Recherchetheater - Der Autor und Regisseur Tobias Rausch und die Dramaturgin Ruth Feindel porträtieren eine realistische Kunstform auf der Höhe unserer Zeit
Von jetzt an ist alles Material
von Ruth Feindel und Tobias Rausch
Berlin, 6. Januar 2016. Welthaltigkeit. Ein Wort scheint vom Aussterben bedroht zu sein. Wer vor zehn, fünfzehn Jahren mit Dramaturg*innen oder Kritiker*innen über zeitgenössische Theaterliteratur diskutierte, konnte sicher sein, dass sehr bald über die (meistens unzureichende) "Welthaltigkeit" eines Stückes gesprochen würde. Relevant sollte es sein, nicht solipsistisch. Politisch, nicht nur innerlich. Eben welthaltig. Und nun? Inzwischen lässt sich der Begriff "Welthaltigkeit" im Dschungel des Diskurses nur noch wie ein seltenes Tier mit viel Glück erblicken. Vielleicht ein Symptom?
Vom 19. bis 21. November 2015 fanden im Deutschen Theater die 1. Berliner Recherchetheatertage statt. Die Tagung versammelte erstmals fünfzehn der interessantesten Theatermacher*innen, deren Arbeiten wesentlich auf Recherchen beruhen. Dabei waren bekannte Namen wie Rimini Protokoll oder Hans-Werner Kroesinger, aber auch spannende Newcomer wie Felix Meyer Christian vom Kollektiv costa compagnie oder die Autorin Anne Jelena Schulte. Die Idee, die wir als Kuratoren mit dieser Tagung verfolgten, war es, sich darüber auszutauschen, was Recherche bedeutet, welche Methoden angewendet werden und an welchem Punkt aus Recherchen Kunst wird.
Dokumentartheater oder Recherchetheater?
Recherchetheater ist nicht Dokumentartheater. Zumindest nicht notwendig. Wer sich ein wenig damit beschäftigt, dem wird schnell deutlich, wie vielfältig, reichhaltig und ausdifferenziert das Recherchetheater inzwischen ist: Christine Umpfenbach generiert in Gesprächen mit Menschen aus dem sozialen Umfeld von NSU-Opfern hoch sensibles, im politischen Diskurs ausgeblendetes Material und lässt es auf der Bühne von Schauspieler*innen repräsentieren; das Kollektiv neue dringlichkeit aus Zürich erforscht undercover die Pick-up-Artist-Szene, um dann die eigene Erfahrung als Agent*in mit künstlerischen Mitteln zu performen; turbo pascal machen die Zuschauer*innen zu Mit-Recherchierenden und Datenerhebenden und erweitern so die O-Ton-Recherche auf die Inszenierungssituation.
Allen Formen gemeinsam, so scheint uns, ist ein Bewusstsein um das komplexe Verhältnis zur Wirklichkeit, das mit einer Recherche einhergeht: Inwiefern wird Wirklichkeit bloß dokumentiert? Wird sie nicht ohnehin mehrfach gebrochen gespiegelt und immer ko-konstruiert – egal wie "realitätsnah" das Vorgehen auch sein mag? Wie wird diese Wirklichkeit beeinflusst und verändert durch eine Recherche? Welche Verantwortlichkeiten entstehen gegenüber dieser Wirklichkeit und ihren Protagonist*innen?
Helgard Haug von Rimini Protokoll berichtete auf den Recherchetheatertagen von Darsteller*innen, die wegen der langen Spieldauer von einzelnen Aufführungen ihre durch die Inszenierung festgelegten Narrative über Jahre reproduzieren; und dies bleibt eben nicht ohne Folgen für die Sicht auf das eigene Leben jenseits der Bühne. Julia Roesler von werkgruppe2 schilderte die Skrupel, die beim Interview von Zeitzeug*innen entstehen können, wenn fragile Narrative beim Erzählen ins Wanken geraten und welch weitreichende Wirkung es für Betroffene haben kann, wenn ihr eingeübtes Selbst- und Weltbild brüchig wird. Theatermacher*innen wie der Regisseur Stefan Nolte oder Janette Mickan von lunatiks produktion dagegen legten den Fokus auf die Notwendigkeit zu Fiktionalisierung und Überformung, die das Material ins Literarische oder Surreale wendet – und erst aus dieser Distanz zur Wirklichkeit Muster in derselben erkennen ließe.
