Hoffentlich zieht NIEMAND sich nackt aus!

von Anne Peter

Berlin, 20. April 2007. Eine ungewöhnliche Eintrittskarte muss man zurzeit beim Berliner Orphtheater vorweisen: eine existenzielle Frage oder inständige Bitte, Herzenswünsche oder auch eine ketzerische Provokation – jeder nach seiner Fasson und anonym. Man schreibt sie auf einen Zettel, schließt den Umschlag und steckt ihn in den goldenen Briefkasten neben der Tür. Aus seinem Inhalt verspricht Susanne Truckenbrodt Theater zu machen. Für dieses gewagte Experiment kehrt sie als Gast an jenes Off-Theater zurück, das, kurz nach der Wende in Mitte gegründet, zu den ältesten und bekanntesten Stätten der Freien Theaterszene Berlins gehört und dessen künstlerische Leiterin Truckenbrodt von 1995 bis 2002 war.

An Mut zum Unvorhersehbaren fehlt es dieser Frau wahrhaftig nicht. Im letzten Sommer trommelte sie 13 Künstler für das Mammut-Projekt "Peer Gynt" in den Berliner Sophiensaelen zusammen. Jeden ließ sie einzelne Sequenzen mit der jeweils eigenen Regie-Handschrift versehen, keiner kannte die Szenen der anderen und auch die Koordinatorin Truckenbrodt wusste bis kurz vor der Premiere nicht, was dabei genau herauskommen würde.

In ihrer neuesten Produktion hat sie nun noch ein paar bekannte Variablen mehr gekürzt: "In Nomine" arbeitet ohne feste Textgrundlage, verlässt sich ganz auf die vermeintlichen Stoßgebete der Zuschauer. Von denen hofft einer einfach, dass sich hier "niemand nackt auszieht“, ein anderer wünscht sich, "dass das Leben erstrahle und golden daliege", der Dritte hat Angst vor der Größe des Weltraums und dem "was dahinter kommt", ein Vierter möchte sich nicht mehr selbst verwirklichen und der letzte "will Arbeit bitte!".

Geflüstert, verzerrt oder gekonnt vernuschelt

Erstaunlich, was die eingefleischte Orph-Spielerin Antje Görner als die mikrophone "Stimme" des Abends aus diesen zuschauerlichen Textbrocken oder -bröckchen macht. Am Rand der Bühne auf einem Hochsitz nebst versengtem Engelsflügel thronend, ist Görner das Zentrum von "In Nomine". Sie ist es, die im Namen der Zuschauer spricht. Mal mit der hellen, großäugigen Stimme des Kindes, das noch versucht, die Welt zu begreifen. Mal herrisch fragend: "Und welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?" Ein andermal stockt sie im Text, stolpert über bestimmte Silben, verlangsamt wie ein kaputt gegangener Roboter. Manches flüstert sie oder vernuschelt es gekonnt. Anderes bekommt sie scheinbar nur unter größter Anstrengung über die Lippen. Vieles lässt sie wieder- und widerhallen, unterstützt durch die Sound-Effekte von Daniel Dorsch, der zusätzlich Echos nachschickt, verzerrt, Wortfetzen wieder aufnimmt und mit Elektro-Sound unterlegt.

Wenn da nur nicht die sich beständig aufdrängende Frage wäre, wie man denn – um Himmels Willen – das Gehörte mit dem auf der Bühne Gesehenen zusammenbringen soll. Dort nämlich 'antworten' vier in schlichtes Schwarz gekleidete Schauspieler mit mehr oder weniger einstudierten und flexibel einsetzbaren Körper-Miniaturen auf die in ihrer Spontaneität virtuose Textcollage, so jedenfalls das Konzept. Von einem Zusammenspiel der Elemente kann jedoch kaum die Rede sein. Das meiste bleibt disparat. nebeneinander, ohne dass es zu produktiver Reibung käme. Dabei gelingen teils sehr schöne, poetische Momente.

Fliegende Haare bei wildem Tanz

Sabine Grabis vergräbt den Kopf im Kissen und schiebt sich als seltsam verrenktes Wesen über die Bühne. Eine kleine Feder schwebt gepustet über Matthias Horn (jetziger Co-Leiter des Orph), der später keinen Ort finden kann, um die Erleuchtung verheißende Glühbirne festzuschrauben. Lasso-schwingend verausgabt sich Nicole Janze und nagelt sich dann mit dem eigenen Kleid an die Wand, dem sie kaum noch entkommen kann. Die Flügel, die Wolf Scheidt sich aus Schiedsrichterfahnen zu machen versucht, wollen niemanden tragen. Immer wieder werden Balanceakte choreographiert, fliegen die Haare bei wildem Tanz.

Dazwischen springen Tennisbälle und rollen Boccia-Kugeln durch Jo Fabians Raum, dessen Video-Projektionen teils noch zusätzliche Rätsel aufgeben. Wer was an welcher Stelle einbringt, bewegt sich immer haarscharf an oder eben auch jenseits der Grenze zur Beliebigkeit. Man kann einen Zusammenhang herstellen oder auch nicht.

 

In Nomine
von Susanne Tuckenbrodt
Inszenierung: Susanne Tuckenbrodt, Bühne: Jo Fabian, Soundeffekte: Daniel Dorsch.
Mit: Antje Görner, Nicole Janze, Sabine Grabis, Wolf Scheidt.

www.orphtheater.de

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