Heiner Müller aber schmunzelt

von Wolfgang Behrens

Berlin, 8. Dezember 2015. In drei Wochen, am 30. Dezember 2015, wird Heiner Müller 20 Jahre tot sein. Doch richtig tot ist er ja Gott sei Dank noch nicht, denn er lebt natürlich weiter in den Anekdoten derer, die jedwede ihrer Äußerungen mit den Worten einleiten: "Der Heiner hat einmal gesagt ...". Als ich noch ein Zuschauer war und Müller noch lebte, da gab es nämlich als ständige scharwenzelnde Begleiterscheinung um den Dramatiker herum eine kleine Traube von Leuten, die gebannt an seinen Lippen hingen.

Gelächter in der Schlacht

Wenn Müllers Mund dann zwischen all den Zigarrenschwaden auch einmal ein Bonmot entwich, waren diese Leute augenblicklich zur Stelle, um das Vernommene getreulich zu notieren und der Nachwelt zu überliefern. Diese Lippenleser haben mittlerweile sogar selbst eine Jüngerschaft geworben, diese wiederum beginnt ihre konduktschweren Äußerungen meist mit der Floskel: "Der Heiner soll einmal gesagt haben ..."

kolumne wolfgangNun trifft es sich, dass auch ich eine Botschaft Heiner Müllers jahrzehntelang in meinem Herzen verwahrt habe – eine Botschaft, die aber bislang der Heiner-Müller-Gemeinde in Ermangelung einer guten Gelegenheit nicht mitgeteilt werden konnte. Nicht, dass die Welt dadurch Entscheidendes versäumt hätte, aber da sicherlich alles, was Heiner Müller gesagt hat, wichtig war, wäre es nicht richtig, wenn ich meine kleine Geschichte beharrlich unter Verschluss hielte.

Schauplatz ist Frankfurt am Main im Jahr 1990. Man richtete dort eine Heiner-Müller-Werkschau aus, in deren Rahmen ich eine Inszenierung der "Schlacht" sah, gespielt vom Schülerclub des Schauspiels Frankfurt. Es wurde viel gelacht in der Aufführung, was mich irritierte, denn der Zuschauer, der ich damals war, hatte die etwas engstirnige Auffassung, dass es bei Heiner Müller weder etwas zu lachen gebe noch überhaupt gelacht werden dürfe. Noch am selben Abend fand aber in der Katharinen-Kirche ein Gratis-Gedenkkonzert für den gerade verstorbenen Komponisten Luigi Nono statt, bei dem Heiner Müller zwischen zwei Stücken ein Nono gewidmetes Gedicht las.

Der muss es doch wissen

Beim Verlassen der Kirche passiert es: Da steht Heiner Müller – "der echte Heiner Müller", wie ich sofort denke – im Eingangsbereich, zwei oder drei auffällig jüngere Damen in seiner Begleitung (ich nenne sie im Geiste sofort und sicherlich ein wenig ehrabschneidend "die Gespielinnen" – wo die Lippenleser-Traube in diesem Augenblick war, weiß ich nicht). Mit weichen Knien nähere ich mich, um die Wahrheit über "Die Schlacht" zu erfragen und richte das Wort an den Meister: "Entschuldigung, echter Herr Müller, wenn ich Sie anspreche. Ich habe eben 'Die Schlacht' BLABLA und es wurde sehr viel gelacht, und da wollte ich mal fragen, ob Sie das Stück eigentlich komisch gemeint haben." Zugegeben keine sehr intelligente Frage, aber 1990 bin ich noch jung und glaube ganz unbedingt an die Autorintention. Müller jedenfalls erwidert: "Ich weiß es nicht, ich habe die Aufführung nicht gesehen."

Ja, ist der denn völlig durchgeknallt? Ich habe ihn doch nicht gefragt, ob er die Aufführung gesehen hat, sondern ob sein Stück komisch gemeint sei. Das muss der doch wissen! Ich insistiere, die Gespielinnen beginnen zu kichern, Heiner Müller wiederholt den Satz: "Ich habe die Aufführung nicht gesehen", und ich bemerke panikerfüllt, wie die Situation ins Peinliche entgleitet.

Kassiber für die Nachwelt

Glücklicherweise naht ein Deus ex machina. Ein Mann stürmt auf unsere kleine Gruppe zu und ruft: "Heiner Müller, gut, dass ich Sie treffe! Heiner Müller! Kann ich ein Autogramm haben?" Und hält Heiner Müller was auch immer zum Signieren hin. Doch während der echte Heiner Müller seine echte Unterschrift gibt, entfährt dem Mann plötzlich Folgendes: "Und was ich Sie schon immer einmal fragen wollte: Denken Sie sich eigentlich etwas bei Ihren Stücken?" Die Gespielinnen sind jetzt völlig aus dem Häuschen, ich dagegen bin völlig entsetzt und wittere Majestätsbeleidigung. Heiner Müller aber schmunzelt und gibt die Antwort, die ich seitdem als Kassiber für die Nachwelt mit mir herumgetragen habe: "Meistens nicht. Nein. Meistens nicht."

Wie wir danach auseinander gingen, wie der Mann "Das habe ich mir gedacht!" schrie, wie ich, knallrot im Gesicht, "Äh, ich geh' dann auch mal" sagte, wie Heiner Müller die Hand auf meine Schulter legte und mir "Alles Gute" wünschte, wie die Gespielinnen vor Heiterkeit auf- und abtanzten, das ist wieder alles völlig unwichtig. Nur eines gilt es festzuhalten – der Heiner hat einmal gesagt: "Bei meinen Stücken denke ich mir meistens nichts." Bleibt noch die Frage, welcher gewichtige Gedankengang auf dieses Bonmot folgen könnte. Das freilich überlasse ich getrost der Heiner-Müller-Gemeinde!

 

behrens2 kleinWolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 1980er und -90er Jahre.

 

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