Was vom Drama übrig bleibt

von Ralph Gambihler

Weimar, 20. März 2008. Vom Goethe- und Schillerdenkmal vor der Tür bis zur großen Bühne im Nationaltheater sind es gefühlte hundert Meter. Das ist eine bequeme Distanz. Man kann vor der Vorstellung draußen am Denkmal warten, noch ein wenig frische Luft schnappen und die Passanten beobachten, bevor es losgeht. Wenn es drinnen zum dritten Mal schellt, kommt man immer noch rechtzeitig in den Saal. Das ist natürlich ohne Belang, aber irgendwie doch interessant, wenn man bedenkt, dass es der Weg ist zwischen einer alten Weihestätte der Weimarer Klassik und einer neuen Inszenierung, in der es viereinhalb Stunden darum geht, "Faust II" als Textleiche vorzuführen.

Die Bühne von Patrick Koch zeigt vor allem Leere. Außer einer Projektionsfläche für Videoeinspielungen, ein paar alten Stühlen der Marke Rumpelkammer und den kahlen Ziegelwänden des Bühnenhauses ist kaum etwas zu sehen. Die Trugbilder der Schauspielkunst haben hier nichts verloren. Theater wird von vornherein als solches entlarvt. Eine Darstellerin, die sich gerade ostentativ Geschmeide um den Hals gehängt hat, steht vorne an einem Mikrofon und sagt eine Stelle aus der kaiserlichen Pfalz auf. Sie artikuliert langsam und sorgfältig und lässt die Verse ein wenig funkeln, während hinter ihr der besoffene Rest einer Party allmählich zur Ruhe kommt. Die Szene plätschert seltsam dahin und verrinnt irgendwann in der nächsten.

Textknochen, Textknorpel, Textadern

Natürlich: Repertoiregemütlichkeiten und Klassikerpflege nach dem Geschmack des Fremdenverkehrsdirektors konnte niemand erwarten von einem jungen Regisseur, der es mit seinem Entkleidungs-Theater schon zu einem Ruf gebracht hat. Laurent Chétouane hat oft genug gezeigt, dass er so ziemlich alle gängigen Erwartungen unterläuft, die man von einem Schauspielabend haben kann. Er arb eitet ohne Kontext, kappt Bezüge, verweigert Psychologie und Exegese. Was dabei im Fall von Goethe herauskommt, war zuletzt in den Berliner Sophiensaelen zu erleben. Dort brachte Chétouane mit drei (sprechenden) Tänzern eine Studie zum zweiten Akt aus "Faust II" auf die Bühne, gesehen durch das "Medium" Antonin Artaud.

Bei der Weimarer Vollversion sind die drei Tänzer wieder dabei. Außerdem bevölkern fünf Schauspieler die Bühne. Es geht also durchaus familiär zu bei dieser eigenwilligen Goethe-Obduktion. Chétouane entwickelt dabei eine Ästhetik der nackten Texttatsachen, die sich darin gefällt, am liebsten bei Null anzufangen, ganz ohne humanistischen Bedeutungsballast und sonstige Sinnfälligkeiten. Es gibt nur Textknochen, Textknorpel, Textadern, Textgewebe, keine Figuren, keine Rollen, keine Konflikte. Die Szenen werden, von einzelnen dramatischen Ausbrüchen abgesehen, darauf getrimmt, möglichst wenig theatrale Wirkung zu entfalten.

Mit Goethe gegen Goethe

Das Muster ist fast immer das gleiche: Einer rezitiert sich im Schönsprech durch die Verse, während der Rest auf dem Boden oder dem Gestühl herumlümmelt und zuhört. Stellenweise scheinen Theatertext und Tänzerkörper in einen geheimen Dialog zu treten. Arme und Beine verselbstständigen sich dann wie bei Gliederpuppen, die eine unsichtbare Macht an Fäden zappeln lässt. Man verrenkt sich gymnastisch und stampft in den Boden. Es ist eine Manie des Disparaten, die den Abend durchzieht.

Die Mittel der Verfremdung und Irritation werden kultiviert, als handele es sich um olympische Disziplinen. Man wäre ja gerne bereit, einmal auf das ewige Menschheitsdrama und die ewige Charaktertragödie zu verzichten, auf den Dränger und den Zweifler, auf Tatgenuß und Teufelei, wenn nicht nach zehn Minuten klar wäre, wie der Hase läuft: Es geht mit Goethe gegen Goethe. Der Mann muss wirklich mausetot sein.

In Sachen Publikumsvergrämung ist der Abend allerdings ein Erfolg. Erst lichtet sich das Parkett, dann macht sich Gemurmel breit. Als die Szenerie kurz vor der Pause vollends im aufgeblasenen Nichts zu erstarren droht und jemand von hinten "Goethe hilf!" ruft, fällt der Saal in Gelächter und dann in eisige "Buhs". Nach der Pause dreht die Inszenierung ins Absurdkomische und gönnt sich einen Anstrich aus Ironie und Klamauk. Euphorion lässt den Gymnastikball hüpfen, dass der Bühnenboden zittert. Man juxt sich im Landgewinnungsdrama der Verbrennung von Philomen und Baucis entgegen und verspritzt lustige Lektionen in Sachen hohles Pathos. Bei der Grablegung Faustens wird dann alle Luft abgelassen. Die Regieanweisungen werden zur letzten Zuflucht der Regie. Das war schon fast ein Kniefall.


