In des Alltags grauer Not ist Zufriedenheit der Tod

von Anne Peter

Potsdam, 30. März 2008. Das Leben ist ein Rummelplatz. Oder könnte einer sein. Ein nackter Mann, am ganzem Körper zum Zebra geschminkt und mit hoch aufstehender Irokesenmähne versehen, sitzt weit zurückgelehnt mit genießerisch nach hinten gestrecktem Kopf auf der Zebrafigur eines Karussells, das sich kirmesmäßig zum Vicky Leandros-Schlager dreht: "Ich frag dich: / Was kann mir schon geschehn? / Glaub mir, ich liebe das Leben. / Das Karussell wird sich weiterdrehn / auch wenn wir auseinandergehn."

Das seltsame Zebra-reitende Menschen-Zebra lässt sich ganz im Einklang mit diesen einfach dudelnden Zeilen im Kreise herumfahren und verschmilzt dabei mit seiner schwarzweißgestreiften Umgebung. Dann senkt sich der Eiserne Vorhang vorm Karussell und lässt fünf Bedröppelte davor stehend in die Röhre gucken. Claus, einer dieser ewig Unzufriedenen, darf noch einmal seinen Satz sagen: "Ohne Liebe ist doch so ein Leben nix." Auch diese Antithese könnte Schlager sein.

Von Plastik-Zebras und Anti-Helden 

Es ist das bizarre Schlussbild eines bizarren Rummeltheaterabends, der mit Slapstick-Nummern und belachenswerten Momenten ziemlich um sich wirft: Mit pantomimischen Verlegenheitsgesten eröffnet ihn ein Clown im Zebrafell-Jackett (Peter Wagner), biegt im Spotlight die Radioantenne herum und kann im Ohrzuhaltspiel die Musikeinspielung steuern. Des Weiteren wären da zum Beispiel: Eine Leiter-herbeischlepp-aufstell-umkipp-Nummer; ein aufzuhebender Hut, der vorm Fuß davonhüpft; betrunkenes Torkeln; und ein Plastik-Zebra, dessen Aufblasloch sich am Hintern befindet. Oder: eine wunderbar clowneske Jennipher Antoni, die kulleräugt oder allerliebst grinsequietscht, bevor sie sich mit selig knautschigem Gesicht ganz eng an ihren Kurt schmiegt.

Kurt verwandelt sich am Ende in besagtes Zebra. Kurt Gromann ist "Der Zufriedene" – Titel-Nichtheld der nun am Potsdamer Hans Otto Theater von Sebastian Wirnitzer mit durchweg gut aufgelegten Darstellern zur Uraufführung gelangten Gegenfaust-Groteske von Katharina Schlender. Beide, Regisseur wie Autorin, haben schon mehrfach fürs HOT gearbeitet, vorwiegend im Bereich Kinder- und Jugendtheater. Es ist dies die dritte Premiere am Havelufer innerhalb von zwei Tagen, die mit einem "Faust I" eingeläutet wurden.

Das ewig Positive zieht uns hinab 

Wo jener seine Seele um einen einzigen Augenblick der Selbstgenügsamkeit verwettet, schwelgt der Langzeitarbeitslose Kurt ohne Unterlass in ebensolcher. Und kein Bewerbungsberater oder Freund oder Psychodoktor vermag sie ihm auszutreiben. Ihm reichen Umarmungen, oder das kleine Glück beim Betrachten des Mondes. Ein Lebenslieber und Menschenfreund – Christian Klischat leiht ihm ein versonnen lächelndes Gesicht –, für den das Leben und sogar die Liebe eigentlich ganz einfache Sachen sind. Die Bitte "Mich lasst doch verdammt noch mal zufrieden sein!" ruft Klischat ganz ernsthaft in die Zuschauerreihen und plädiert: "Umfasst das Leben nah der Hüfte! Umarmt den Menschen doch in euch!"

Andererseits ist Kurt einer, der alles mitmacht. Vor dessen Nicken es Kirsten mit der Angst zu tun bekommt. Der Seil hopst und kniebeugt und liegestützt, wenn der Motivationstrainer es verlangt – wenn auch ohne die intendierte Wirkung. Oder sich eben willenlos vom Karussell treiben lässt.

"Leidenschaft. Kannst Du die?" 

