Der Zaun muss weg!

von Matthias Schmidt

Weimar, 8. November 2015. Zugegeben, es ist nur ein Gefühl, eine Verunsicherung, was bei Interpretationen bekanntlich mal vorkommen kann. Es sagt, hier stimmt etwas nicht. Möglicherweise. Genauer gesagt: Man kann die Inszenierung missverstehen. Dass man es soll, ist nahezu ausgeschlossen.

Am Ende von Friedrich Dürrenmatts "Romulus der Große" geht in Weimar das Abendland unter, mit großem Pathos: Wagners "Tristan"-Prelude ertönt zu einem Film im Look von Lars von Triers "Melancholia"-Ouvertüre. Dann wird es finster. Das Ende der Welt? Zuvor haben Fremde, die über einen (eindeutig heutigen) Grenzzaun kletterten, das Land übernommen. Eine befremdliche Kausalität. Im Programmheft stehen gleich mehrere Texte, die einen Geschichtspessimismus zumindest andeuten (Untergangsanalogie, Leben auf der Titanic, Wenn die Utopie explodiert). Letzteres ein Zitat des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, beginnend mit dem Satz: "Die größten Heuchler sind zweifellos diejenigen, die offene Grenzen propagieren: insgeheim wissen sie, dass es nie dazu kommen wird, weil eine populistische Revolte die Folge wäre." Eine seltsame Auswahl, in diesem Zusammenhang.

Die letzte Komödie

Regisseur Thomas Dannemann hält sich einerseits ziemlich genau an Dürrenmatts Vorlage. Ein Sänger etabliert Handlungszeit und -Ort: Kampanien, 476 nach Christus. Die Kostüme sind putzig historisch. Das Römische Reich geht unter, Achtung: die Germanen kommen. Der letzte Kaiser, Romulus, lässt es nicht nur geschehen, er wünscht den Untergang des Imperiums sogar herbei. Zu groß, zu mächtig, zu ungerecht ist es, findet er und tut daher ganz bewusst nichts, um es zu retten. Das ist zugleich von großem Ernst und sehr komisch, denn Dürrenmatts frühes Bühnenstück ist nicht nur eine sarkastische Geschichtsstunde, sondern auch eine regelrechte Pointenkaskade. Mal böse: "Man soll gegen sein Vaterland misstrauisch sein. Es wird niemand leichter zum Mörder als ein Vaterland." Mal süffisant: "Wo die Hose anfängt, hört die Kultur auf."

 Romulus3 560 Candy Welz uVor der Mauer: Ingolf Müller-Becks Romulus und Nadja Stübigers Julia © Candy Welz

Es wird sehr viel gelacht: über den Hühner züchtenden Romulus und seinen Hofstaat. Darüber, dass der Kriegsheimkehrer Ämilian sich einen Unterarm abreißt und die Römer vor Ekel darüber kollektiv kotzen. Darüber, dass der Germanenfürst Odoaker auch ein Hühnerzüchter ist, der dem Toga tragenden Romulus direkt nach seiner Ankunft mal eben vorführt, wie so eine germanische Hose eigentlich zugemacht wird. Was die beiden spielen, ist tatsächlich die letzte Komödie vor dem Untergang. Ein wenig hausbacken gespielt, aber sehr flott und unterhaltsam, ohne Zweifel.

Kabarett und Kauderwelsch

So weit so gut. Von Anfang zielt die Inszenierung aber auch darauf, Analogien zu suggerieren. Gleich zu Beginn ruft der römische Bote, der die nahenden Germanen melden will, nach Ursula von der Leyen und Schäuble. Ein Hauch von Kabarett, warum nicht? Weil die Bezüge nicht wirklich stimmen, vielleicht. Weil dieses "irgendwie genau wie heute"-Gehuber in sich viel zu widersprüchlich ist. So sind in den Römern unschwer wir zu erkennen, sagen wir mal: wir, das Abendland. Es ist ein Abendland, dass überfordert ist mit dem, was kommt. Der römische Innenminister stammelt etwas von einem Plan, den man habe, der aber noch nicht recht funktioniere. Merkel? Lachen. Dann tritt ein griechischer Kunsthändler auf und kauft den bankrotten Römern die Kunstschätze weg (darunter Botticellis "Geburt der Venus" und das Weimarer Goethe-Schiller-Denkmal!). Lachen.