Faust. Der Tragödie zweiter Teil
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Laurent Chétouane, Bühne: Patrick Koch, Kostüme: Sanna Dembowski, Musik: Leo Schmidthals, Video: Bahadir Hamdemir, Saskia Walker. Mit: Sarah Bauerett, Eve Kolb, Elke Wieditz, Thomas Braungardt, Friedemann Eckert, Sigal Zouk (Tänzer), Jan Burkhardt (Tänzer), Frank Willens (Tänzer)

www.nationaltheater-weimar.de


Mehr zu Laurent Chétouane: In Köln sperrte er zuletzt in Empedokles // Fatzer Hölderlin und Brecht zusammen. In den Berliner Sophiensaelen zeigte er die – im Text erwähnte – tänzerische Vorstufe zum zweiten Akt aus "Faust II": Das Tanzstück #2.

Mehr "Faust" in Weimar: Hier die Kritik zu Tilmann Köhlers Inszenierung des ersten Teils.

 

Kritikenrundschau

Stefan Keim bespricht in der Frankfurter Rundschau (22.3.2008) beide Teile des neuen Weimarer "Faust". Wirke Tilmann Köhlers Inszenierung des ersten Teils "unfertig", wie ein "Rumspielen mit Goethe", so sei Laurent Chétouanes "Faust II" "mehr ein Essay als eine klassische Regiearbeit": "Die Texte sind weitgehend frei verteilt, das Stück erscheint als das riesige Gedicht, das es ist. Das Publikum nimmt die Rolle von Faust und Mephisto ein und wandert durch eine absurde, faszinierende Welt voller Kriege, Mythen und wissenschaftlicher Hybris." Im zweiten Akt erkundeten Tänzer "mit ihren Mitteln den Menschenstoff von Grund auf, wie es die Schauspieler mit ihrer ungewöhnlichen Sprechtechnik tun. Laurent Chétouane hat Goethe genau gelesen und in Körpersprache umgesetzt." Chétouane habe eine ganz eigene Theaterform entwickelt, die von den Zuschauern Offenheit, Konzentration und ein bisschen Leidensfähigkeit erfordert. Wer dazu bereit ist, erlebt einen großartigen Abend."

Frank Quilitzsch von der Thüringischen Landeszeitung (22.3.2008) findet in Chétouanes "Faust II" "viele Rätsel", "verhaltenen Humor und handfeste Zumutungen." Chétouane ziehe "Faust II" "gnadenlos als viereinhalbstündiges Vexierspiel auf" und tilge "alle historischen und Bezüge zur Goethezeit. Schwelgt in der Poesie und Melodie des Textes. Verschmilzt Szenen, Figuren und Dialoge miteinander. Sein Faust ist ein Konglomerat von Körpern und Stimmen." Der Grenzgänger Chétouane habe erkannt, "dass der Held im zweiten Teil der Tragödie hinter dem Stoff verschwindet und behandelt ihn dementsprechend nicht als Figur, sondern als Schicksal." Das Resultat sei "ein Prozess, ein melancholisches Kreisen, Schweifen und Erkunden. Das hat Rhythmus und macht Sinn, auch wenn sich jener nicht immer auf den ersten Blick erschließt." Manches nerve und spanne auf die Folter. "Man fühlt sich angezogen und verschaukelt, schwankt zwischen Sympathie und Verdruss."

Für Henryk Goldberg steht es in der Thürginer Allgemeinen (22.3.2008) außer Zweifel: "Mit dieser Aufführung ist das Faust-Projekt des Deutschen Nationaltheaters gescheitert." So apodiktisch das Urteil, so einschränkungsfreudig gibt sich die Argumentation: Chétouane sei "ein großes Talent, er verfügt, wenn ihn seine Mittel nicht davonlaufen, über eine kreative Kraft. Und wäre dieser Abend nach dem 1. Akt am Ende, wollten wir ihn rühmen über alle Maßen." Da im "Faust II" die Protagonisten "eher Randerscheinungen" seien und Goethe dort die Verfasstheit der "großen Welt" reflektiere, "mag man es begreiflich finden, dass Laurent Chétouane auf die individuellen Figuren Faust und Mephisto verzichtet". Chétouane habe "die Fähigkeit zur Form und dieser Abend hat, nach dem glänzenden ersten Akt, Momente. Momente, in denen einem der staubbedeckte Text neu und fremd vorkommt, indessen, ohne zu bedeuten, ohne zu erzählen." Chétouane interessiere "sich kaum für Inhalte, er sucht Strukturen und Zeichen, die nur eine bedingte Rückkopplung ermöglichen." Und so scheitere der Abend "nicht daran, dass er nicht unser lieber 'Faust' ist, er scheitert an der Introvertiertheit seines Regisseurs. Nichts als Form, auf der Suche nach sich selbst, viereinhalb Stunden."

Kerstin Decker
schreibt sich in einer Spalte im Berliner Tagesspiegel (23.3.2008) ihren ganzen Ärger vom Halse über "die dilettantischen Goethe-Aufsager da vorn, denen man in jedem Augenblick anmerkt, wie fremd, ja peinlich ihnen ist, was sie hier spielen müssen", aber - was spielen?  "spielen" sei hier "eine irreführende Vokabel, Regie auch." Laurent Chétouanes Faust II in Weimar war für Frau Decker "ein Desaster, wie es der Theatergänger höchstens einmal im Leben erlebt", war "fünf Stunden offener Feindschaft zwischen Publikum und Bühne". Der Regisseur wollte "die Textmaschine", man ahnt es, schreibt Frau Decker. Herausgekommen seien "hilflose Ornamente, austauschbare Gesten, Maschin’ kaputt … Universelle Abwesenheit. Alle sind gegangen. Geist und Sinn zuerst, wohl auch der des Intendanten, der das aufführen lässt."

 

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