Fausts Trip

von Wolfgang Behrens

Berlin, 27. März 2008. Weit, weit nach Mitternacht war es, als der Chor zum zweiten Mal die Goethe-Worte zu Fausts Grablegung auf die Töne eines Bach-Chorals anstimmte: "Wer hat das Haus so schlecht gebaut". Zu Grabe getragen wurde hier ein "Faust"-Projekt, wie es hochfahrender kaum je einem Theaterhirn entsprungen ist. Doch da das Berliner Schiller Theater zwei Wochen vor der Premiere infolge eines Senatsbeschlusses für immer seine Pforten schließen musste, konnte dieser "Faust" nur ein einziges Mal – in einer Rumpffassung ohne Bühnenbild – gezeigt werden: nicht im, sondern vor dem Theater. Vor einem nächtlich frierenden Publikum. Um Mitternacht.

Das war 1993. Der Regisseur hieß damals Einar Schleef, sein Hauptdarsteller war Martin Wuttke, und der spielte nicht nur Faust, sondern Mephisto und den Pudel gleich mit. Fünfzehn Jahre später heißen Regisseur und Hauptdarsteller Martin Wuttke, und der neue "Faust" im Berliner Ensemble beginnt glücklicherweise nicht erst um Mitternacht, sondern schon um 22 Uhr.

Doch auch Einar Schleef – 2001 verstorben – ist wieder mit von der Partie. Denn ohne Einar Schleef ist "Gretchens Faust", wie sich Wuttkes knapp zweistündige Kurzfassung von Goethes Text nennt, nicht denkbar. Als ehemaliger wichtigster Protagonist des Schleef-Theaters ist Martin Wuttke mit dessen Formenkanon vertraut wie nur wenige. In seinen eigenen Inszenierungen indes, die sich eher im Fahrwasser der Volksbühne bewegten, war davon bislang (mit Ausnahme vielleicht von Müllers "Germania 3") nichts zu spüren.

Jetzt aber hat Wuttke so etwas wie eine Stilkopie gewagt, die sich bis in kleine Details aus dem Vorbild Schleefs speist. Und man möchte es fast nicht glauben: Es funktioniert! Sehr gut sogar. Weil Wuttke nicht den Fehler macht, auch die Schleef'sche Wucht reproduzieren zu wollen. Stattdessen handhabt er die Mittel seines Meisters souverän, temporeich und mit einigem Witz.

Glimmstengel und Phiole

An der Stirnseite einer langen Tafel aus Nussbaumtischen, die von riesigen Spiegeln an den Wänden des als Spielort dienenden Foyers ins Unendliche verlängert wird, sitzt Faust vor Totenschädel und Folianten und zündet sich zitternd eine Zigarette an. Martin Wuttke spielt den Faust der Szene "Nacht" als einen nervös Getriebenen, fahrig tastet er in seinem Gesicht herum, gierig saugt er am Glimmstengel, hektisch jagen die Wörter aus ihm heraus: ein Junkie auf Entzug. Die Szene mündet – ganz so, wie es Schleef in seinem theoretischen Großessay "Droge Faust Parsifal" beschrieben hat – in eine Drogeneinnahme: Faust gießt sich aus einer Kristallkaraffe – der "einzigen Phiole" – einen "braunen Saft" ein, von dem er hier auch tatsächlich einen Schluck trinkt. Und damit beginnt Fausts Trip.

Wie bei Schleef anno 93 bedarf es auch in Wuttkes "Faust" keines Mephisto. Der berauschte Faust liefert sich zwar noch ein rasend komisches Zwiegespräch mit dem Pudel (realitätsgesättigt dargestellt von dem echten Pudel Taxi), doch den Teufel findet er schließlich in sich selber: Er erkennt ihn in seinem eigenen Spiegelbild. Mit sich selbst dialogisierend, wird Faust nun den Cursum der Gretchen-Tragödie durchschmarutzen – Gretchen jedoch tritt ihm, benebelt wie er ist, nicht als Individuum, sondern, darin bester Schleef-Tradition folgend, in neunfacher Ausfertigung entgegen.

Mahnung zum Tode

Auch diese neun jungen Mädchen, die fabelhaft und variantenreich chorisch skandieren (einstudiert von der Schleef-erfahrenen Christine Groß) und fallweise auch Partien aus Auerbachs Keller, der Hexenküche oder von Marthe Schwerdtlein übernehmen, sind der Droge nicht abgeneigt: Gemeinsam schnupfen sie Kokain oder delektieren sich an Pilzen. Und um das kollektive Erlebnis der Drogeneinnahme auf die Spitze zu treiben, reichen sie von der eigens für Auerbachs Keller kostbar gedeckten Tafel gefüllte Weingläser ins rundherum sitzende Publikum – auch die Publikumsspeisung war ein bewährtes Motiv des Schleef-Theaters.

