Der Verlust der Volksbühne

Berlin, 30. Dezember 2015. Viel Zündstoff, viel Erregung, viele Kommentare gleich viele Textaufrufe. Diese Gleichung der Aufmerksamkeitsökonomie galt eigentlich verlässlich in den letzten Jahren, in denen Nachtkritik für Silvester die Jahresauswertung der "meistgelesenen Texte" präsentierte. Der Wiener Billeteur mit dem Streit ums Outsourcing des Abenddienstes am Wiener Burgtheater, die Finanzkrise ebendort, die Solidarität des Berliner Ensembles mit Pussy Riot und immer wieder das nachtkritik-Theatertreffen sind einige der Top-Titel der letzten Jahre.

2015 liegen zwei Texte an der Spitze, die etwas quer zu der klassischen Aufmerksamkeitsverteilung stehen. 39 Kommentare für "Richard III" sind beileibe nicht außergewöhnlich für eine Nachtkritik. Außergewöhnlich ist allein Lars Eidinger. An und für sich. Mit dem buckeligen Shakespeare-Schurken Richard legt Eidinger den Nachfolger seiner längst zum Klassiker avancierten "Hamlet"-Deutung vor und beschert seinem Intendanten Thomas Ostermeier (gleichzeig Regisseur des Abends) den nächsten Publikumsrenner für die Berliner Schaubühne, der auch auf Nachtkritik an jeder Kommentarlogik vorbei klammheimlich zur Spitze schleicht.

Der meistgelesene Text des Jahres aber ist einer, der komplett die Sprache verschlug: Die Meldung zum Tod des Bühnenbildners und Volksbühnen-Gestalters Bert Neumann. "Ist das bestätigt? Lasst es bitte nicht wahr sein!" und einfach nur "Todtraurig", das sind die ersten von nurmehr zwanzig Reaktionen der Leser*innen auf den unerwarteten und unerträglichen Tod des großen Bühnengestalters. Es ist auch eine Nachricht, die den das ganze Jahr währenden Streit um die Zukunft des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz zum Verstummen brachte (ein Streit, in den sich Neumann selbst kurz zuvor noch mit Vehemenz eingemischt hatte). Neumanns Tod, ein Verlust für die Volksbühne und die deutschsprachige Bühnenlandschaft. Unermesslich. (chr)

 

1 Meldung aus Berlin (7/015)
Einer der Großen seiner Berufe
Der Bühnenbildner Bert Neumann ist tot

 

2 Nachtkritik von Anne Peter aus der Schaubühne Berlin (2/2015)
No-man-Show
Richard III. – Thomas Ostermeier inszeniert wieder Shakespeare an der Schaubühne, und wieder als große Show für Lars Eidinger

3 Nachtkritik von Steffen Becker aus den Münchner Kammerspielen (9/2015)
Tolle Abwechslung, klasse Hotelidee, jederzeit wieder
ShabbyShabby Apartments – Die Münchner Kammerspiele laden zur Eröffnung der Intendanz von Matthias Lilienthal zum Schlafen auf Verkehrsinseln, in Badewannen und Unterführungen

 

4 Kommentar von Reinhard Kriechbaum zu einem Vorfall bei den Salzburger Festspielen (8/2015)
Mumm in den Knochen
Beim Salzburger "Jedermann" protestierten Mitwirkende auf der Bühne spontan gegen FPÖ-Chef HC Strache im Publikum und Festival-Chef Bechtolf entschuldigt sich

 

5 Meldung zum Preis des Deutschen Bühnenvereins (9/2015)
Specials des deutschen Theaters
Nominierte für den Theaterpreis "Der Faust" 2015 stehen fest

 

6. Kommentar von Georg Kasch zum Ausscheiden von Schauspiel-Chef Jonas Zipf in Darmstadt (6/2015)
Rückkehr in die Provinz?
Was ist los in Darmstadt? (9743)

 7 Prozessbericht von Rupprecht Podszun aus dem Landgericht München I (2/2015)
"Bitte nix mixen!"
Streit ums Urheberrecht – Beobachtungen vom Prozess des Suhrkamp-Verlags gegen das Münchner Residenztheater wegen Frank Castorfs "Baal"-Inszenierung

 

8 Nachtkritik von Kai Krösche aus dem Wiener Akademietheater (2/2015)
Lieber Roland Schimmelpfennig, ...
Das Reich der Tiere – Roland Schimmelpfennig inszeniert sein Stück am Wiener Akademietheater und der Kritiker schreibt ihm einen wütenden Brief

 

9 Meldung aus Darmstadt (6/2015)
Abgang mit Stillschweigen
Schauspieldirektor Jonas Zipf verlässt Darmstadt

 

10 Leser*innen-Wahl (1/2015)
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