirklich besprechen und in ein Verhältnis zu der Inszenierung setzen, dass dieser Roman von Olga Grjasnowa das alles wirklich hergibt. Eher nicht möchte ich meinen. Aber für jemanden, der sich fragt, warum das alles eigentlich so nach Literatur riecht, wohl eine nachgeordnete Frage.

Und doch, wahrscheinlich roch es nach Literatur, weil es um Literatur ging. Igitt! Und das an einem Theater, wo doch sonst alle so „saugeil“ an der Rampe rumspringen, dass das Kritikerherz höher hüpft.
Die juristische Unschärfe..., Berlin: doch keine Kritik
Offener wollen sie es also. Das soll sich bitte schön nett vor ihnen ausbreiten, wie man es vom Gorki doch seit zwei Spielzeiten gewohnt ist. Tja. Offener! Noch offener als die Liebesszene zwischen Mareike Beykirch und Lea Draege als Leyla und jener jüdischen Performancekünstlerin? Klar, aus so einer lesbischen Liebesszene lässt sich nicht soviel komisch boulevardeskes Kapital schlagen, wie aus so einer richtig „schrägen“ Szene zwischen „Schwulen“. Aber erwähnen könnte man diese Szene schon, die ich nun einmal als beispielhaft herausnehmen möchte, den diese beiden Schauspielerinnenkörper werden mir noch länger nachgehen. Nichts ist schwerer, als den Körper eines anderen Menschen darzustellen, wenn man kein Kostüm trägt. Mit der eigenen Nacktheit, die Geschichte eines anderen Lebens zu erzählen, ist ein Drahtseilakt, vor allem auf der Bühne, bei dem man leicht abstürzen kann. Das haben diese beiden Schauspielerinnen ganz wunderbar gemacht. Sicherlich, ich bin ein absolut verwöhnter und viel zu anspruchsvoller Zuschauer. Wenn ich einer jungen Schauspielerin zusehe, wie sie eine Tänzerin vom Bolschoi mimt, dann sehe Dominik Mercier vor mir, wie er die „la grande ronde“ im Tütü bei Pina Bausch bis zum Zusammenbruch vorführte, um das klassische Ballett zu kritisieren, und zwischen durch immer wieder die Zuschauer anschrie, in seinem Deutsch mit französischem Akzent: Ist es das was ihr sehen wollt?! Solange, bis man ihn fast anflehen wollte, endlich damit aufzuhören, und man fast zu Tränen gerührt applaudieren wollte für diesen kritischen Akt. Aber das ich überhaupt an eine solche Szene dachte, zeigt, woran diese beiden Schauspielerinnen und zuweilen der ganze Abend bei mir rührten. Dieses Medium Theater ist gegen den Film, die Möglichkeiten des Videos und Internets eher schwächer aufgestellt. Man muss es über die Jahre lesen lernen, um sich noch daran erfreuen zu können. Und ja, der Abend hat Schwächen, aber ganz sicher nicht da, wo sie sie sehen. Und deshalb mache ich jetzt einmal etwas, was man am Theater eher weniger tut, ich bedanke mich bei Nurkan Erpulat für diesen nicht ganz so gelungenen Abend, weil er mich über Dinge nachdenken ließ, an die ich schon lange nicht mehr gedacht habe. Ein Nachdenken über die eigene Bisexualität, die ja fast in jedem von uns steckt. Ein Nachdenken darüber, wie man in einer solchen Konstellation, wie zwischen Leyla und Altay zu einem Familienleben kommen kann. Ach sie wissen schon, ein Nachdenken über all diese altmodischen Dinge, die es eigentlich nur bei Heterosexuellen geben soll Herr Rakow, und über die man heute nicht mehr so gerne spricht, außer natürlich in diesem Roman, wo sich ein Schwuler von einer Lesbe ein Kind wünscht. Sicherlich klingt das in ihren Ohren alles etwas unbedarft und unbeholfen, denn ich lasse mich hier nicht wirklich zu einer Theaterkritik hinreißen, ganz sicher nicht. Komischerweise erscheint mir das hier nicht der richtige Ort zu sein, hier, wo man sich die Beute Theater zurecht legt, um sie dann genüsslich abzuschießen.
Die juristische Unschärfe, Berlin: übers Leben nachdenken
@ Baucks

