Die Sicherheit der Sicherheit - Anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens organisieren die Wiener Wortstätten einen Monologparcours
Die Sicherheit ist ein Hund
von Martin Pesl
Wien, 5. November 2015. Das mit den Flüchtlingen kann Hans Escher und Bernhard Studlar kaum überrascht haben. Anlässlich des 10-jährigen Bestehens ihres Autorentheaterprojekts Wiener Wortstätten haben sie unter der einzigen Vorgabe des Schlagworts "Sicherheit" Kurzmonologe in Auftrag gegeben. Mindestens fünf von dreizehn letztlich aufgeführten Stücken beziehen sich auf das aktuelle Thema Nummer eins, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet: Ibrahim Amir etwa lässt (s)einen Großvater eine tröstliche Geschichte zu Flüchtlingsströmen im Jahr 1915 erzählen, und Ursula Knoll fantasiert einen inneren Monolog der österreichischen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner beim Lagerbesuch.
Aber wer hätte gedacht, dass gleich zwei Autoren, der Ukrainer Oleksandr Irvanets und der Rumäne Peca Ștefan, unabhängig voneinander auf den Kniff kommen würden, die "Sicherheit" durch einen sprechenden Hund zu gewährleisten? Kann halt passieren, wenn man sich zur Feier des Tages gönnt, die Leine lockerer zu führen. Im Alltagsgeschäft arbeiten der Autor/Dramaturg Studlar und der Regisseur Escher anders: Seit zehn Jahren entwickeln sie mit den von ihnen betreuten Autoren Theatertexte, begleiten sie ein Jahr lang einzeln und in Kleingruppen und stellen auch Schauspieler bereit, um – ohne Druck und Publikum – Bühnentauglichkeit und Mundgerechtigkeit zu erproben. "Bei uns sind sie sicher", steht auf den Programmzetteln des Jubiläumsabends, in erster Linie gilt das aber seit zehn Jahren für die Schreibenden der Wiener Wortstätten.
Zwei Herren in derselben Straße
Erst wenn ein Stück wirklich als fertig erachtet wird, kratzt man verfügbare Gelder zusammen und initiiert eine freie Produktion irgendwo in Wien. Im Theater Nestroyhof Hamakom etwa, wo auch die Sicherheitsmonologe über die Bühne gehen, lief 2013 Eschers eigene Inszenierung der Komödie "Habe die Ehre" von ebenjenem Syrer Ibrahim Amir, der diese Spielzeit neue Premieren etwa am Volkstheater oder am Schauspiel Köln herausbringt.Erol Ünsalan in Ibrahim Amirs "Mein kleiner Bruder" © Anna Stöcher
Amir lebt in Wien und schreibt auf Deutsch, obwohl das nicht seine Muttersprache ist. Das charakterisiert die meisten Autoren, die durch die Wortstätten gegangen sind. 2005, als Escher und Studlar erstmals die vierjährige Konzeptförderung der Stadt Wien zugesprochen bekamen, beschränkten sie ihr Projekt noch auf genau diese Gruppe, aber bereits nach einem halben Jahr erkannten sie, dass das wohl zu eng gefasst war, und ließen auch deutsche Muttersprachler zu. "Es soll ja ein Austausch zwischen den Kulturen sein", sagt Studlar. So entwickelte der Österreicher Ewald Palmetshofer seinen ersten großen Erfolg "hamlet ist tot. keine schwerkraft" unter Studlar/Eschers Betreuung.
Auf die Idee zu den Wortstätten kamen die beiden Herren, als sie unabhängig voneinander 2003 nach mehrjähriger Abwesenheit nach Wien zurückkehrten und feststellten, dass 1.) sie zufällig in der gleichen Straße wohnten und 2.) Wien seit Mitte der 90er viel diverser geworden war. "Im Stadtbild war diese Veränderung sichtbar", so Studlar, "auf den Bühnen nicht." Gewissermaßen formulierten sie die Problemstellung des mittlerweile wieder gar nicht mehr so hippen Begriffs "postmigrantisches Theater", bevor es ihn überhaupt gab und verfolgten, genervt von der gängigen Stadttheaterpraxis, die Idee eines unabhängigen Autorentheaterprojekts, wie sie kein vergleichbares in Europa kennen. "Verwandte Schreibwerkstätten wie am Londoner National Theater oder der Dramenprozessor in der Schweiz sind immer an ein Theaterhaus gebunden."
