Eine neue Version von Wir

von Mark Terkessidis

14. Januar 2016. Bei einer der zahlreichen Veranstaltungen über die Zukunft der Kultureinrichtungen meldete sich der Intendant eines Theaters zu Wort und gab sich als jemand zu erkennen, der auf der Seite derer ist, die Veränderungen anstreben. Kurz darauf begann jedoch die übliche Litanei der Beschwerden – das neoliberale Umfeld, die Orgie der Kürzungen, die fortwährende Gängelung durch die Politik. Am Ende war wieder einmal klar, dass es gar kein Interesse an Veränderung gab, sondern nur den Wunsch, etwas zu "retten", nämlich den Status quo, so mickerig er auch sein mochte.

In diesem Sinne hat Wolfgang Engler, Rektor der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch", in seinem Beitrag auf der Tagung der Bundesvereinigung Freie darstellende Künste das Staatstheater zum letzten Bollwerk gegen die endgültige Machtübernahme des Neoliberalismus erklärt. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, der sich auf einem Podium am Theater Freiburg im Frühjahr 2015 dünkelhaft erstaunt gezeigt hat, dass "man" das Berliner Berliner Gorki-Theater einer "freien Gruppe" überlassen hat, klagt in seinen "Zehn Thesen zur Entwicklung von Kultur und Kulturförderung" auf nachtkritik.de, die Kunst werde dieser Tage regiert von Leitbegriffen wie "Education, Nachbarschaft, Partizipation". Dagegen setzt er eine völlig unklare Idee vom "Eigenwert künstlerischer Arbeit" und den "alten europäischen Geist von der Freizügigkeit der Künstlerförderung". Aber um wessen Freizügigkeit handelt es sich hier? Letztlich besteht hier ein nationales Bürgertum darauf, unter sich zu bleiben, die Kriterien für Kunst und ihre "Qualität" unter sich auszumachen, und dafür schließlich – ohne jede Evaluation – weiterhin von sämtlichen Steuerzahlern finanziert zu werden.

Viel "lip service", keine Veränderungen

Die Argumentation ist befremdlich in zweierlei Hinsicht. Zum einen hat der deutsche Staat die Kunst immer schon gefördert, weil er ihr eine homogenisierende Rolle zugebilligt hat in der Gemeinschaftsstiftung. Nur die totale Instrumentalisierung durch den Nationalsozialismus hat ein Intermezzo ermöglicht, in dem keinerlei Kontrolle ausgeübt wurde. Insofern benötigen die Theater und andere Kultureinrichtungen definitiv eine klare Legitimation – eine Förderung für die persönliche Freizügigkeit zu verlangen erscheint doch arg vermessen. Zum anderen führt die oft berechtigte Kritik an der allzu kurzfristig orientierten Projektförmigkeit und den Bestrebungen, die Effekte von Kunst quasi meßbar zu machen, zu einer Ablehnung von jeglichem Wandel, zur reinen Verteidigung des immer schwieriger werdenden Status quo. Wer im Apparat eine Funktion hat, der will seine Privilegien keinesfalls aufgeben – das zeigt im übrigen auch die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de.

mindthegap intervention 560 sle uProtestaktion bei der "Mind the gap"-Konferenz Anfang 2014 im DT Berlin © sle

Ja, sicher gibt es auch Leute, die Veränderungen wollen. Aber als jemand, der die Diskussion über "interkulturelle Öffnung" schon einige Zeit verfolgt, kann ich sagen, dass der "lip service" in keinem Zusammenhang steht mit den tatsächlichen Veränderungen. Als eine Gruppe von Aktivisten unter anderem des Berliner "Jugendtheaterbüros" vor ca. zwei Jahren bei der Konferenz "Mind the gap" im Deutschen Theater intervenierte, weil auf dieser Konferenz über Ausgrenzungen im Kulturbereich gesprochen wurde, ohne jene Ausgegrenzten einzuladen, da reagierte das DT, das nicht einmal Veranstalter war, sehr verschnupft: Man kündigte die Zusammenarbeit mit dem "Jugendtheaterbüro" auf. So reagieren selbst die vorgeblich Wohlwollenden im Betrieb auf Kritik – zuviel "Augenhöhe" ist dann doch verdammt ungemütlich. Man ist beleidigt, der Dialog wird ausgeschlagen, man lernt nichts. Jedem Organisationsberater würden sich angesichts solch unprofessionellen Verhaltens die Haare sträuben.

