"Um kreativ zu sein, muss ich gerührt sein"
3. November 2015. Auf einem Treffen von ukrainischen Stipendiat*innen der European Theatre Convention in Leipzig ließ sich Tim Neshitov für die Süddeutsche Zeitung (2.11.2015) über die Theaterszene der Ukraine informieren: "Große Häuser in der Ukraine sind klassikfixiert", sei in den Gesprächen herausgekommen. "Shakespeare und Tschechow bringen zuverlässig Geld und verlangen keine Tantiemen. Alles andere ist Abenteuer." Um Gegenwartsautor*innen herauszubringen, fehle mithin oft die Risikobereitschaft.
Die Frage, inwieweit das Theater politisch sein solle, sei unter den Stipendiat*innen, die in diesem Herbst an deutschsprachigen Häusern hospitieren, umstritten. "Die Schauspielerin und Tänzerin Olga Popowa, die in Graz hospitiert, sagt mit leiser Stimme: 'Mich persönlich rührt Politik nicht, und um kreativ zu sein, muss ich gerührt sein.'"
"In der Ukraine sind wir durch mit siski-piski"
Wer sich demgegenüber wie Andrej Palatnij für politisches Theater ausspreche, meine damit vor allem dokumentarisches Theater: "Eine wichtige Quelle ist Facebook, die endlose Chronik der Gegenwart. Aus Facebook-Beiträgen zusammengesetzte Stücke werden abgefilmt und zurück ins Internet eingespeist, auf dass ein digitaler Kreislauf entsteht", so Neshitov. Schwierig habe sich im Stipendiat*innenkreis die Bezugnahme auf Moskau gezeigt: "Beziehungen zwischen den ukrainischen und den russischen Theatermachern gehen gerade in die Brüche."
Im Leipziger Schauspiel waren die Stipendiat*innen auch. Zum "Sommernachtstraum" (der Regisseur wird nicht genannt, aber es dürfte sich um die Inszenierung von Philipp Preuß handeln, Anm. chr) sagt Puppenspieler Alexander Martinenko: "Muss man den 'Sommernachtstraum' unbedingt als einen glitschigen, vierstündigen Albtraum inszenieren? Und muss man so viel siski-piski ("Titten-Schwänze") zeigen? In der Ukraine sind wir durch mit Depressionstheater und mit siski-piski."
(chr)
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