Ich verstehe Ihre Meinung nicht so recht. Der Abend sei nicht gelungen, bringt Sie jedoch zum Nachdenken über ihr eigenes Leben. Was kann Theater denn noch leisten? Abgesehen davon, dass die nackten Brüste der beiden Schauspielerinnen scheinbar das einzige sind was Sie für erwähnenswert halten. Da passierte nun ja nicht mehr als das Ausziehen an sich. Da kämen mir wahrlich andere Szenen, die berühren, unterhalten und etwas weniger 1:1 erzählen. Stichwort Torte, Turnakrobatik, Selbstmord...
Die juristische Unschärfe, Berlin: anderes Level
Liebe Helen,
ich kenne weder ihre, noch die sexuelle Orientierung von Herrn Rakow, denke aber, dass diese nicht unerheblich ist bei der Betrachtung dieses Abends, und das man von daher etwas sensibler mit ihm umgehen könnte als es Herr Rakow hier vorlegt. - Ja, ist das so? Dass sie nur nackte Brüste 1 zu 1 abgebildet sahen? Und nicht zwei Körper, die sich am Ende doch fremd blieben, weil der eine sich nicht als Versuchskaninchen verdingen wollte? Nur nackte Brüste aus ihrer Perspektive? Wie Schade für sie, eine solche Sichtweise? Ich hielt die Liebesszene in ihrem Scheitern eben für erwähnenswert, weniger die Brüste, das werden sie mir doch bitte gestatten. Oder etwa nicht? - Zu dem werde ich, und auch sie werden mich nicht dazu bringen, außerhalb eines Probenraums oder eines Dramaturgiebüros, oder aber einem persönlichen Gespräch, keine Aufführungen kritisieren. Ich sagte ja lediglich "nicht ganz so gelungen", mehr nicht. Und was Theater noch mehr kann, als einen zum Nachdenken bringen, über das eigene Leben womöglich, fragen sie? Nun, eine gewisse Überhöhung, die dieses Nachdenken auf eine neues Level, zu einer neuen Qualität überführt, wäre schon denkbar. Frage beantwortet Helen?
Unschärfe einer Ehe, Berlin: alle Fragen offen
Auch wenn es Nurkan Erpulat nicht gelingt, die Spannung durchgängig zu halten, sich gegen Ende einiges an Leerlauf einstellt – die letzte Viertelstunde zieht sich kaum erträglich dahin – so ist seine Bearbeitung von Olga Grjasnowas Roman doch über weite Strecken ein starkes Stück Körpertheater, dem es gelingt, die Sprache der Körper über all dem Textlärm hörbar zu halten. Sie sind es, die inmitten der oft geschwätzigen Selbstfindungsrhetorik und Phrasen der Sinnsuche die eigentliche Geschichte Erzählung: jene von der Einzwängung des Menschen in totalitäre Erwartungshaltungen und jene, nicht minder bittere, der Verinnerlichung dieser Machtmechanismen, der sich selbst dann nicht entfliehen lässt, wenn der externe Druck längst verschwunden ist, vielleicht auch weil er sich nur verlagert hat. Die Körper erzählen von der Schwierigkeit, ich zu sagen, weil es fast unmöglich erscheint, dieses Ich inmitten aller Anforderungen, wie dieses Ich zu sein habe, überhaupt zu definieren. Antworten gibt Die juristische Unschärfe einer Ehe nicht. So bleiben am Ende auch hier alle fragen offen. Was an sich schon positiv ist.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/10/30/mein-feind-der-korper/
Die juristische Unschärfe einer Ehe, Berlin: Party mit Durststrecken
Sie finden keinen Halt: auf der schrägen weißen Wand versuchen die vier Schauspieler, sich nach oben zu hangeln und vorwärts zu krabbeln, sie rutschen aber doch immer wieder ab.