Unsinnige Kulturpolitik der "Soziokultur"-Reservate

Aber ist das nicht auch schon der Kern des Problems? Dass die Nomenklatura der hiesigen Theater häufig aus Leuten besteht, die glauben, alles zu wissen. Der Betrieb hat bislang alle Veränderungen erfolgreich abgewehrt; der Wandel konnte nur rein additiv stattfinden. Ansprüche auf Veränderung durch die "freie Szene" und die "Soziokultur" wurden durch eine im Vergleich weiterhin lächerliche Förderung in den jeweiligen Reservaten für – polemisch gesprochen – Kreativität oder Sozialarbeit eingehegt. Die Kulturstiftung des Bundes fördert dann wiederum die Zusammenarbeit zwischen dem künstlich Getrennten.

Diese Grenzziehungen erscheinen unterdessen als komplett sinnlos. Zumal dem etablierten Betrieb seine finanziell immer noch üppige Ausstattung gar nicht wirklich nutzt. Bis zu achtzig Prozent der Mittel fließen bekanntlich ins Haus, in oft unzeitgemäße Räumlichkeiten und die fest Angestellten. Hier sieht Thomas Oberender jedoch keinen Widerspruch zum "Eigenwert der Kunst" – im Gegenteil, die Institutionen, schreibt er, böten die "freiere Struktur", da sie eine langfristige Arbeit "jenseits aufwendiger Bürokratien" (!) ermöglichten. Eine "freiere Struktur" bietet der Theaterbetrieb dabei vor allem im künstlerischen Bereich, wo eine Arbeitskultur herrscht, die schwerlich modern zu nennen ist. Unproduktive Hierarchien von der Intendanz abwärts; eine Kultur der Maßregelung durch Vorgesetzte; ein seltsamer Geniekult um Regisseure, die absonderlichstes Alphatierverhalten zeigen dürfen; endlose Präsenzzeiten im Haus. Was genau könnte der berüchtigte Neoliberalismus in einem solchen Umfeld eigentlich noch anrichten?

Theater als "andere Wissenszentren"

Und warum soll es einen Widerspruch geben zwischen dem "Eigenwert" der Kunst und "Education, Nachbarschaft, Partizipation"? Würde man bei den Vertretern des Establishments im deutschen Kulturbetrieb nachfragen, wozu ihre Institutionen da sind und was die Qualität von Kunst ausmacht, dann würden die Antworten recht dünn ausfallen. Wir brauchen also einen Verständigungsprozess über den Sinn dieser Einrichtungen und die Kriterien von guter Kunst. Gegen die Klage über kunstfremde Vereinnahmungen ließe sich betonen, wie sehr Kunst immer schon involviert war in Akte der Wissensbildung und die Stiftung von Gemeinschaftlichkeit. Zumal ab den 1960er Jahren wurde thematisiert, dass die Kunst eine epistemische Alternative darstellt, eine experimentelle, oft affektiv-affizierende Weise der ästhetischen Erkenntnis der Welt. Tatsächlich sind ja viele Theater auf dem Weg dazu, eine Art anderes Wissenszentrum zu werden – es wird recherchiert, was das Zeug hält, nicht immer mit überzeugenden Ergebnissen, aber dennoch.

veddel 560 falkschreiber uGanz normales Theater 2014 in "New Hamburg" © Falk Schreiber

