Uneinsichtige Politiker

von Thomas Rothschild

Karlsruhe, 28. November 2015. Es ist nicht zu fassen. Der Zentralrat der Juden fordert im Schulterschluss mit der christlichen CSU eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Wenn alle Staaten nach 1933 so reagiert hätten, wären unzählige Juden den Nazi-Mördern in die Hände gefallen oder, wie der Schreiber dieser Zeilen, gar nicht erst geboren worden. Es mag schon zutreffen, dass viele Flüchtlinge aus Kulturen kommen, "in denen der Hass auf Juden und die Intoleranz ein fester Bestandteil" sind. Gerade dann kann man darauf wetten, dass dieser Hass nicht abnehmen oder gar verschwinden wird, wenn Juden dazu beitragen, dass Verwandte und Freunde, die eine Obergrenze überschreiten, Krieg, Folter und Mord ausgesetzt sind. Die Stellungnahme des Zentralrats zeugt nicht von Empathie für Verfolgte und nicht von der Fähigkeit, aus den eigenen Erfahrungen zu lernen.

Elend der Waisenkinder

Umso bemerkenswerter ist es, dass die beiden bedeutendsten Romane über den Genozid an den Armeniern – "Die vierzig Tages des Musa Dagh" und "Das Märchen vom letzten Gedanken" – von Juden geschrieben wurden. Der Verdacht mag aufkommen, dass Franz Werfel und Edgar Hilsenrath in Wahrheit den Holocaust im Auge gehabt hätten. Aber Vorsicht. Während das bei Hilsenraths Buch von 1989 eine Rolle gespielt haben mag, kommt es für Werfel nicht in Betracht. Die Idee zu seinem Roman entstand 1929, gerade 14 Jahre nach den historischen Ereignissen, auf einer Reise in den Libanon, wo er dem Elend armenischer Waisenkinder begegnete. Er fing 1932 an zu schreiben und beendete das episch ausschweifende, tausend Seiten umfassende Werk im Mai 1933, also vier Monate nach der so genannten Machtergreifung. Vom Völkermord an den Juden konnte er damals noch nichts ahnen.

Ferdinand Bruckner allerdings, ein Jahr jünger als Werfel und zu seiner Zeit ein erfolgreicher und angesehener Dramatiker, mittlerweile jedoch fast vergessen und allenfalls ab und an mit seiner "Krankheit der Jugend" oder den "Rassen" präsent, machte sich 1940 im amerikanischen Exil an die Bühnenbearbeitung von Werfels Roman. Zu dem Zeitpunkt drängte sich die Analogie zwischen Juden und Armeniern geradezu auf.

Blick von außen

Heute, im Jahr 2015, spielt diese Analogie kaum eine Rolle. Die Ausgrabung des erst 1996 uraufgeführten Stücks verdankt sich wohl einer Anlass-Spielplangestaltung. Wenn es aber exakt hundert Jahre nach dem im öffentlichen Bewusstsein verdrängten Massaker an den Armeniern den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lässt, soll uns das nur Recht sein.

die kinder des musa dagh1 560 Felix Gruenschloss uLeid und Mord auf dem Musa Dagh in Stefan Ottenis Inszenierung © Felix Grünschloß

Mittelpunkt von Roman und Drama ist Gabriel Bagradian, ein Armenier, der nach 25 Jahren im Ausland mit seiner französischen Frau und seinem Sohn in sein Geburtsland zurückkehrt, um die Hinterlassenschaft seines Bruders zu regeln. Sein Blick von außen nähert ihn dem Leser beziehungsweise dem Theaterbesucher an. Doch die Bedrohung seitens der Türken macht ihn zum Wortführer der armenischen Sache.

Argumentative Kraft

Der inmitten fiktiver Figuren erscheinende Pastor Johannes Lepsius, dessen "Bericht über Die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei" von 1916 als wichtigstes Dokument über die Ereignisse von 1915 gilt, tritt in zwei Kapiteln von Werfels Roman auf. Sein Gespräch mit dem türkischen Kriegsminister Enver Pascha spielt auch in Bruckners Drama eine zentrale Rolle.