"Das Glück versteckt sich nicht in Weibern", klärt er seinen Freund Sebastian (komisch losend: Henrik Schubert) auf und windet sich vor seiner Kirsten ums Ich-liebe-dich wie Faust um die Gretchenantwort. Dass er ihrer verlustig geht, kann ihn nicht aus dem Konzept bringen. Er ist, und das ist das Beunruhigende an ihm, so seltsam "neutral". Alles Maßlose ist ihm fremd. Wut, Furcht, zutiefste Menschlichkeiten sind ihm abhanden. "Leidenschaft Kurt. Kannst du die?", fragt Kirsten einmal resolut in sein zufriedenes Kosen.

Der wirrhaarige Eckhardt, den Philipp Mauritz deutlich hinparodiert, sieht im Phlegma des Unstrebsamen gar das Ende der Menschheit dämmern: "Zufriedenheit ist doch der Tod", ereifert er sich und gibt dabei den zum kläglich durchfallenden Promotions-Anwärter verkleinerten faustischen Antipoden. Ihn lässt Schlender die "Fragen aller Fragen" stellen: "Macht das Glück den Menschen glücklich? ... Darf denn die Zufriedenheit das Ideal des Menschen sein?"

Damit wagt sich die Autorin an denkbar große, vielleicht auch ein bisschen zu große Fragen. Auf die sie jedoch dankenswerterweise keine eindeutige Antwort gibt. Ihr Kurt ist Experiment, Durchspielung eines Was-wäre-wenn. Auch die Carpe-diem-Version des Hartz IV-Empfängers. Dabei nimmt Schlender ihre Figuren liebevoll auf die Schippe. So kommt der Abend, nicht zuletzt dank der leichthändigen Regie Wirnitzers, nie als Großabhandlungstheater daher. Nicht zu vergessen: Das höhere Wesen trägt hier Zebra-Streifen.

   

Der Zufriedene
von Katharina Schlender, Uraufführung
Regie: Sebastian Wirnitzer. Bühne und Kostüme: Vinzenz Gertler.
Mit: Jennipher Antoni, Christian Klischat, Philipp Mauritz, Michael Scherff, Henrik Schubert, Peter Wagner, Friederike Walke.

www.hot.potsdam.de

Kritikenrundschau

Dirk Pilz, er schreibt in der Berliner Zeitung (1.4.2008), hat Katharina Schlenders "Zufriedenen" gemocht: "Ein Drama, das zwar nicht die weihevollen Höhen der Weltliteraturhaftigkeit ersteigt, dafür aber an die Welt noch Fragen hat." Uwe Eric Laufenbergs "acht Stunden Hausherrentheater" davor, den 'Faust' und die 'Satanischen Verse' mochte er weniger: "Laufenberg schickt seine Schauspieler … ins schummrige Innerlichkeitsland vor die neblige Kulisse des Pathoskitsches, lässt sie also groß auf Glaubhaftigkeit machen und presst sie gleichzeitig immerfort in Opern-Posen-Bilder, so dass man hinter den Gesten, Worten, Szenen dauernd die Leere gähnen sieht." Von der Stoff- und Sprachfülle der Vorlage bekomme man allenfalls eine Ahnung, "von der Brisanz, der Erzähltiefe bleibt nur bleierne Bräsigkeit." Stellen, fragt Herr Pilz mit Blick auf das Gesamtprojekt weiter, "Die Satanischen Verse" eine moderne "Faust II"-Variante dar? "Höchstens auf sehr vergröberter Ebene. Denn auch diese hemdsärmelige Inszenierung zündet vier Stunden lang lauter Nebelbomben, schindet Eindruck, tut bedeutend, surft dabei jedoch unbedarft auf der Textoberfläche herum.

"Gemessen an der Anzahl der Kamerateams pro Quadratmeter, schreibt Irene Bazinger in der FAZ (1.4.2008), "wäre das Hans Otto Theater Potsdam zumindest letztes Wochenende der Nabel der Bühnenwelt gewesen." Doch dass die Premiere der "Satanischen Verse" nach Salman Rushdies Roman ganz und gar störungsfrei verlief, sei "die einzige gute Nachricht". Was Intendant Laufenberg "unter dem Titel 'Metamorphosen' als Kombination der 'Satanischen Verse' mit dem ersten Teil des 'Faust' durchaus interessant versprach, vermochte er als Regisseur nicht im Geringsten zu halten." Zwar seien die Korrespondenzen im "Ringen um Identität und Wahrheit, Liebe und Politik, Heimat und Zukunft, Glück und Gott" einleuchtend, doch egal, "wer was treibt oder nicht an diesen jeweils vierstündigen Abenden, bei Laufenberg wird alles wie unter einer Regie-Käseglocke gezeigt." Man buchstabiere sich "verkrampft bis verstockt durch Goethes oder Rushdies Texte" und plappere sie "kreuzbrav, übereifrig, oft einfach unverständlich nach. Rennt ins Publikum oder wackelt mit dem nackten Hinterteil." Der Kosmos des "Faust" werde genauso wie das "Handlungsgewebe der 'Satanischen Verse' nicht einmal gestreift, geschweige denn interpretiert, sondern … hausbacken illustriert - und verfehlt."