Keine Nachwuchsmaschine
Wie und worüber die Autoren schreiben, ist ihnen selbst überlassen. Studlar: "Es ist wesentlich, dass wir kein Entwicklungshilfeprojekt und auch keine Schule sind. Man kann bei uns nicht Schreiben studieren. Literarische Qualität ist ebenso relevant wie die Themen." Dass diese oft den Komplex Migration streifen, liegt auf der Hand.
"Anfangs waren vor allem Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien oder Bulgarien dabei", berichtet Hans Escher. "Mittlerweile hat sich das Einzugsgebiet auf den Nahen Osten erweitert." Die Gruppe wird jedes Jahr neu zusammengestellt (dieses Jahr sind es fünf), aber einzelne Autoren kehren wieder. "Man versucht, kontinuierliche Arbeitsbeziehungen aufrechtzuerhalten", sagt Studlar. "Wir sind keine Nachwuchsmaschine, wo man einmal reingeworfen wird und dann war's das."Einer von zwei Hundemonologen: Susi Stach in Oleksandr Irvanets'
"Ein Hund namens Donau" © Anna Stöcher
Ertappt man sich heutzutage eigentlich dabei, unter den neu ankommenden Flüchtlingen die Schreibtalente von morgen anvisieren zu wollen? "Ich glaube, die haben gerade andere Sorgen", so Escher. "Mir ist aber aufgefallen, dass wir beide dem Thema weniger aufgeregt gegenüberstehen. Wir haben einfach schon so lange mit Menschen zu tun, die von woanders hergekommen sind."
Zwischen Komödie und postmortaler Rückschau
Seit 2007 schreiben die Wortstätten jährlich den exil-DramatikerInnenpreis aus; am 14. November wird der Preis zum neunten Mal an ein neues, auf Deutsch als Nicht-Muttersprache verfasstes Stück verliehen. Internationale Kooperationen knüpfen zudem an Autoren an, die weder auf Deutsch schreiben noch in Wien leben. So vergrößert sich stetig ein vielfältiges Netzwerk.
An dieses wurden nun die Schreibaufträge für das vorliegende Geburtstagssicherheitsprogramm vergeben: Texte in deutscher, englischer, bosnischer, ungarischer, slowakischer Sprache wurden geliefert und gegebenenfalls übersetzt. Gemeinsam mit der Regisseurin Alex. Riener haben Escher und Studlar die Texte eingerichtet. Je ein Schauspieler performt einen Monolog, einige vom Blatt, andere auswendig. Mit dem einsamen Mikroständer auf dem sehr, sehr hohen Podium fühlt man sich anfangs wie im Finale eines Schultalentwettbewerbs, aber pfiffige Übergangsideen halten den Abend adäquat zusammen, und man fügt sich bald gern in die strukturell vorgegebene bunte Beliebigkeit.Clemens Berndorff in Sina Tahayoris "Die Kugel" © Anna Stöcher
Einige Stücke, darunter die Hundemonologe, leben vor allem von der komödiantischen Darbietung; nachhaltiger sind etwa der Text von Sina Tahayori, der sich erst am Ende als postmortale Rückschau des Fahrers herausstellt, in dessen Kühl-Lkw im August 71 Flüchtlinge umkamen, und ebenjener von Ursula Knoll, der entwirft, was wohl jemand denkt, der in Zeiten wie diesen den undankbaren Beruf der Innenministerin ausübt.
Schade, dass aus all diesen Kleinkunstwerken natürlich nie "etwas" werden wird: Sie sind für diese parzellenartige Collage beauftragt worden und genau in diesem Rahmen gut und sicher aufgehoben. Zu der Unaufgeregtheit, mit der die Wiener Wortstätten seit zehn Jahren konstant agieren, passt das freilich ganz gut.
Die Sicherheit der Sicherheit
Monologparcours anlässlich 10 Jahre Wiener Wortstätten
von Oleksandr Irvanets, Dario Bevanda, Sina Tahayori, Ursula Knoll, Robert Woelfl, Azar Mortazavi, Bonn Park, Peca Ștefan, Semir Plivac, Barbara Anderlič, Ákos Németh, Viliam Klimáček, Ibrahim Amir
Inszenierung: Alex. Riener, Hans Escher, Bernhard Studlar, Ausstattung: Renato Uz, Licht: Stefan Pfeistlinger, Renato Uz.
Mit: Susi Stach, Alexandra Pernkopf, Clemens Berndorff, Lisi Findeis, Boris Popovic, Sonja Romei, Paola Aguilera, Michael Smulik, Andreas Patton, Ingrid Lang, Christina Scherrer, Christian Dolezal, Erol Ünsalan.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.wortstaetten.at
www.hamakom.at
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