Geschlossene Gesellschaft

von Claude Bühler

Basel, 30. Oktober 2015. Zu den größten Herausforderungen einer bemannten Mars-Mission gehören die psychologischen Probleme. Wie würden die Leute das aushalten, Untätigkeit in Enge? Was, wenn das Klassenbewusstsein Gräben aufreißt, Wut und Hass aufkommen? Was taugen Menschheitsideale unter sozialer Dauerbelastung? Wie wenn Cupido ins Gemenge fährt?

In derart verdichteter und zugleich abstrahierter Situation will Regisseurin Nora Schlocker, so scheint es, eben diese Fragen durchspielen. Bernhard Kleber hat dafür eine knallweiße Bühnenwelt gebaut, in die knallweißes Licht fällt. In einem halben, sich zum Publikum öffnenden, türlosen Riesenei sitzt die Gesellschaft jederzeit vollzählig aufgereiht am langen Tisch. Alle werden also zumindest potentiell – so wenigstens die bildliche Anlage – zum Zeugen intimer Dialoge, jeder kann plötzlich dreinfahren wenn zwei sich küssen oder schlagen, Peiniger und Opfer in einem. Maxim Gorkis "Kinder der Sonne" meets Sartres "Geschlossene Gesellschaft".

Im Ausnahmezustand

Ein derart spannungsvolles Setting hat viel Macht. Schon bald befindet sich die Gesellschaft im nervösen Ausnahmezustand. Stühle fallen, später fliegen sie durch den Raum. Der Schlosser schreit herum. Das Kindermädchen keift. Der Hausherr marschiert lautstark über Tisch und Geschirr. Man drückt sich gegen die Wände. Nicht immer fällt es da leicht, die vielen, ineinander verknäuelten Erzählfäden auseinander zu halten. Ohne ungestörte Dialog-Situationen braucht es viel Gestaltungsprägnanz, um die Nuancen durchzusetzen, mit denen Gorki seine Figuren tief auslotet.

Nicola Kirsch brilliert mit souveräner Leichtigkeit als Hausherrin Jelena. Es ist ein Genuss, ihr zuzusehen, wie sie ihre Traurigkeit mit sich ausmacht, wenn sie der Egozentrik ihres Mannes Pawel, dem Ansturm des verliebten Malers Wagin scheinbar gleichmütig begegnet und die sozialen Konflikte im Haus erträgt. Wenn sie die cholerakranke Frau des Schlossers pflegt, so lässt es Kirsch spüren, entspringt dies dem Wunsch nach Ethik, zu der sie die Privilegiertheit des bürgerlichen Standes ihres Erachtens verpflichtet.

kinder der sonne 1 560 Sandra Then uMission im Weltall? Jedenfalls eine abgeschottete Gesellschaft in Nora Schlockers
Gorki-Inszenierung "Kinder der Sonne" © Sandra Then

Auch Thiemo Strutzenberger als der arrogante und narzisstische Maler Wagin, der die unteren Schichten in groben Tönen herunter und sich über die Liebesnöte des Veterinärs Tscherpuoi lustig macht, überzeugt mit spielerischer Agilität. Die Witwe Melanija, die einen reichen Alten geheiratet hatte, um zu erben und die beim Chemiker Pawel vergeblich mit ihrem Liebesbegehren anrennt, erhält bei Katja Jung eine fast tragische Dimension. Schmerzlich erlebt sie die Leere eines Lebens, das sich nur nach der materiellen Annehmlichkeit richtete, im Moment, wenn die Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit und stimmigen Beziehungen hoch stößt. Zu erwähnen wäre in dem Reigen auch Liliane Almuat, die als Dienstmädchen Fima eiskalt ihren Körper einsetzt, um sich einen reichen Kerl zu angeln.

Auf die Schauspieler konzentriert

Sie alle verbindet eine einwandfreie sprachliche Technik, die die Worte im großen Haus bis in die hinteren Reihen trägt, und eine Figurenführung, die nie abreißt. Leider kann man das bei den absolut zentralen Figuren, die Geschwister Pawel und Lisa, nicht sagen. Ingo Tomi gibt den weltfremd-naiven Chemiker, der der Gesellschaft die Menschen als leuchtende "Kinder der Sonne" weismachen will, als hastiges, missgelauntes, oft herumschreiendes Nervenbündel. Lisa, die Gorki subtil auf die Waage zwischen Hysterie und Hellsicht legt, wird bei Lisa Stiegler ein etwas verschupfter, burschikoser Teenager.

kinder der sonne 2 560 Sandra Then uHausherrin Jelena (Nicola Kirsch) im Kreis ihrer Liebsten in "Kinder der Sonne" © Sandra Then

Die hohen Ideale und die Abgründe beider wären aber die interessante Kippstelle der Tragikomödie. Wegen ihr schreit das Dienstmädchen Luscha, dass ihr die Herrschaften Angst einflössten. Der Satz ist hier sinnlos. So wird es schwierig zu ergründen, was die Inszenierung eigentlich will.

