Am Abwasch der Zeitgeschichte

von Matthias Schmidt

Gera, 6. November 2015. Am Ende stehen die Schauspieler in Bademänteln und privaten Klamotten vor dem Publikum und tragen gemeinsam "Edgars Bericht" vor, jenen Teil von Kruso, der von Lutz Seilers Suche nach den vermissten Ostseeflüchtlingen handelt. Die Stille im Saal ist beinahe gespenstisch. Danach brandet der Applaus auf. So schlicht und doch bewegend kann Theater sein. Wenn es den Mut zur Einfachheit hat. Wenn es seine Mittel in den Dienst des Stoffes stellt und nicht umgekehrt.

Mit Seilers Worten

Autorin Petra Paschinger und Regisseurin Caro Thum haben viel, ja nahezu alles richtig gemacht. Sie stellen in ihrer Version von "Kruso" die Geschichte der ungleichen Freunde Ed und Kruso in den Mittelpunkt. Sie haben mit Bernhard Stengele einen Kruso, der in seiner manisch-depressiven Freiheitssuche absolut glaubhaft wirkt und mit Manuel Kressin einen Ed, der ebenso glaubhaft immer mehr in diese sonderbare Aussteigerwelt hineingerät. Sie haben ganz auf den Originaltext gesetzt, auf Lutz Seilers Sprache. Sie haben aus langen Prosastrecken pointierte Dialoge gemacht, fast ausschließlich aus Seilers Worten. Sie lassen ihre Figuren abwechselnd die Überleitungen dazwischen vortragen – ebenfalls fast komplett in Seilers schöner, lyrischer Prosa. Dabei ist jeder Schritt, jedes Kapitel nachvollziehbar, was größten Respekt verdient, weil der Roman ja durchaus auch etwas verrätselt und poetisch überhöht ist. Auf der Geraer Bühne wird der Sommer 1989 auf der Insel Hiddensee für das Publikum nacherlebbar. Mit geschickten Wiederholungen von Schlüsselszenen und –sätzen kommen die Traumata der beiden Helden Stück für Stück ans Licht: das Ertrinken von Krusos Schwester Sonja und der Unfalltod von Eds großer Liebe G.

Kruso2 560 Christoph Beer uAm Strand, in der Küche, und ewig singt Viola. © Christoph Beer

Parallel dazu, streckenweise sogar zeitgleich auf Vorder- und Hinterbühne gespielt, erfährt man, was im Ferienheim "Klausner" und auf der Insel geschieht. Ebenso die Zeitgeschichte, das "Festlandgeplapper", das vornehmlich aus dem ewig laufenden Radio "Viola" klingt. Chapeau, wie gut das ineinander greift, wenn "Viola" im Hintergrund von den Ungarn-Flüchtlingen berichtet, "Wir sind das Volk" flüstert oder zum Sendeschluss des Deutschlandfunks die Deutsche Nationalhymne singt. Die verschiedenen Ebenen des Romans, Paschinger und Thum haben sie fein säuberlich getrennt und bühnengerecht neu zusammengefügt.

Zaunpfahlgewinke

Zugegeben, manchmal ist das anstrengend, wenn gleichzeitig hinten an den Spülen des "Klausner"-Abwaschs geklappert und gelärmt und vorne über die Freiheit gesprochen wird. Was letztlich zur Folge hat, dass die meiste Zeit alle deutlich zu laut sprechen. Einzig Christiane Nothofer, die alle Frauen des Stückes spielt, hat leise Töne parat. Stengeles Kruso fast gar nicht. Immer, wenn er seine thesenhaften Freiheits-Statements spricht, tritt er an die Rampe und verfällt ins Deklamieren. Er wird dann noch etwas lauter, schaut dabei ins Publikum, leicht nach oben in die Ränge, und wie mit einem kleinen "Achtung" kommt's: "Der Keim der wahren Freiheit gedeiht in Unfreiheit!" Unterstellen wir mal, dass dieses Oldschool-Überbetonen der wichtigen Sätze nicht Intention, sondern eher eine akustische Notwendigkeit war. Oder die Macht der Gewohnheit? Ein bisschen wirkt es schon wie Winken mit dem Zaunpfahl, was immerhin den Vorteil hat, dass Seilers Pointen – "fressen und scheißen, das ist das Leben eines Verbrauchers" – tatsächlich zünden. Schwamm drüber, meinethalben sollen sie es lieber mal zu deutlich für uns da unten machen, als dass es so wirkt, als machten sie es nur für sich.

