Mama, Mode, Wirklichkeit

von Karin E. Yesilada

Paderborn, 3. November 2015. Mama ist einfach nicht totzukriegen. Ihre Stimme schallt aus allen Lautsprechern: aus dem Radio-Kassettenrekorder ebenso wie aus dem Loewe-Opta-Empfänger, und ganz gleich, ob der arme Sohn die Batterien aus dem Gerät schüttelt oder das Kabel zieht, ertönt sie immer weiter. Ihr Sohn, der Autor, sei schon immer schüchtern gewesen und habe sich spät entwickelt, berichtet sie halb gleichmütig, halb teilnahmsvoll, und dass er, als andere längst mit Mädchen knutschten, noch immer mit Playmobil und mit Ameisen gespielt habe, ein sehr sensibler und phantasiebegabter Junge also, und so fort. "Wolfi" bleibt stumm und hört's mit Grausen, aber auch mit Stolz, denn Mama lobt ihn.

"Das war deine Szene, Wolfi"

Lars Fabian spielt das herrlich verklemmt-naiv. Verhalten tapst er da durchs Wohnzimmer, schaut mal verstohlen, mal verschmitzt, das Publikum liebt ihn sofort. Intimes wird da preisgegeben über ihn, den Autor, Wolfi, das könnte Wolfram Lotz sein, oder eben nicht, eine Frage von Schein und Wirklichkeit, wie sie jeden der drei Monologe des Abends durchzieht. Die ersten beiden davon sind Uraufführungen, und Paderborn hat mal wieder Glück mit seiner Intendantin, die die 2014 erschienenen Texte des Starautors rechtzeitig auf dem Schirm hatte und sie als Regisseurin nun nah ans Publikum rückt.

Mode Wirklichkeit 560 Tobias Kreft xLars Fabian als Wolfram Lotz und dem Loewe-Opta-Empfänger © Tobias Kreft

So intim sitzt das Publikum im wunderbar retro-verkorkst hergerichteten Studiotheater-Wohnzimmer um Stehlampe, Sessel und Tischchen herum, dass einige Leute noch miteinander tuscheln, während Lars Fabian schon die Playtaste des Radiorekorders drückt. Der Abend beginnt unterhaltsam und wird es bleiben. Als "Wolfi" nach langem Anschleichen endlich nach den Weintrauben in der Schüssel auf dem Tischchen greift und sie doch nur am Mund vorbei ins Gesicht schmiert, mit zunehmender Verzweiflung um sich wirft, kippt die Komik. "Das ist ja schon modern auch, so eine Szene", kommentiert die Mutter hilflos, aber das Gelächter erstirbt wieder: "Das war deine Szene, Wolfi". Als der schließlich fluchtartig aus dem Zimmer strauchelt und die Wandverkleidung mit sich reißt, gibt er überraschend den Blick frei: auf leere Zuschauerränge.

Die Schere der Wahrnehmung

Das Publikum sitzt im Bühnenraum und schaut nun auf seinen eigentlichen Platz, wo die Figur des Münchner Modeschöpfers Rudolph Moshammer auf ihren Auftritt und ihren Monlog "Mode und Wirklichkeit" wartet: Wie ein König thront seine Prominenz da oben und steigt den roten Teppich hinab, ein kurzer szenischer Gruß an das alte, schillernde Revuezeitalter. Sogleich faucht Mosi den Autor an: "Ich kann doch hier nicht einfach so losreden! Ich bin doch tot!" Max Rohland gibt ihn in überzeugender Maske hinreichend maniriert. Man muss dieser Kunstfigur trotz einiger Irritation (Moshammer mit ungepflegtem Vollbart?) zuhören, denn sie arbeitet sich mit komischem Ernst ab am Widerspruch von Wirklichkeit und den Möglichkeiten ihrer Darstellung.

So lässt sich der Modeschöpfer nach einem sakralen Erlebnis der inneren Ruhe an der Münchner Bushaltestelle einfach die gesamte Szenerie maß- und nachschneidern – Auftritt Bushaltestelle –, um sich dann zu wundern, dass sich diese Kunst nicht verkauft, und anschließend über eine Schere zu sinnieren: "Die Schere der Wahrnehmung". Das schrammt schon hart an der Grenze des Dämlichen, aber da ist das Publikum längst zum Scherzen aufgelegt und lacht sich eins über Mosis nächste abstruse Geschichte, diesmal über den von ihm modisch geschöpften Zweireiher ("Stehen zwei Reiher am Bach...")