Romulus2 560 Candy Welz uUntergangsstimmung im Alten Rom, das irgendwie die EU ist. © Candy Welz

Die Römer haben einen riesigen Schutz-Zaun um ihr Reich gebaut; schwer zu verkennen, dass es der aus den Nachrichten ist. Ungarn hat einen und vielleicht schon bald auch andere Staaten. Nicht zum Lachen. Er hält die Eindringlinge natürlich nicht auf, sie klettern einfach drüber, die Germanen. Diese Germanen sind wir Deutschen. Auch wir? Ja. Mit einem Fußball und einer Adidas-Sporttasche voller Bier fallen wir in Kampanien ein. Lachen. Obwohl das ziemlich wirr ist. Die Römer indes fliehen mit dem Schlauchboot nach Sizilien. Lachen. Obwohl das noch wirrer ist. Sie ertrinken dabei. Dabei hatte Romulus noch davor gewarnt, "packt die Schwimmweste ein, ist viel los auf dem Mittelmeer!" Und nun? Ist man sprachlos.

Unhistorisch? Unlogisch!

Nun wird es nicht nur auf der Bühne neblig, sondern auch gedanklich. Wieder ruft der Bote nach von der Leyen und Gabriel, warum auch immer. Dann machen Romulus und Odoaker einen Deal, bei dem keiner der beiden sterben muss oder sein Gesicht verliert. Diese Dürrenmatt-Pointe verpufft, weil Dannemann offenbar woanders eine größere witterte. Wie brisant das alles sein könnte, wenn man es nur ein bisschen aktualisierte ...

So geht am Ende, siehe oben, mit großem Furor das Abendland unter. Dürrenmatt nannte "Romulus“ eine "unhistorische Komödie", hier in Weimar wirkt sie eher wie eine unlogische. Vielleicht kann es ja jemand poststrukturalistisch oder sonstwie erklären, irgendwann wirkte es einfach zu kauderwelschig. Zu viel gewollt und, nochmal siehe oben, streng genommen falsch aktualisiert. Der Zaun etwa ist nun mal ein Symbolbild. Wer über solch einen Zaun klettert, ist ein Flüchtling. Hier tun es die Germanen – der Feind. Man mag das gar nicht zu Ende denken.

 

Romulus der Große. Eine ungeschichtliche Komödie
von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Thomas Dannemann, Bühne: Heike Vollmer, Kostüme: Jana Findeklee, Musik: Vincent Hammel, Video: Bahadir Hamdemir, Dramaturgie: Beate Seidel.
Mit: Ingolf Müller-Beck, Elke Wieditz, Christoph Heckel, Nadja Stübiger, Nora Quest, Julius Kuhn, Fridolin Sandmeyer, Dascha Trautwein, Max Landgrebe, Krunoslav Sebrek, Sebastian Kowski.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

 

Kritikenrundschau

Frank Quilitzsch wettert auf der Website der Ostthüringer Zeitung (9.11.2015): "Schäuble, Gysi, Schlauchboot, Europa-Fahne – Hä?" Er frage sich, was Regisseur Dannemann "bewogen haben könnte", Dürrenmatts Text mit "derlei Mätzchen zu bereichern". Ob er dem Stück nicht getraut habe? Wo sei die "ernsthafte Parallele" zwischen dem "brandschatzenden Germanenheer" zu Römer-Zeiten und den "Wellen von Kriegsflüchtlingen, die heute ... insbesondere Deutschland überschwemmen?" "Romulus" sei Dürrenmatts "witzigstes und heiterstes Werk". Es bedürfe keiner "billigen Aktualisierungs- oder gar Deutungsversuche". Doch Thomas Dannemann "vermurkst" den Text "lieber". Es sei schade, dass die "selten gespielte" Dürrenmatt-Komödie "derartig verschenkt" werde, zumal die Hauptrolle mit dem "gestisch souverän und urkomisch agierenden" Ingolf Müller-Beck "adäquat besetzt" sei.

Stefan Petraschewsky weist in seiner Radiokritik auf MDR Figaro (9.11.2015) auf einige interessante Aspekte hin: Das Ganze spielt im Nationaltheater in Weimar auf der großen Bühne, wo die
Weimarer Republik gegründet wurde und wo die Nazis 1926 ihren ersten Reichsparteitag nach dem Verbot der Partei begingen. Heute sähen wir dort als Bühnenbild den nachgebauten Bundestag mit Rednerpult, Regierungsbank, Europaflagge – und die Zuschauer seien quasi die Abgeordneten. Doch überall läge Stroh, alles sei heruntergekommen und umfunktioniert zum Hühnerstall. Dazu noch der Grenzzaun und die Kabarett-Einlagen mit Rufen nach von der Leyen und Seehofer – das sei ein "ganz böses Setting"und die Schauspielerei sei "holzschnitthaft", sei "zeichenhaft zugespitzt". Doch müssten die Schauspieler in die Kabarettistenrolle noch "reinwachsen", sie könnten "noch direkter und intensiver ins Publikum spielen".

 

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