Altay, Jonoun und Leyla sind auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ beschreibt eine queere Ménage-à-trois, die zwischen Sehnsucht nach Nähe und der Jagd nach Abenteuern im Nachtleben hin und hergerissen ist. (...)

Der Roman bietet mehr lange Erzählstrecken als knackige Dialoge. Er würde sich sehr gut als Vorlage für ein Road-Movie mit Off-Stimme eines Erzählers im Programmkino eignen. Auch die sehr scharf beobachteten Skizzen, mit denen Grjasnowa Berliner Kieze von Charlottenburg über Mitte und Kreuzberg bis Neukölln pointiert beschreibt, mit denen sie vor allem Missstände in den postsowjetischen Kaukasus-Republiken kommentiert, sind sicher nur schwer in theatralische Mittel zu übersetzen. Auf diese Stärken des Romans müssen wir bei Erpulats Inszenierung verzichten.

Die vier Schauspieler helfen sich, indem sie abwechselnd mit dem Mikro an die Rampe treten und längere Passagen in den Zuschauerraum sprechen, bevor sie sich wieder einander zuwenden.

Leider haben Erpulat und sein Ensemble aber auch einige der raren Chancen verschenkt und z.B. diesen bühnenreifen Dialog aus der Vorlage einfach links liegengelassen: auf drei Seiten schildert Grjasnowa, wie sich Krankenschwestern, Ärzte und der Chefarzt eines Moskauer Krankenhauses in Altays Anwesenheit in homophobe Hasstiraden hineinsteigern.

Statt diese gelungene Steilvorlage dankbar aufzunehmen, wird in Erpulats Bühnenfassung nur das übliche Stammtisch-Gebrabbel wiederholt. So bleibt diese Szene weit hinter dem Witz der Vorlage zurück und erreicht leider auch nicht das Niveau und den Biss von Falk Richters Anklagen homophober Ressentiments („Small Town Boy“ am Gorki und „Fear“ an der Schaubühne).

Trotz dieser genannten Schwächen ist dem Abend zugute zu halten, dass er es schafft, eine stimmige Atmosphäre zu entwickeln. Wenn die Protagonisten ins Berliner Nachtleben zwischen Berghain und SO 36 eintauchen, dröhnen die Beats, tanzen die Körper ekstatisch und werden gestählte Muskeln auf der Videoleinwand stolz präsentiert. Zum „Vorglühen“, als Einstimmung auf den Feier-Marathon, eignet sich Erpulats Stück dennoch nur bedingt: diese Szenen machen nur einen Bruchteil des Abends aus, vor der Party müssen noch längere Durststrecken im Frontal-Unterricht-Stil ausgehalten werden.

(...)

Kompletter Text als Leserkritik und hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/26518-die-juristische-unschaerfe-einer-ehe-am-gorki-unaufgeraeumter-gefuehlshaushalt-zwischen-berlin-moskau-und-baku.html
Unschärfe einer Ehe, Berlin: Affenzahn
Dieser Abend ist (wiederholt) ein Paradebeispiel dafür, wie schwierig es ist, einen Roman zur Zufriedenheit aller (Zuschauer, Leser, Kritik) auf die Bühne zu stellen. Ich denke, dass es hier zu weiten Teilen gelungen ist. Die Energie, Spielfreude, Kraft, Uneitelkeit und auch Feinheit der Schauspieler/-innen trotzt dem teilweise recht banalen Roman eine Tiefe ab, die sich mir beim Lesen nicht recht einzustellen vermochte. Die Mittel sind theatral und - keine Frage - so auch schon gesehen. Wobei das Essen einer ganzen Torte am Stück von solch einem grazilen Körper wie der Lea Draegers fast schon eine Kunst in der Kunst ist.
Natürlicherweise vermisst jeder die ihm wichtigen oder mehr bedeutenden Kapitel mal mehr mal weniger, aber wie sollte es sonst sein?! Die vier Spieler stellen sich und ihre Körper vollends zur Verfügung und schaffen es aus meiner Sicht den kompletten Roman in einem Affenzahn zu erzählen, ohne gar ständig allzu banal zu werden.
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