Lotz weiterspinnen

Auch der dritte Monolog eines somalischen Piraten, der sich und seine Piraterie vor dem Hamburger Landgericht verteidigt, ist gut gesponnenes Seemannsgarn mit einer Prise Globalismuskritik. Katharina Kreuzhage inszeniert diesen Einstiegs-Monologs aus Lotzens Hörspiel "Lächerliche Finsternis" mit weiblicher Besetzung (wie schon bei der Uraufführung in Wien und der Nachinszenierung in Berlin). Das allerdings bewegt sich nicht von ausgetretenen Pfaden weg. So bleibt trotz des intensiven Spiels von Anne Bontemps als Ultimo Michael Pussi ein gewisses Unbehagen. Zwar legt Bontemps ihre anfängliche Kostümierung als "Negerfräulein" mit Afroperücke und Troddelröckchen in postkolonialer Mimikry Schicht um Schicht ab, bis sie in Jeans und T-Shirt dasteht und knallt dem neugierig lauschenden Autor die Tür vor der Nase zu. Doch ist nicht genug von der "Wut" der durch Überfischung ihrer Meere in die Piraterie gedrängten Afrikaner zu spüren.

Immerhin hat sich der jüngst zum Autor des Jahres 2015 gewählte Wolfram Lotz ausdrücklich für das Aufbrechen von Hierarchien im Theaterapparat stark gemacht und seine Texte für das Probenlabor freigegeben. Kreuzhage und ihr Ensemble sollten den dritten Monolog mutig weiterspinnen. Sie könnten Moshammers Appell für soziale Gerechtigkeit aufgreifen und aus dem Piraten einen Asylbewerber machen, wie es derzeit Hunderte in Paderborn gibt. Einen, der mit wilden Geschichten vor Gericht um seine Anerkennung kämpft. Wie wäre es mit einer womöglich mehrsprachigen Aufführung für und mit afrikanischen Asylbewerbern im Publikum? Wenn dieser Pussi dann für Verständnis plädierte, hätte die – auch jetzt schon gelungene – Produktion nochmal ordentlich Tiefgang.

 

Mode und Wirklichkeit. Monologe. (UA)
von Wolfram Lotz
Regie: Katharina Kreuzhage, Bühne & Kostüme: Ariane Scherpf, Ton und Video: Till Petry, Dramaturgie: Nikolaos Boitsos, Licht: Fabian Cornelsen, Maske: Jil Brand.
Mit: Lars Fabian, Max Rohland, Anne Bontemps, Eva Derleder (Stimme aus dem Off).
Dauer: ca 50 Minuten, keine Pause

www.theater-paderborn.de

 

Kriitkenrundschau

Stefan Keim schreibt in seiner verschriftlichten Radiokritik auf der Website von Deutschlandradio (3.11.2015): Es gebe "viel zu lachen an diesem Abend", aber die Ironie diene nicht dazu, "Menschen lächerlich zu machen". Im Gegenteil, Wolfram Lotz bringe Figuren der Zeitgeschichte auf die Bühne und geht "respektvoll" mit ihnen um. In dem "kleinen, konzentrierten Abend" steckten viele "zentrale Gedanken". Dass "Wirklichkeit immer nur eine Annäherung" sei, und dass im "scheinbar Lächerlichen oft eine Andeutung von Wahrheit" zu finden sei.

Wolfram Lotz könnte ein geistiger Enkel von Dramatikern wie Jean Cocteau, Samuel Beckett oder Ionesco sein, schreibt Manfred Stienecke in Westfälischen Volksblatt (5.11.2015). Fazit: "Die nur 50-minütige Aufführung bietet amüsant aufbreiteten Stoff zum Nachdenken über so manche (Fehl-)Entwicklung der modernen Weltgeschichte."

Lotz schneide wie mit einer Schere Stücke aus der Wirklichkeit, so Holger Kosbab in der Neuen Westfälischen (5.11.2015). "Dazu zählt auch, dass Figur und Schauspieler nicht eins sind." Dass werde auch in dem Monolog deutlich, in dem Anne Bontemps einen somalischen Piraten spielt. "Sicher sind die drei Monologe intellektuell verschroben und schräg. Sicher kann das Publikum auch viel lachen, doch dahinter steckt ein ernsthafter Umgang mit Theater und Kunst."

 

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