Hübsch hymnisch

von Andreas Klaeui

Bern, 17. Dezember 2015. Zu berichten ist hier von einer verpassten Chance. Das Theater Bern führt die "Schutzflehenden" von Aischylos auf. Ein antiker Stoff, dessen Relevanz heutiger nicht sein könnte (wie ja auch Elfriede Jelinek bemerkte, die ebenfalls Aischylos als Vorlage für ihre Überschreibung nahm, die Ende März 2016 in Bern zur Schweizer Erstaufführung kommen wird). In Bern hat man die Tragödie neu übersetzen lassen: Der Autor Gerhard Meister hat unter dem Titel "Die Töchter des Danaos" eine halb berndeutsche, halb deutsche Übertragung verfasst, die sich von allen antikisierenden Schlacken befreit und dicht und leicht verständlich ist. Dialekt spricht der Chor, hochdeutsch seine Gegenspieler. "Dr Zorn vom Zeus / trifft jede vou / wo ke Mitgfüeu het / we öpper i Not isch", singen die Danaiden da etwa, und auch für jemanden, der des Berndeutschen nicht mächtig ist, muss dies nach Sprachmusik klingen.

Verve

Den titelgebenden Chor der schutzflehenden Danaos-Töchter spielen in Bern nicht Schauspielerinnen oder Schauspielstudierende, auch nicht etwa Asylsuchende, sondern eine 25-köpfige Gruppe junger Bernerinnen, Schülerinnen, die sich mit Verve an die Sache machen. Dem Chor kommt die eigentliche Hauptrolle zu in diesem frühen griechischen Drama. Hinzu gesellen sich Schauspieler aus dem neuen Berner Ensemble, als Chorführerin (Sophie Melbinger), Danaos (Stéphane Maeder), Pelasgos (Nico Delpy), ägyptischer Herold (Arne Lenk), und vier eher dekorative Jungs in den Statistenrollen der Ägypter und Pelasger.

ToechterdesDanaos1 560 Philipp Zinniker uNico Delpy und der Chor der Bernerinnen © Philipp Zinniker

Soweit, so viel versprechend – aber nun treten diese Schutzflehenden auf wie eine Mischung aus Aerobic und Max Reinhardt. Hautenge Glitzerleggins, wallende Bewegungen. Dazu dumpfe Paukenschläge, Bratschenpizzicato und esoterisches Geklingel (von John Browne). Gerhard Meisters rhythmisierte Textfassung bietet sich nicht nur zum Sprechen, sondern zum Singen geradewegs an, und es ist sicher klug, die Emotionalität der Schülerinnen in die Musik zu verschieben. Sie singen und skandieren denn auch ganz fabelhaft, sehr präzise, ihre Lust am rhythmischen Aufbegehren, am hymnischen Bitten, an lyrischen Lautmalereien, ihre ganze Energie ist stark und schön.

Eurhytmisch

Aber Ramin Gray fügt dem in seiner Inszenierung – die mehr Arrangement und Illustration ist als Interpretation – nun all den archaisierenden, esoterischen Ballast wieder hinzu, von dem sich der Text gerade befreit hat. Gray liebt das Symbol und schrickt auch vor Kitsch nicht zurück, Teelichter sind noch das mindeste, es gibt da ein ganzes breites Spektrum bis zu jungfräulichen Revolutionsfäustchen. Der hymnische Tonfall bleibt völlig ungebrochen, auch bei den Schauspielern, die Schritte sind stets gemessen (Choreografie Marcel Leemann), die Ports-de-bras weihevoll. Aischylos in der Rudolf-Steiner-Schule. "So viele hübsche junge Mädchen auf einmal", kommentierte anderseits der ältere Zuschauer hinter mir: So kann man es natürlich auch sehen.