Petra Kohse berichtet in der Frankfurter Rundschau (1.4.2008), dass Laufenberg die "Satanischen Verse" als "wunderbare moderne Fortschreibung von Goethes Faust" lese. Und wirklich stelle Rushdies Roman so etwas wie einen Kommentar zu der Frage dar, was die Welt im Innersten zusammenhält, auf "herrlich überbordende Weise werden hier aus zahlreichen kulturellen und religiösen Motiven immer neue Kerne herausgeschält und feuerwerksartig wieder zum Platzen gebracht." Die Potsdamer Theater-Fassung der "Satanischen Verse" sei "okay", vielleicht etwas verwirrend, "alles" habe "mit allem zu tun, ohne dass die Sache psychologisch erklärt würde." Dass Laufenbergs Ästhetik zudem einen menschelnden Theaterrealismus bediene und "Erfüllung im Effekt sucht, hilft analytisch auch nicht auf. Der Projektgedanke blieb in der Materialorganisation stecken." Das indes, schreibt Frau Kohse, sei nicht gering zu achten. "Auch wenn erst nächste Inszenierungen diesen Stoff für die Bühne wirklich nutzen werden, wird es doch Laufenberg bleiben, der ihn dorthin geholt hat."

Auf der Potsdamer Bühne, schreibt Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung (1.4.2008) kam in den "Satanischen Versen" "das schwarz gewandete Terrorkommando beim Sprengen der Passagiermaschine ... nicht recht voran. Minutenlang musste die tief verschleierte Terroristin ihre Handgranate in die Luft halten, ehe sie die Sprengladung in Anschlag bringen durfte." Das liege daran, dass Salman Rushdie die "Abschweifungen und Überblendungen, die leibhaftig auftretenden Dämonen des magischen Realismus" liebe. Uwe Eric Laufenberg und sein Mitarbeiter Marcus Mislin hätten den Roman zwar "energisch gekürzt, der epischen Fülle aber keine eigene Formidee entgegengesetzt." Obschon es oft sehr laut und immer grell bunt zugehe, bliebe doch die schlichte und friedlich in sich selbst ruhende Botschaft von Salman Rushdies Roman hörbar: "Es ist die Zufriedenheit des aufgeklärten Atheismus mit sich selbst ... Seine zentrale Pointe ist die Diskreditierung des Monotheismus überhaupt." Trotz der von ihm als verbindendes Thema identifizierten Religiösität verzichte Laufenbergs Fassung des "Faust" darauf die Gretchen-Tragödie in den Mittelpunkt zu stellen. Weil zudem "mancher schlüssige Regieeinfall … in seiner umständlichen Realisierung" untergehe, sei dieser "Faust" "keine Herausforderung für Rushdies Religionsabfertigung."

Das Theater und seine Umstände  waren "überraschend unspektakulär", befindet Reinhard Wengierek in der Welt (1.4.2008). Aber - wenig überraschend angesichts der verworrenen Vielschichtigkeit des Werks – es war auch: "langatmig" und "undramatisch." Obgleich die Regie sich alle erdenkliche Mühe gegeben habe, "dem trotz starken Beschnitts noch immer weitmaschigen Geschichtengewebe mit karnevaleskem Allotria dramatisch aufzuhelfen." Rushdies Grundthema, dass "Gottes Wort, die Offenbarung, der Koran, Menschenwerk" ist, sei deutlich geworden. Während Rushdies Roman ein "historisch-philosophisches Denkspiel", sei, "verpackt in ein opulent schillerndes, so süßes wie blutrünstiges Märchen voll saftig ausschweifender Fantasie", müsse die Kurzfassung auf der Bühne als "bescheiden schüchterner, zuweilen auch hilfloser theatralischer Versuch gelten". Und obwohl "Faust I" unter Laufenbergs Regie "arg fad" geraten sei, handele es sich bei diesem "west-östlichen Divan" um einen "feinen Coup".

  

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