Was die Organisation von Gemeinschaftlichkeit betrifft, so liegt dieser Vorgang auf der Hand: Gerade im Theater kommt ein bedeutender Teil der Kunsterfahrung nur deswegen zustande, weil man sie mit anderen teilt. Wie erwähnt, hat der Staat die Kultur unterstützt, weil sie eine Rolle spielen sollte in der Schaffung dessen, was Benedict Anderson als "imaginäre Gemeinschaft" bezeichnet hat. Der Anspruch der "Nachbarschaft" könnte den Raum des Theaters erweitern in einer Zeit, in der die urbane Realität der Gesellschaft eine Vielheit darstellt. Theater könnten Orte der Aushandlung des Verschiedenen werden, Orte, an denen spezifische Kompetenzen und Wissensbestände miteinander in Austausch treten. Eine ganze Reihe von Projekten und Theatern tragen dem ja bereits Rechnung, wenn etwa "Experten des Alltags" einbezogen, biographische Geschichte erzählt oder dokumentarische Arbeitsweisen verwendet werden. Oder wenn Theater sich sozialräumlich öffnen durch Projekte wie "Heart of the City" in Freiburg, das urban gardening des Schauspiels Köln, "New Hamburg" oder "Munich Welcome Theatre".

Artistic citizenship für die Demokratie

Diese Prozesse könnten eine neue Version von Wir anstoßen, wenn sie eben nicht harmonisieren, sondern den "Widerstreit" zulassen und austragen. Dabei ist die entscheidende Frage, ob hier bloß eine Ausstellung von Differenz vor einem weiterhin bürgerlichen Publikum betrieben wird, oder ob die Theater als lernende Institutionen tatsächlich neue Öffentlichkeiten herstellen, alternative Öffentlichkeiten in einem Umfeld, in dem die traditionellen Organe der demokratischen Öffentlichkeit diese Rolle immer weniger wahrnehmen. Beispielhaft hat das Gorki-Theater sich 2015 über mehrere Wochen hinweg auf beeindruckende Weise mit dem Genozid an den Armeniern befasst. Dabei geht es gerade darum, die Demokratie partizipativ einzuüben und dabei Klischees anzugreifen, communities anzusprechen, aber eben auch zu kritisieren, Diskussionen zu führen und ziviles Engagement zu befördern. "Artistic citizenship" hat das der kürzlich verstorbene Randy Martin genannt.

musa dagh1 560 ute langkafel uSzenenbild aus "Musa Dagh – Tage des Widerstands" von Hans-Werner Kroesinger, entstanden für
den Armenien-Schwerpunkt am Gorki Theater Berlin © Ute Langkafel

Die Aufgabe der Bildung wiederum gehört ohnehin zum Auftrag der Kultureinrichtungen. Der Begriff "kulturelle Bildung" jedoch scheint mir dafür nicht angemessen. In den Richtlinien der Kultusministerkonferenz zu "kultureller Bildung" ist davon die Rede, Kinder und Jugendliche müssten an Kultur "herangeführt" werden. Im Umkehrschluss heißt das soviel wie: Sie haben noch keine Kultur. Das ist aber grundfalsch. Kinder und Jugendliche sind oft polyglott, technikaffin, in alle möglichen Formen von ästhetischer Arbeit (Stil, Mode, Musik etc.) und "participatory cultures" (Henry Jenkins) wie soziale Netzwerke, Blogs, Youtube, Gaming etc. verwickelt. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass das Personal in Kultureinrichtungen in punkto Schicht und Hintergrund durchaus homogen erscheint, wäre die Umkehrung der Lernrichtung oft angebracht.