Toechter des Danaos2 560 P Zinniker uSophie Melbinger und im Hintergrund wieder der Chor junger Bernerinnen © Philipp Zinniker

Dialog

Solcherart Bürgertheater will Berns neue Schauspielchefin Stephanie Gräve vermehrt pflegen. "Die Töchter des Danaos" entstand (wie das Programmheft bescheinigt) "im Dialog" mit dem städtischen Integrationsamt und der Fachstelle Jugend der römisch-katholischen Kirche. "Kirche und Theater haben ähnliche Themen", sagt Gräve. Sie kooperiert deshalb über die ganze Spielzeit hinweg mit den Berner Kirchen, katholisch und reformiert, aber auch dem Haus der Religionen, dem Kompetenzzentrum für Integration und der offenen Kirche Bern – bei Schauspieltiteln wie Kleists "Erdbeben in Chili" oder Joseph Roths "Hiob". Dazu gibt’s im Februar auch ein interreligiöses Symposium, an dem ebenfalls Vertreter der jüdischen Gemeinde und der Berner Muslime teilnehmen.

Netzwerkerin

Stephanie Gräve hat die Schauspielleitung im Sommer von Iris Laufenberg übernommen, die nach nur gerade drei Berner Saisons als Intendantin ans Schauspielhaus Graz wechselte und die Zuschauerzahlen in diesen drei Spielzeiten nicht verbessern konnte. Stephanie Gräve kommt vom Theater Basel, wo sie stellvertretende künstlerische Direktorin war und interdisziplinäre Projekte betreute, sie gilt als bestens vernetzt – ihr erster Spielplan in Bern nun zeigt einen Schwerpunkt auf inhaltlicher Verhandlung von Themen wie dem Umgang mit Fremden, Menschen im Exil oder auf der Flucht, anhand solider, eher kanonischer Stoffe (von Shakespeare, Brecht, Ibsen, Dürrenmatt) und bei formaler Zurückhaltung.

Von März bis Oktober 2016 wird das Konzert Theater Bern, während das Stadttheater renoviert wird, außerdem in einen "Kubus" auf dem Waisenhausplatz umziehen, eine Ersatzspielstätte in Gerüstbauweise für Musik und Schauspiel (unabhängig von den Vidmar-Hallen) auf 1000 Quadratmetern mitten in der Stadt, mit einer 120 Quadratmeter großen Bühne, Tribüne für 480 Zuschauer plus Foyer und Backstage; Kosten rund 1,8 Millionen Franken: Auch dies wiederum könnte eine Chance sein.

 

Die Töchter des Danaos
von Aischylos
Berndeutsch und deutsch von Gerhard Meister
Regie und Bühne: Ramin Gray, musikalische Leitung und Komposition: John Browne, Kostüme: Romy Springsguth, Chorleitung: Sibylle Fässler, Choreografie: Marcel Leemann, Dramaturgie: Kristina Wydra, Schlagzeug: Simon Baumann.
Mit: Nico Delpy, Stéphane Maeder, Sophie Melbinger, Arne Lenk.
Als Chor der Töchter des Danaos: Anna Lea Aebischer, Meret Aeschlimann, Kaya Abfalter, Loredana D’Ambrosio, Anna Brand, Annina Bindschedler, Laila Elena Danz, Vera-Luana Dubach, Emilie Inniger, Lea Käser, Dominique Mani, Aurelia Möri, Céline Moos, Ana Oppliger, Violante Romani, Anna Schläfli, Marilena Schmid, Noemi Somalvico, Anna Katharina Stein, Anna Stoll, Sophia Summermatter, Janka Szücs, Annatina Themis, Jana Wyss, Frosina Zhang, Milena Ziegler.  Als Ägypter / Chor der Pelasger: Sebastian Kempf, Miguel Enguidanos Moreno, Nicca Ritschard, Andrej Stötzel.
Spieldauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

"Kann es gutgehen, wenn man für die Chorpartien, die einen erheblichen Teil des Werkes ausmachen, Laiendarstellerinnen einsetzt? Wenn man zudem ihre Texte in den Bernerdialekt überträgt?" fragt Beatrice Eichmann-Leutenegger in der Neuen Zürcher Zeitung (21.12.2015). In Bern zerstreuten sich solche Bedenken "angesichts einer Theaterproduktion, die frisch und unmittelbar wirkt". Ramin Gray habe "mit glücklicher Hand das antike Stück in die Moderne geholt. Was er bietet, ist keine billige Aktualisierung, dafür ein Theaterabend, der sich dem Geist des griechischen Dramas verpflichtet weiss und dem Reduktionismus vertraut."

