Bauchfleisch für alle

von Frauke Adrians

Weimar, 20. November 2015. Kaffee, Kotelett und Kartoffeln: lauter gute Sachen mit K, von denen ein Fernfahrer träumt. Oder besser: von denen der Wanderarbeiter Hupka träumt, wenn er träumt, er wäre ein Fernfahrer. Hupka träumt viel, wenn der Tag lang ist. Und leider ist er damit nicht gut behaust in einer Welt, in der es vor allem um Dinge mit G geht: Geld und Gelaber.

Obwohl: Das Gelaber beherrscht Hupka nahezu perfekt. In Dirk Lauckes Stück "Luft nach oben", das jetzt im Weimarer E-Werk uraufgeführt wurde, wetteifert man geradezu darum, sich gegenseitig an die Wand zu quatschen. Die schlimmste Laberbacke ist Luis Maresch, windiger Bauunternehmer und alsbald Hupkas Chef. Mit seinen hohlen Unternehmersprüchen versucht er, sich Geldforderungen seines Kompagnons Joachim vom Hals zu halten – oder auch die nackte Angst. Hupka hält mit seinen Träumen dagegen, mit Erinnerungen an seine Frau Anita, die gerade die Scheidung eingereicht hat, und an seine Kinder, die er nicht mehr sehen darf. Luft nach oben ist reichlich vorhanden, schlimmer, so meint man, kann's nicht kommen.

Firma ohne Wert und Ware

Dirk Laucke hat sich zu seinem Stück von Jura Soyfers Satire "Astoria" inspirieren lassen. Jura Soyfer starb 1939 mit nur 26 Jahren im KZ Buchenwald, gleich oberhalb von Weimar, an Typhus. Ihm zu Ehren hat das Deutsche Nationaltheater in dieser Spielzeit beide Stücke im Programm. Soyfers Astoria ist ein virtuelles Staatswesen ohne Land. Lauckes Astoria ist eine Firma ohne Wert und Ware: Angeregt von Hupkas endlosen Anekdoten geht Maresch dazu über, europaweit mit Oldtimern zu handeln, um mit der Mehrwertsteuer ein illegales Geschäft zu machen.

luft nach oben1 560 luca abbiento uBastian Heidenreich als Hupka © Luca Abbiento

Das kann auf Dauer nicht gutgehen, aber auf Dauer ist in Lauckes galliger Burleske ohnehin nichts angelegt. In der Inszenierung des Weimarer Hausregisseurs Enrico Stolzenburg wirken sie erst recht kurzatmig: Hupkas italienischer Kumpel Pisto (Nahuel Häfliger) mit seinen überambitionierten Sprüchen ("Ich glaub, meine Kuh gibt Latte macchiato!"), Joachim (Lutz Salzmann), hin- und hergerissen zwischen Geldnot und Feigheit, oder Paul (Thomas Kramer), hinter dessen freundlicher Fassade die Verzweiflung eines illegalen Zuwanderers schlummert.

Diejenige Figur, die einen langen Atem am dringendsten bräuchte, ist der Antiheld des Stückes, Hupka. Das Programmheft beschreibt ihn als "chaplinhaft", aber ein solches Format, eine solche tragikomische Größe erreicht Bastian Heidenreich nicht. Er versucht, Hupka als einen heiligen Narren mit strahlenden Augen und unerschütterlichem Glauben an das Gute und Bessere zu spielen, aber auf diese Weise wirkt die Figur völlig deplatziert in der Welt der kleinkrämerischen Mareschs und der großspurigen Pistos mit ihren existenziellen Nöten. Ein bisschen mehr Realitätssinn möchte man einem langgedienten Wanderarbeiter wie Hupka schon zutrauen. Dann hätten auch seine Ausflüge ins Lyrische ("Anita, mein rasender Herzgalopp") mehr Tiefe.

Keinem Genre zuzuordnen

Wenn auch Bastian Heidenreich mit seiner Rolle nicht im Reinen ist, Anna Windmüller ist es umso mehr. Ihre Unternehmergattin Gwen Maresch ist dem betrügerischen Renovierungs-Dealer und Auto-Verticker Luis Maresch nicht nur intellektuell und grammatisch haushoch überlegen: Gwens abgeklärte und berechnende Art hat das Zeug, eine noch so zweifelhafte Firma zum Erfolg zu führen. Bernd Lange läuft zur Hochform auf, als sich sein Luis – komplett mit öliger Perücke – in einer verlogenen Ansprache bei denjenigen Mitarbeitern bedankt, die er am liebsten sofort schassen würde. Und Nadja Robiné gelingt es, die vom Arbeitsamt bezahlte Büroaushilfe Hlady in all ihren Facetten zu spielen: resigniert und stolz, ziemlich faul und ganz schön gerissen, mädchenhaft verliebt und verzweifelt zugleich. Ihre Auftritte und Abgänge gewinnen dank einer überdimensionalen Zimmerpflanze an Grandezza – was die Tristesse in Katrin Hieronimus' Bühnenbild aus schmuddeligem Firmencontainer und trostloser Rastplatzbar nur noch schärfer zutage treten lässt.

luft nach oben3 560 luca abbiento uThomas Kramer (Paul), Nahuel Häfliger (Pisto) © Luca Abbiento

Zu finster für eine Farce, zu albern für eine Tragikomödie: Dass Lauckes "Luft nach oben" keinem Genre zuzuordnen ist, spricht nicht gegen es. Aber in Enrico Stolzenburgs Inszenierung bleibt es seltsam unausgegoren und lässt den Betrachter kalt; nicht einmal die Witze zünden so, wie die Regie das offenbar beabsichtigt hat. Wenn man einen Bezug zwischen dem Stück und den aktuellsten deutschen Themen herleiten will, dann ergibt sich: Es sind ganz bestimmt nicht die Zuwanderer, die heimatlosen Pistos und Pauls, die die Welt aus den Fugen heben; sie wollen nur den ihnen zustehenden Anteil. Sich zugrunde richten, das können die Etablierten ganz gut alleine. Gegen die Angst vor dem Nichts hilft dann nur noch das Gelaber – und das Festhalten an vertrauten Werten. "Jeder Deutsche kriegt Bauchfleisch", verkündet Luis Maresch bei seinem Mitarbeiterfest kurz vor dem Exitus, "wir grillen."

Luft nach oben
von Dirk Laucke
inspiriert von Jura Soyfers "Astoria"
Uraufführung
Regie: Enrico Stolzenburg, Bühne und Kostüme: Katrin Hieronimus, Klanggestaltung: Kirsten Reese, Dramaturgie: Julie Paucker.
Mit: Bastian Heidenreich, Bernd Lange, Anna Windmüller, Lutz Salzmann, Nahuel Häfliger, Nadja Robiné, Thomas Kramer.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

 

Kritikenrundschau

In der Inszenierung von Enrico Stolzenburg redeten sich Dirk Lauckes "pointierte, zuweilen auch etwas gewollte Dialoge (...) so hintereinander weg", schreibt Lavinia Meier-Ewert in der Thüringer Allgemeinen (23.11.2015). "Das ist unterhaltsam, bleibt aber an der Oberfläche." Immerhin würden die Frauen "Leben in die Parabel bringen". Anna Windmüller könne "ein 'horizontal gleichauf positioniertes Gegenüber' in der Männerriege lange suchen", und Nadja Robiné schaffe es "mit einem Blick", ihrer Figur "eine trotzige bis angeödete Würde zu verleihen".

 

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