Kollaboration! – auch der Kritiker*innen

Anstatt also "kulturelle Bildung" zu fördern, um diejenigen zu erleuchten, die noch nicht reif für "unsere Angebote" sind, sollte die Unterstützung "künstlerischer Prozesse" im Fokus stehen. Lucy Lippard hat die "Community Arts" einmal als den legitimen Nachfolger der Konzeptkunst der 1960er Jahre bezeichnet. In diesen Künsten würden die zuvor angestoßenen Verschiebungen fortgesetzt: weg vom genialischen Künstlersubjekt hin zur Subjektivität als künstlerischem Material; weg von der Produktion von Objekten hin zur Anregung von Prozessen. Solche Kunst funktioniert nach dem Prinzip der Kollaboration, was nicht bedeutet, dass sich alles in einem anarchistischen Endlosgelaber auflöst. Autorität wird als Reservoir spezifischer Wissensbestände anerkannt, aber sie muss kollaborativ begründet werden. Dabei ist nicht jede kollaborative Kunst per se gut, aber die Beispiele für gelungene kollaborative Kunstprojekte sind mannigfaltig: von David Medalla über Lygia Clark zu Tim Rollins oder Suzanne Lacy.

Die letzte Bastion der Veränderungsgegner ist natürlich stets die Qualität – solche Kunst steht unter dem Verdacht, wegen ihrer sozialen Komponente den ästhetischen Ansprüchen nicht zu genügen. Aber was sind die Kriterien für gute Kunst? Letztlich existiert hierzulande derzeit wenig mehr als ein muffiger Konsens darüber, dass die Leute in den Institutionen schon wissen, was gut ist. Müsste es nicht einen wiederum kollaborativen Prozess geben, in dem sich die Kunstschaffenden und die Öffentlichkeit explizit über die Kriterien verständigen? Und vielleicht stellt sich dann heraus, dass die Güte der Kunst durchaus etwas zu tun hat mit "Education, Nachbarschaft, Partizipation". Um sich auf den Weg zu machen, müssten viele Veränderungen gleichzeitig angestoßen werden. In der nachtkritik.de-Stadttheaterdebatte haben zuletzt Sabine Reich und Esther Boldt gute Vorschläge zum Wandel von Kunstbegriff und Arbeitskultur gemacht. Genug geklagt und "gerettet".

 

Terkessidis 120 privat uMark Terkessidis hat Psychologie studiert und in Pädagogik promoviert. Er ist freier Autor und befasst sich mit Migration, Rassismus und (Populär-)Kultur. Er unterrichtet an der Hochschule St. Gallen und unternimmt zusammen mit Jochen Kühling und vielen anderen das Projekt "Heimatlieder aus Deutschland". Sein aktuelles Buch ist bei Suhrkamp erschienen und heißt "Kollaboration".

 

Mehr lesen: Alle Beiträge zur Stadttheaterdebatte sind im Lexikoneintrag aufgelistet.

 