"Die guten Ansätze sind da", findet Michael Feller in der Berner Zeitung (21.12.2015) – auf musikalischer und chorischer Ebene: "Die jungen Frauen meistern ihre Rollen mit grossem Einsatz. Sie bewältigen lange, rhythmische Chorpassagen, sie sprechen und singen und beten zu den Göttern." Doch die geballte Kraft der vielen Kehlen erreiche das Publikum kaum. "Eher kommt im tendenziell eintönigen Singsang nach und nach Langeweile auf." Immer wieder wirkten die Massenszenen statisch, so Feller und bilanziert: "Um in der Mi­grationstragik mehr Tiefe zu erlangen, hätte die Regie etwas freier mit der dramaturgisch eher simplen Vorlage umgehen müssen. So wirkt die antike Tragödie ein wenig zahnlos."

 

Kommentare  
Die Töchter des Danaos, Bern: schnörkellos
Es gibt seit September 2016 noch eine neue Plattform:
www.stimme-der-kritik.org
Und da steht zu lesen:
Die Grösse dieser Aufführung liegt in der Kraft, Überflüssiges, Störendes und Irreführendes wegzulassen; oder anders gesagt: in der reinen, schnörkellosen Darbietung von Aischylos' Tragödie. – Überflüssig wären (um wieder mal ein Lieblingswort des verstorbenen "Bund"-Kollegen Martin Etter [-tt-] aufzunehmen) die "Mätzchen" des heutigen Regietheaters, wie man ihnen bei den aktuellen Produktionen der "Schutzflehenden" in Deutschland und Österreich allenthalben begegnet: Ständermikrofone bzw. Headsets zum elektronischen Aufpumpen des Gesprochenen, Videoproduktionen, um das zu ersetzen, was Bühne und Schauspieler nicht können, "Weltmusik" mit Ethno-Bands zum akustischen Herausstreichen der Botschaft, dass die jungen Frauen, die im Stück vor der Zwangsverheiratung geflüchtet sind, exakt von dort stammen, wo die Bilder der abendlichen Tagesschau herkommen.

In Bern erklingt stattdessen bloss eine Bratsche (Valentina Gasparetti), um anstelle der Flöte, die im antiken Theater den Sprechgesang begleitete, die lineare Dimension der Melodie ins Geschehen einzubringen. Und anstelle der Kithara, die den Rhythmus betonte, setzt nun das Schlagzeug (Simon Baumann) diskrete Tupfer. Schon Jacob Burckhardt, unser Mann auf der Tausendernote, staunte: "Das griechische Ohr, für dessen Feinheit wir in der Metrik ein allgemeines Zeugnis haben, muss von einer für uns kaum vorstellbaren Empfindlichkeit gewesen sein, wenn Instrumente mit Darmsaiten, welche nicht gestrichen, sondern nur gegriffen oder mit dem Plektron gespielt wurden, in riesigen, völlig besetzten Theatern hörbar sein sollten, oder wenn, wie bei den Spartanern, ausser dem Flötenspiel auch das Spiel der Lyra als Marschmusik dienen sollte." So kam der Historiker zum Schluss, dass wir uns zur Einfühlung ins griechische Theater hinwegdenken müssten "aus der Welt unserer modernen Blechinstrumente und uns andere Ohren vorstellen als unsere vergeigten, verblasenen, zertrommelten, von den Lokomotivpfiffen nicht zu reden".
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