Den uneinsichtigen Politiker zeichnet Regisseur Stefan Otteni fast als Karikatur. Er lässt die Szenen bruchlos ineinander übergehen. Die Darsteller, zum Teil in mehreren Rollen, wechseln auf offener Bühne Kostüm und Maske. Den Musa Dagh, auf den sich die Armenier zurück ziehen, deutet ein erhöhtes Podium an. Die Inszenierung am Badischen Staatstheater in Karlsruhe konzentriert sich auf die Dialoge, die zwar nicht wegen besonderer sprachlicher Schönheit – Bruckner verzichtet auch auf die expressionistische Verfremdung, die seine früheren Stücke prägt –, wohl aber durch ihre argumentative Kraft nach wie vor zu fesseln vermögen und verschiedene Haltungen angesichts der drohenden und später, von Schostakowitsch im Hintergrund angetriebenen, aktuellen Gefahr dokumentieren.

Armenische Premierenhäppchen

Otteni drückt aufs Tempo und lässt, vor allem in der ersten Hälfte, mehr Aufgeregtheit zu, als dem Text gut tut. Auch die heute nur noch schwer erträglichen pathetischen Momente des zweiten Teils nimmt er in Kauf. Der junge kurdische Schauspieler Hadeer Khairi Hando, der aus seiner syrischen Heimat flüchten musste, erzählt nach der Pause von der Verfolgung durch den Islamischen Staat und stellt so, kaum dass man sich nach immerhin 100 Jahren dazu entschlossen hat, auch in Deutschland von einem Genozid an den Armeniern zu sprechen, eine aktuelle, aber zugleich auch verallgemeinernde Analogie her.

Angesichts der hohlen Rhetorik und der kraftmeierischen Versicherungen, die uns in diesen Tagen bedrängen, erscheint ein Verstoß gegen die bleiernen Regeln der Pietät geradezu erleichternd. In Karlsruhe hat man die Premiere eines Stücks über Völkermord mit einem "Armenischen Fest mit Volkstänzen, Musik & armenischen Delikatessen" gefeiert.

Die Kinder des Musa Dagh
von Ferdinand Bruckner
Nach dem Roman von Franz Werfel
Regie: Stefan Otteni, Bühne und Kostüme: Anne Neuser, Dramaturgie: Michael Gmaj.
Mit: Jannek Petri, Johannes Schumacher, Amélie Belohradsky, Gunnar Schmidt, Sven Daniel Bühler, Ronald Funke, Sascha Tuxhorn, Klaus Cofalka-Adami, Luis Quintana, Marthe Lola Deutschmann, Hadeer Khairi Hando.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Kritikenrundschau

"Gut gemeint. Mehr aber auch nicht" sei sowohl Bruckners Drama als auch Ottenis Inszenierung, schreibt Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (4.12.15). Otteni habe kein schlüssiges Konzept zur Hand, das die Schwächen des Textes abfedern könnte. "Er entwickelt keinen überzeugenden Sprachduktus für diese pathetischen Texte, für die Kampfrhetorik, die papiernen Debatten über Fremdsein, Nationalismus und Religion."

Michael Hübl schreibt in den Badischen Neuesten Nachrichten (30.11.2015) über politische Interventionen seitens der Türkei, um jede öffentliche Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern auch in Westeuropa zu ersticken. Auch in Karlsruhe sei 2004 ein Stück über das Schicksal der Armenier von einem offiziellen Festival-Programm gekippt worden. Die dreistündige Aufführung von "Musa Dagh" habe "stellenweise etwas von Schulfunk" so viel sei in sie hineingepackt. Es gebe zwar "durchaus starke Momente", aber der "flammende Monolog des Schauspielers und Asylbewerbers Hadeer Khairi Hando" über die Lage der Yesiden wirke trotz seines "beklemmenden" Inhaltes im "Kunst-Kontext" wie ein Stilmittel "unter vielen".

Ute Bauermeister schreibt im Badischen Tageblatt (30.11.2015), Stefan Otteni vertraue sehr auf die "starken Worte und Dialoge der Vorlage" von Ferdinand Bruckner. Mit "wenigen starken Gesten" zeige er das Aumaß der Katastrophe., "erschütternde Bilder". Gelungen sei auch die "Verbindung zur aktuellen Lage".

 

 

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