mehr debatten

Kommentare  
Stadttheaterdebatte Terkessidis: Entgegnung von Thomas Oberender
Kommentarpremiere auf Nachtkritik: Obwohl - ich kommentiere jetzt nicht, sondern ich wehre mich gegen eine Verleumdung. Mark Terkessidis verweist auf eine angeblich Äußerung von mir auf einem Podium des Festivals „Wer entscheidet, wer hier leben darf?" des Theater Freiburg Anfang 2015. Ich fand es ein großartiges Festival. Mark Terkessidis Aussage, ich habe mich "auf einem Podium am Theater Freiburg im Frühjahr 2015 dünkelhaft erstaunt gezeigt, dass "man" das Berliner Berliner Gorki-Theater einer "freien Gruppe" überlassen hat", entspricht weder meiner Haltung noch der getätigten Aussage, im Gegenteil. Über meine Beobachtungen und Gedanken auf dem Freiburger Festival schrieb ich am 31. März 2015 einen sehr einlassenden Beitrag auf dem Blog der Berliner Festspiele. Ich denke, er gibt ein anderes Zeugnis der damaligen Geschehnisse. Darin komme ich auch auf das Gorki-Theater zu sprechen und auf mein Podiumsgespräch mit Yael Ronen über die Aufführung "Common Ground". Hier der Link: http://blog.berlinerfestspiele.de/wer-entscheidet-wer-hier-leben-darf/ Soweit dazu. Dass man meine '10 Thesen' liest, freut mich. Dass Mark Terkessidis sie so interpretiert, verkehrt meine Intentionen in ihr krasses Gegenteil und das kann ja passieren. Aber das sagt mehr über Mark Terkessidis und seine Dünkel aus als über mich. Ich habe auch Dünkel. Aber andere.
Stadttheaterdebatte Terkessidis: pseudo-demokratisch
Stadttheaterdebatte - M. Terkessidis
"Nachtkritik" rühmt sich, das Forum zu sein für eine offene Debatte über das Stadttheater. Dabei kommen Beiträge ins Netz, wie der von M. Terkessidis. Eine seiner Forderungen lautet: "kolloborativer Prozess, in dem sich die Kunstschaffenden und die Öffentlichkeit explizit über die Kriterien verständigen". Was meint er denn damit? Abstimmungen unter den Theaterbesuchern? Deutschland sucht die beste Kunst in Sparten-Shows? Oder sollen die Theateraufführungen zukünftig von Soziologen und Pädagogen bestimmt werden, die sich bei der Spielplangestaltung an den Ergebnissen von Meinungsumfragen orientieren?
"Education, Nachbarschaft, Partizipation" sind die Kriterien des Autors für die Güte der Kunst. Wie langweilig und pseudo-demokratisch! Lieber M. Terkessidis, bitte denken Sie doch in Ihrem Sinne zu Ende und fordern Sie die Schließung aller Stadttheater, nur Mut!
Ich fordere mehr Qualitätskontrolle in den bestellten Debatten-Beiträgen!
Stadttheaterdebatte Terkessidis: kleiner Einwand
Es gibt keinen Plural von "der Dünkel".
Stadttheaterdebatte Terkessidis: seltsam undeutlich
"Nur die totale Instrumentalisierung durch den Nationalsozialismus hat ein Intermezzo ermöglicht, in dem keinerlei Kontrolle ausgeübt wurde." Verstehe ich das richtig: Nur bei den Nazis war die Kunst so richtig frei? Wer hilft? Ein seltsam undeutlich geschriebener Beitrag, wenn man beginnt, über die Sätze nachzudenken. Viel auftrumpfende Pose, wenig Argument und Zusammenhang.
Stadttheaterdebatte Terkessidis: Antwort des Autors
Na dann bleibt mir ja kaum etwas übrig, als mich für meinen Beitrag zu entschuldigen: Ich habe alles falsch gehört und selbst beim Lesen von Texten habe ich alles falsch verstanden; mein Beitrag hätte von der Redaktion verhindert werden sollen, ich bin nichts als ein Poser, der am Ende eigentlich das gute Stadtthater abschaffen möchte. Bei solchen Reaktionen fürchte ich allerdings eher einen Prozess der Selbstabschaffung. Herzliche Grüße
Stadttheaterdebatte Terkessidis: Präzisierung