Zwischen den Zeiten

Sicher nicht die Krisen und Chancen der Gesellschaft im vorrevolutionären Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorzustellen, wie es Gorki 1905 wollte. Dazu würde schon allein die Übersetzung von Werner Buhss nicht passen, die die sprachlichen Standesunterschiede mit heutigem Boulevard-Deutsch erfolgreich einebnet. Ebenso wenig will sie aktualisierte Version sein, die auf die besonderen Verhältnisse von 2015 eingeht.

Die Aufführung hängt formlos zwischen den Zeiten, trifft weder als Milieustudie noch als Menschenlabor. Als überzeitliche Erzählung hätte man das Stück auch in Gorkis altem Herrenhaus, durchgängig präzis durchgearbeitet, aufführen können, und es der Abstraktionsfähigkeit des Publikums überlassen können, die Klassenkonflikte auf heutige Verhältnisse zu übersetzen. Es hätte seine Gültigkeit erwiesen.

Kinder der Sonne
vom Maxim Gorki, Übersetzung von Werner Buhss
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Bernhard Kleber, Kostüme: Caroline Rössle Harper, Musik: Stefan Rusconi, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Liliane Almuat, Pia Händler, Urs Peter Halter, Barbara Horvath, Martin Hug, Katja Jung, Nicola Kirsch, Ruth C. Oswalt, Thomas Reisinger, Max Rothbart, Thomas Schweiberer, Lisa Stiegler, Thiemo Strutzenberger, Ingo Tomi, Florian von Manteuffel. Musiker: Artur Almasbekov, Jose Andres Fernandez Camacho, Joao Pacheco.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 


Kritikenrundschau

"Es dauert etwas, bis der Abend in Fahrt kommt. Aber dann verdichtet sich das Spiel zu einem vielfarbigen Kaleidoskop von Empfindungen und Empfindlichkeiten. Saturiert ist diese Gesellschaft keineswegs, sie scheint vielmehr fast zu platzen vor Sehnsucht nach einem anderen Leben – wenigstens in ihren Worten." So beschreibt Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (2.11.2015) Nora Schlockers Arbeit tendenziell wohlwollend. "Kinder der Sonne" sei "ein grossartiges Ensemblestück. Es muss in Basel noch etwas in die akustisch schwierige Grosse Bühne hinein- und über die Rampe hinauswachsen."

Die "Zwiespältigkeit aller Figuren" arbeite Nora Schlocker "nuanciert heraus", schreibt Susanna Petrin in der Basellandschaftlichen Zeitung (2.11.2015). Neben der als "sorgfältige" und "präzise" charakterisierten Regiearbeit wird die "ausserordentliche Ensemble-Leistung" gewürdigt, allen voran Katja Jung als Melanija.

Nora Schlocker "will die Geschichte gepflegt erzählen, aus einem Guss, ohne Abgänge, auf hermetischer Bühne", berichtet Stephan Reuter in der Baseler Zeitung (2.11.2015). "Aber dies ist umständlich. Zu viele Darsteller sitzen zu oft beschäftigungslos um die grosse Tafel, und wenn sie dann dran sind, müssen sie sich erst eine Spielfläche suchen." Mithin erscheint der Abend dem Kritiker als ein "eintöniger“, auch "streckenweise" ein wenig "substanzlos".

Dominique Spirgi schreibt in der Basler TagesWoche (31.10.2015), der "riesige Panikraum" des "blendend weissen Kuppelbaus" von Bernhard Kleber biete "deutliche" Assoziation zur Festung Europa. Die "Menschen im Raum" blieben indes Gorkis Figuren. Mit ihren Auftritten sorgten Thomas Schweiberer, Katja Jung und Nicola Kirsch als Jegor, Jelena und Melanja für die "schauspielerischen Höhepunkte". Die Idee des "laborartige Mikrokosmos' der eingeschlossenen Gesellschaft" sei zwar "bestechend", erweise sich aber auf Dauer als "Hypothek", weil sie auf der für Schauspiel bekannt schwierigen Großen Bühne "intimere und konzentrierte Dialogmomente" verhindere. 

 

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