Tod eines autoritären Antifaschisten

von Hartmut Krug

Berlin, 26. November 2015. Während sich die rund fünfzig Zuschauer vor dem Eingang der kleinen Spielstätte im 3. Stock der Berliner Volksbühne drängeln, dröhnt Punkmusik und zwei Fernseher zeigen Bilder aus russischer Gegenwart. Auf dem einen laufen in Endlosschleife heftige Bilder einer Demonstration, mit Sprechchören, Plakaten, Verwundeten, auf dem anderen wird klassisches, elegantes Ballett gezeigt. Zwei Wirklichkeiten einer Gesellschaft, der das Berliner Nordwind-Festival – das bislang eher nach Skandinavien und in die baltischen Staaten blickte – in diesem Jahr einen eigenen Schwerpunkt widmet. Einer Gesellschaft, deren Kaputtheit das Dokumentarstück "Antikörper" zu erklären versucht.

Erzählt wird vom Antifaschisten Timur Katscharawa, der 2005 im Zentrum von St. Petersburg von Neonazis ermordet wurde. Das Mitglied zweier Punkbands war mit einer antifaschistischen Studentengruppe unterwegs. Timur bekam bei einem plötzlichen Überfall fünf Messerstiche in die Kehle, lange keine medizinische Hilfe und verblutete.

Berichte vom Täter, Berichte vom Opfer

Wenn sich zu Beginn die Bühne noch hinter einem Gazevorhang versteckt, führt ein Schauspieler, der im weiteren Verlauf immer wieder lange Erklärungen beisteuert, in das Geschehen und dessen Personal ein. Doch der des Russischen nicht mächtige Zuschauer hat es nicht leicht mit dieser vom Baltic House Theater in St. Petersburg stammenden Inszenierung, die beim Moskauer Festival "Goldene Maske" 2013 den Preis für die beste kleine Produktion gewann. Zum einen ist die deutsche Übertitelung hinter dem Vorhang kaum zu erkennen, zum anderen kämpft er, wenn der Vorhang weggezogen ist, mit dem schnellen Wechsel der Texte einer Inszenierung, die vor allem aus einer Vielzahl von Interviews zusammengesetzt ist.Antikoerper1 560 JanaPirozkove uVideo und szenischer Minimalismus in "Antikörper" © Jana Pirozkove

Das Stück des Journalisten Andrej Sowlatschkow montiert Berichte der Mütter des Täters und des Opfers, von Polizisten, von der Freundin des Ermordeten und von Freunden des Täters. In dieser Inszenierung stehen Menschen im Halbdunkel auf einer Bühne, die mit Tischen vollgestellt ist, und erzählen, während sie live von einer Videokamera gefilmt werden. Deren Bilder werden auf eine Leinwand hinter ihnen projiziert – und so sieht man die Erzählenden oft doppelt. Da die Inszenierung fast ohne szenische Aktion auskommt, erhält sie allein durch den Videoeinsatz etwas Bewegung. Klar, auch das Publikum wird gelegentlich gefilmt. Vor allem aber stürzt eine Textflut auf den deutschsprachigen Zuschauer ein, der allerdings nur die Grundstrukturen dieses Dokumentarstückes sicher zu erkennen vermag.

Mit Stalin kämpfen und die Jugend verlieren

Eines Stückes, das vielstimmig, aber wenig theatralisch ist und die tieferen Gründe für die Gespaltenheit der russischen Gesellschaft vielfach umkreist. Wenn die Mütter von Opfer und Täter über ihre Kinder reden, werden Ähnlichkeiten in der Ziellosigkeit und zugleich energischen Suche der beiden nach Sinn und Gemeinschaft deutlich. Und wenn Timurs Freundin über ihre Freundschaft spricht, werden auch die emotionalen Defizite eines Mannes deutlich, der als Antifaschist, Veganer, Tierschützer und Aktivist bei der Verteilung von Essen an Obdachlose zugleich auch autoritär denkt. Eine Mutter meint einmal, wenn Staat und Gesellschaft krank seien, produziere er solche Typen wie diese Söhne, eben "Antikörper". Man kämpfe mit dem Kommunismus und Stalin, und am Schluss verliere die Jugend jegliche Motivation zu arbeiten.

Was ein ehemaliger Faschist erzählt, was ein Polizist beizutragen hat, was der Täter über die Lust am Töten und über seine Erfahrungen im Gefängnis erzählt, wo Zellennachbarn einen Mitgefangenen köpfen, das sind Dinge, die eine tiefe Verrohung zeigen. Ob der zitierte Kropotkin mit seinem Text über gegenseitige Hilfe noch helfen kann, eine neue soziale Ordnung zu schaffen, ist in einer Gesellschaft, in der allein die Tatsache bewundert wird, dass Jugendliche noch Energie besitzen – wenn auch fehlgeleitete –, eher fraglich.

Deprimierendes Material

Am Schluss wird das Skelett einer weißen Puppe, die während der Aufführung bedeutungsvoll immer mit am Tisch saß, eingewickelt und auf einen Tisch vor das Publikum gelegt. Vorher hatte die Mutter des Täters sich in einem emotionalem Ausbruch noch einmal nach ihrer Schuld befragt und sich zu ihrer Mutterliebe bekannt, während die Mutter des Opfers weiter nach dem Sinn ihres Lebens suchte.

Szenisch und theatralisch ist diese Inszenierung eher eine Enttäuschung, doch als Dokumentartheater breitet sie, wenn auch zuweilen redundant, eine Fülle von tief deprimierendem Material aus. Das Publikum war am Ende recht erschöpft und wollte der Aufforderung, sich zu äußern, nicht folgen.

 

Antikörper
von Andrej Sowlatschkow
Eine Produktion von Baltic House Theater-Festival und Project St. Petersburg Documentary Stage
Gastspiel in der Berliner Volksbühne im Rahmen des Schwerpunkts "Balagan! Fokus Russland" beim Nordwind-Festival
Regie: Michail Patlasow, Bühne: Valentina Serebrennikowa, Video: Elena Anisimowa, Licht: Konstantin Udovichenko, Musik: Andrej Guryanow.
Mit: Alla Emintseva, Olga Belinskaya, Elena Karpova, Vladimir Boikov, Aleksandr Muravitskii/Igor Goppikov, Aleksandr Peredkov, Iliya Borisov.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.nordwind-festival.de
baltic-house.ru

 

Mehr über das politische Theater in Russland erfährt die/der des Englischen mächtige Leser*in Pavel Rudnevs Theaterbrief aus Moskau.

 

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