#5: re an M.T.: Selbst wenn Sie alles falsch gehört und beim Lesen von Texten falsch verstanden haben? - warum bliebe Ihnen dann kaum mehr etwas anderes übrig, als sich für Ihren Beitrag zu entschuldigen? Schaun sie halt noch einmal nach, ob Sie etwas überhört oder übersehen haben. So etwas kommt schließlich vor. Ob Poser oder nicht. Die Frage von Arbeiter ist doch sehr berechtigt, sie kam auch mir beim Durchlesen Ihres Beitrages an der Stelle sofort. Die redaktion verhinmderte bestimmt nicht, wenn sie sich an dieser Stelle beispielweise präzisierten, wie Sie das genau meinten.
Stadttheaterdebatte Terkessidis: das Bollwerk wehrt ab
Ist das so schwer zu verstehen, was Mark Terkessides gemeint hat? Könnte helfen, es einfach nochmal zu lesen: "totale Instrumentalisierung durch den NS" - heißt: keine Kontrolle mehr nötig, da vollkommen beherrscht. Darauf müsste man eigentlich gar nicht reagieren, wenn das nicht ein Symptom wäre: ein Sympton der Abwehr. Dabei stehen in diesem Text so viele gute Vorschläge. Eigentlich ein "Rettungsversuch" - wäre dieses Wort nicht so überstrapaziert, dass Mark Terkessides es völlig zu recht in die Tonne kloppt. Aber was wird da eigentlich abgewehrt? Der Kern, um den es Terkessides geht: Kollaboration. Die Umwandlung der bestehenden starren hierachischen Struktur in ein lebendiges, produktives, eben: kollaboratives Umfeld. Stattdessen wird das Theater von Leuten wie Herrn Engler zum "letzten Bollwerk" gegen den Neoliberalismus verklärt. Das ist natürlich Quatsch, genauer: Ideologie, aber eines ist daran dann doch wahr: die Metapher "Bollwerk". Nun, man kann die freien Gruppen als "neoliberal" schmähen, um sein "Bollwerk" zu befestigen, aber eines kann man den "freien Gruppen" eben nicht nehmen: dass sie das tun, was Terkessides vorschlägt: kollaborativ zu arbeiten. Das ist in der starren Struktur Stadttheater so gut wie unmöglich. Und eben das will niemand, der darin arbeitet, zugeben. Aber darum geht's. Genau darum. Das wäre zu debattieren in dieser "Stadttheaterdebatte".
Stadttheaterdebatte Terkessidis: falsche Idealisierung
Nun, ich halte die Idealisierung der Arbeit in "freien Gruppen" für falsch. Dort entstehen, spätestens mit dem Eintreten von Erfolg und dem Anfallen von Verantwortlichkeiten, ähnliche Hierarchien und Abhängigkeiten wie in den "starren Strukturen". Und ob es ein Nachteil ist den technischen Apparat sozusagen als stehendes Theater fix finanziert zu haben? Die großen Erfolgsnamen die in den letzten Jahren als "freie Produzenten" genannt werden, agieren doch hauptsächlich auf den Bühnen und mit den Produktionsmitteln der "starren Strukturen".
Stadttheaterdebatte Terkessidis: pro Kollaboration
Das ist ein typisches Vorurteil. Natürlich gibt es in den freien Gruppen das Problem der informellen Hierarchien, aber dieses Problem ist ja nicht erst seit den freien Gruppen bekannt, das wurde schon viel länger politisch diskutiert, z.B. in der Frauenbewegung. Dazu gibt es viel selbstkritische Überlegungen, aber Fakt ist: eine kollaborative Praxis, wie sie Terkessides in seinem Text fordert und in seinem Buch ausbreitet, die ist bislang nur in den offenen Strukturen der freien Gruppen möglich und nicht im Stadttheater. Die vermehrte Förderung der Zusammenarbeit zwischen freien Gruppen und Stadttheatern ändert daran nichts. Dass man jetzt behauptet, die freien Gruppen wäre im Stadttheater ankommen und würden sich hauptsächlich daraus finanzieren ist genauso Ideologie wie Englers "Bollwerk". Nein, die Zusammenarbeit zwischen freien Gruppen und dem Stadttheater steht erst am Anfang und wenn etwas positives daraus entstehen kann, dann das: dass kollaborative Prozesse in diesen Strukturen ermöglicht werden. Dass die Kollaboration zwischen freien Gruppen und Stadttheater dem Stadttheater helfen, sich für kollaborative Prozesse auch innerhalb ihrer Strukturen zu öffnen. Die freien Gruppen können auch ohne das Stadttheater. Das Stadttheater aber ist es, das nicht so weiter machen kann wie bisher.