Kruso1 560 Christoph Beer uDie Hüterin der leisen Töne: Christiane Nothofer  © Christoph Beer

Wasserspiele

Was in der Magdeburger Bilderflut ein wenig unterging, hier steht es im Zentrum: "Kruso" ist kein Wenderoman, sondern ein Versuch über die Vergeblichkeit von Utopien. Für Kruso, der im Verlauf zunehmend daran zerbricht, dass ihm die Mitstreiter weglaufen und die "Schiffbrüchigen" ausbleiben, ist diese Insel die "Arche Hiddensee" – ein Modellversuch. Er will weder die Freiheit des Ostens noch die des Westens. Allein, dazwischen gibt es scheinbar nichts. Caro Thum findet überzeugende Bilder für die Suche nach dem Unauffindbaren. Die Bühne ist weitgehend leer, ist Küche und Strand und Bahnhof und Schlafstätte. Musik stützt die jeweiligen Stimmungen, war das eben das Vorspiel von "Der Traum ist aus", ohne vordergründig zu werden?

Mit nahezu naiver Freude betrinken sich die Esskaas, die Saisonkräfte, singen das Lied der Partisanen vom Amur, begießen sich mit Wassereimern und bespritzen sich mit den von der Decke hängenden Brausen der Spüle. Wasserspiele ohne Ende. Mit größter Unschuld ziehen sie sich aus, was vor allem unter den Zuschauerinnen prompt für die üblichen Pausen-Kommentare sorgte. "Die beiden nackten Männer hätte ich nicht unbedingt gebraucht", war ein mehrfach gehörter. Dabei passte es perfekt – hallo, Gera, das war keine Provokation, wir waren einfach an der Ostsee!
Kurzum: dieser "Kruso" ist eine Punktlandung.

 

Kruso
nach dem gleichnamigen Roman von Lutz Seiler. Für die Bühne bearbeitet von Petra Paschinger. Auftragswerk. Uraufführung. In der Reihe Wegmarken der europäischen Geschichte.
Regie: Caro Thum, Bühne und Kostüm: Marianne Hollenstein, Musik: Heinrich Diemer, Dramaturgie: Svea Haugwitz.  
Mit: Manuel Kressin, Bernhard Stengele, Christiane Nothofer, Ulrich Milde, Bruno Beeke, Manuel Struffolino, Thorsten Dara, Yasin Baig, Niklas Berger, Christian Franke, Denis Saro. 
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause.

Theater und Philharmonie Thüringen

 

Mehr zu Kruso, hier die Nachtkritik zur Magdeburger Inszenierung von Cornelia Cromholz im September 2015.

Kritikenrundschau

Henryk Goldberg schreibt auf der Website der Thüringer Allgemeinen (9.11.2015), die Inszenierung sei "ein Missverständnis". Seilers Buch sei "vor allem Seilers Sprache". Die "Handlungsarmut der Geschichte", die "Sprachkraft" ergäben zusammen ein eindrückliches Buch. "Auf der Bühne ergeben sie: nichts." Obwohl Paschinger fast nur Originalsätze Seilers montiert habe, bewahre kaum ein Satz "seine poetische Kraft", wenn er "von wirklichen Menschen gesprochen" werde. Es kämen nur "leere Statements". Es fehle die Übersetzung auf die Bühne. Bernhard Stengele sei als Kruso eine "Leerstelle". Manuel Kressin könne die "zentrale Rolle" des Ed nicht auf der Bühne behaupten: ein Problem des Textes, nicht des Schauspielers, nur Christiane Nothofer schaffe "eine Kunstfigur, eine Übersetzung für die Maßgaben der Bühne".

Angelika Bohn schreibt auf den Websites der Ostthüringer Zeitung (9.11.2015) und der Thüringischen Landeszeitung (9.11.2015), die Entscheidung für "Kruso" in Gera zeige, dass das Haus wisse, "was das Publikum interessieren könnte". Das Schauspiel beweise "Mut". Den bräuchten alle Beteiligten für einen "so komplexen Text". Vom "fantastischen Sound" des Romans sei leider auf der Bühne nur noch etwas zu ahnen, wenn Bernhard Stengele "den großen Monolog über den Verbraucher" spreche. Dafür seien die "darstellerischen Maschen" des Ensembles nie "so brutal ins Scheinwerferlicht gerückt worden", wie von Thums Inszenierung. Auch der Raum verschlucke Dialoge, oft, nicht immer motiviert, fielen die Hüllen. Thum erzähle "filmisch", in "oft simultan ablaufenden Bildern". Ob jemand, der den Roman nicht kenne, verstehe, was vorgeht?

Thum habe "aktionsreiche und überaus körperlich angelegte Szenen entwickelt", so Lutz Kirchner in der Freien Presse (10.11.2015). "Großartig agierten dabei die Schauspieler, viele in mehreren Rollen und in beeindruckender Sprechkultur." Dabei lobt er etwa Bernhard Stengele,  Schauspielchef des Theaters: "Mit Wucht und gleichermaßen Sensibilität gab er der zerbrochenen Seele dieser Figur Kraft und den passenden Ausdruck".

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