Wuttkes Faust bleibt derweil fortwährend in Aktion: Er umschwärmt die Mädchen, er steigt über sie hin, beschnüffelt und befummelt sie, wenn sie sich unter dem gewaltigen Tischtuch räkeln, er rennt und rast, liebt und leidet. Er ist ein von einem euphorischen Zustand zum nächsten hechelnder Maniker, gefährlich, komisch, virtuos. Und von ständigem Absturz bedroht: Wie eine Mahnung zum Tode schreitet mit den Mädchen auch eine in einen ausladenden schwarzen Reifrock gewandete strenge Dame (Anke Engelsmann) einher, die Faust manchmal etwas ins Ohr raunt. Auch sie entstammt dem Arsenal Schleefs – eine überhöhte Mutter-Figur, wie man sie etwa in Schleefs "Sportstück"-Inszenierung sehen konnte.

Die "Faust"-Aufführung von 1993 ist unwiederbringlich. Dass sie nie unter regulären Bedingungen gezeigt werden konnte, ist eine theatergeschichtliche Wunde, die nicht verheilen kann. Doch es ist ein tröstliches Vermögen der Kunst, dass auch solche Wunden noch fortzuzeugen in der Lage sind. Und so hat Martin Wuttke zu Einar Schleefs monumentalem Entwurf von 1993 fünfzehn Jahre später ein wunderbar wildes Scherzo geliefert.

Gretchens Faust
Text von Johann Wolfgang Goethe
Regie: Martin Wuttke, Mitarbeit Regie: Henning Nass, Bühne: Marc Bausback, Kostüme: Wicke Naujoks, Dramaturgie: Anna Heesen, Chorleitung: Christine Groß. Mit: Martin Wuttke, Anke Engelsmann, Marie Löcker, Inka Löwendorf, Charlotte Müller, Christina Papst, Ewa Rataj, Gitte Reppin, Janina Rudenska, Ninja Stangenberg, Cornelia Werner und dem Pudel Taxi.

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

Im Berliner Tagesspiegel (30.3.2008) schreibt Christoph Funke: "Martin Wuttke fällt mit seinen Gehilfinnen wie ein Kobold über Goethes Dichtung her, zerrauft und zerpflückt sie, hält sie unter Zigarettenqualm und Drogenrausch, brav bürgerlichen Gesetzen welcher Art auch immer zum Trotz." Doch ginge es dem Schauspieler nicht allein um Spaß. "Er sieht die große Dichtung mit heiterem Aug, zwingt sie in eine chorische Struktur (Einar Schleef und Heiner Müller stehen Pate), macht sie griffig und überraschend anders. Fort mit Gelehrsamkeit, nicht aber mit kluger Dramaturgie und ausgeklügelter Raumaufteilung."

Für Reinhard Wengierek, er schreibt davon in der Berliner Morgenpost (30.3.2008), war die Aufführung "ein Clou oder Coup". Martin Wuttke absolviere die "halsbrecherisch hochtourigste, aberwitzigste "Faust"-Performance, die wir je sahen." In "allen Tonlagen und Lautstärken" tobe das "drahtig dürre, schier explodierend gelenkige, krähende, kreischende, grollende, sabbelnde, murmelnde Kerlchen" durch der Tragödie Erster Teil. Dieses "abenteuerliche Monster aus Faust und Teufel und sonst was für 'Faust'-Figuren" beschwörte "noch allemal das tragische Monster Mensch: sein Wurmiges und Gottähnliches, sein höllisch Zerstörerisches und himmelwärts Reckendes, seine verwegen wüste Sucht nach Entgrenzungen, nach Tod wie Unsterblichkeit." Einziger Wermut: Trotz der Kompanie "perfekt chorisch skandierender, sexy Maiden"– das Gretchen hätte der Wuttke unbedingt auch noch spielen sollen.

In der Berliner Zeitung (31.3.2008) beschreibt Doris Meierheinrich wie sie Martin Wuttke "als nervöses Faust-Wagner-Mephisto-Hirngespinst" erlebt hat, als einen "Geistes-Junkie, der einem imposanten Gretchen-Chor verfällt."Wuttkes radikale Strichfassung ziehe die Figuren des Faust I "so sinnreich zusammen", dass sich die "verschiedenen Rauschzonen – Auerbachs Keller, Hexenküche, Dom - herrlich miteinander" verzahnten. Wuttkes Faust sei kein "enttäuschter Gelehrter, er ist von Beginn an ein kettenrauchender Scharlatan", ein "irrer Stimmenimitator, der sich aus der dumpfen Masse in die Individualdroge Wissenschaft emanzipiert hat und sich nun in den kollektiven Zusammenhang zurücksehnt". Mithin ein echter Schleef-Held, "der aus seinem Vereinzelungsgefängnis heraus will und in den sich immer neu bildenden Strudel zwischen Ich und Welt gerissen wird."

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