Stadttheaterdebatte Terkessidis: zum Begriff der Kollaboration
1. Gibt es inzwischen eine neue Definition für den Begriff Kollaboration? Das heißt doch eigentlich landes- und hochverräterische Zusammenarbeit?? Kann man Theaterarbeit nur als Landes- und Hochverräter betreiben??
2. Ich ahne trotzdem, was T. meinen könnte. Selbst aus dem ergäben sich Fragen: politisch verdeckte undoder nicht einsehbare Arbeit wäre schon deshalb überall möglich, auch bei Theaterarbeit, weil sie eben verdeckt undoder von außen nicht (jedenfalls nicht ohne weiteres) einsehbar ist.
3. Im Stadttheater als nachhaltiger planbare Arbeits-Struktur ist es bestimmt nicht nötig, sich internen "kollaborierenden" Strukturen zu öffnen - es wäre sonst gar nicht existenzfähig. Das Problem ist, dass die in diesen abgeschlossenen Räumen zu schnell bekannt werden, schneller als produziert werden kann. Die politische Kontrolle über künstlerische kollaborative Bestrebungen funktioniert dort genauso effektiv wie in der freien Szene. Anders in der Wahl der Kontrollmittel, aber genausop effektiv. Das Problem ist, dass Politik künstlerische und politische Kollaboration nicht voneinander unterscheiden kann. Deshalb halte ich den Begriff Kollaboration für fehlangebracht, um den beschriebenen Problemen ernsthaft beizukommen.
Stadttheaterdebatte Terkessidis: Provokation
Zu dieser Frage sollte man dann einfach Terkessides' Buch lesen. Nur so viel: klar ist es eine Provokation, den Begriff der Kollaboration so offensiv ins Feld zu führen. In Deutschland denkt man dabei nur an die vielen Leute, die einem beim Genozid assistiert haben. In der englischsprachigen Welt sieht das schon anders aus, da existiert eine bestimmte Vorstellung von "artistic collaboration". Dass dieser Begriff hier dermaßen fehlt sagt dann doch viel aus über die Wirklichkeit in diesem Land. Hier gibt es eben doch noch viele starrer Strukturen, die ihren hierarchischen Betrieb verteidigen und jegliche Form von "Augenhöhe" (zwischen Darstellern und Regie, zwischen Darstellern und Publikum usw.) genauso vehement ablehnt wie die katholische Kirche Frauen als Priester. Das kann man noch eine Weile aufrecht erhalten, dann wird sich das Problem von selbst lösen - dann wird die Politik dieses Relikt aus der vordemokratischen Epoche schleifen. Nicht ganz zu Unrecht, muss man dann leider sagen. Die Uhr tickt...
Stadttheaterdebatte Terkessidis: Menschen
Vielleicht schützen die falschen Leute das Richtige?
Korrumpierte, an Machtpfründen Interessierte schützen die Institution Theater, die - der poltischen Einflussnahme und Zwecksetzung durch wirtschaftlichen Nutzen entzogen - Freiräume auftut für das Nachdenken und die Kunst, und die als Stachel wider alles Mögliche löcken könnnte.
Es ist nun mal so: in einer Institution arbeiten Menschen. 'Strukturen' sind menschengemacht. Das als 'erstarrt' Empfundene haben Menschen hervorgebracht.
Stadttheaterdebatte Terkessidis: gewagte These
Aha, in freien Gruppen entstehen also "spätestens mit dem Eintreten von Erfolg und dem Anfallen von Verantwortlichkeiten, ähnliche Hierarchien und Abhängigkeiten wie in den "starren Strukturen"". Nicht nur im Hinblick auf die große Diversität,in denen freie Gruppen ganz unterschiedlich personell wie auch organisatorisch strukturiert sind, finde ich diese verallgemeinernde These doch sehr gewagt und kann dies aus meinen Erfahrungen alles andere als affirmieren. Belege?
Kommentar schreiben