Die Spannbreite der künstlerischen Ansätze und ihre anspruchsvollen erkenntnistheoretischen Implikationen lassen sich unserer Meinung nach nicht auf den Begriff des Dokumentarischen verengen. Zumal ungeklärt bleibt, welchen Status hier das "documentum" haben soll. Welche Art von Wirklichkeitsverbürgung findet statt, was genau wird verbürgt, und wer ist der Bürge? Dass dennoch immer wieder in Kritik und Theaterwissenschaft pauschalisierend von Dokumentartheater geschrieben wird, scheint einer Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion (oder vielleicht einfach nur theaterhistorischer Gewohnheit) geschuldet zu sein.
Offenheit zur Irritation
Sprechen wir also von Recherchetheater. Dieser Begriff verschiebt die Perspektive und legt den Fokus nicht auf die Inszenierung, sondern auf den Prozess, wie Recherchen entstehen, weiterentwickelt und schließlich in ein künstlerisches Ergebnis transformiert werden. Recherche kann bedeuten, Menschen zu befragen, einen Ort oder Akten zu erkunden. Möglicherweise ist Recherche aber auch eine Art Haltung, mit der Künstler*innen in die Wirklichkeit hinausgehen und sich von ihr irritieren lassen.
Ein gutes Beispiel sind die Neukölln-Recherchen, welche die Autorin Anne Jelena Schulte für das Gorki-Theater anstellte. Während der Arbeit merkte sie, dass ihre Gesprächspartner*innen ständig jene Klischees reproduzierten, die man medial vorgeprägt von ihnen auch erwartete. Vielleicht hätte man diese Ergebnisse als Beleg für die erschütternde soziale Realität in Neukölln zu einem politisch schlagkräftigen Stück verarbeiten können. Schulte entschied sich anders. Sie fragte danach, wonach Neuköllner Jugendliche normalerweise nicht gefragt wurden: nach Liebe. Und es entstand ein ganz anderes Bild dieses Bezirks, dieser Menschen, als wir es schon längst zu kennen meinen.
"Oft erkennt man ja ziemlich schnell, wie wenig man eigentlich weiß", formuliert Hans-Werner Kroesinger mit Blick auf seine eigenen Nachforschungen diese Notwendigkeit zur Selbstüberprüfung, in Recherchen mehr und anderes herausfinden zu wollen als die Bestätigung der eigenen Überzeugungen oder Vorurteile.
Recherche bedeutet Offenheit. Den Mut, das Ziel aus den Augen zu verlieren. Die Kontingenz von Suchen und Finden zuzulassen. Um daraus produktive Neuorientierungen entstehen zu lassen. Das zeigt auch die Arbeitsweise des Regisseurs Stefan Nolte, der Wert darauf legt, das eigene Tun permanent in Frage zu stellen und so einen wechselseitigen Korrekturprozess von Ausrichtung der Recherche und künstlerischem Konzept zu forcieren.
In seinem Impulsvortrag auf den Recherchetheatertagen postulierte der Entwicklungspsychologe Günter Mey von der Hochschule Magdeburg-Stendal drei Prinzipien aus der Qualitativen Forschung, die auch für die künstlerische Recherche fruchtbar werden könnten: Offenheit – Fremdheit – Kommunikation. Den im Theater noch oft verwendeten Begriff des "Zeitzeugen" lehnt er ab, als zu passiv für das sich dahinter verbergende aktive, subjektive Erleben. Stattdessen spricht er von "Mit-Forschenden", die beispielsweise auch das Recht haben müssen, selbst Fragen formulieren zu dürfen.
Das führt zu der schwierigen Frage, welches Maß an Partizipation für die künstlerische Recherche notwendig und zuträglich ist. Die meisten Rechercheprojekte bedeuten eine kollektive Autorschaft: Aber wer spricht hier für wen? In der konkreten Inszenierungsarbeit, so David Benjamin Brückel von der Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden, führt dies zu komplizierten Aushandlungsprozessen, die entstehen können, wenn nicht-professionelle Darsteller*innen ihre eigenen Geschichten auf der Bühne performen. Wer trifft letztlich die Entscheidungen, was und wie etwas gesagt wird? Inwiefern gibt es einen Auftrag der Regie, die Beteiligten auf der Bühne vor emotionalem Exhibitionismus und unfreiwilliger Selbstdekonstruktion zu schützen? Wo sind die Grenzen zum freundlichen Paternalismus, der Minderheit X oder Problemgruppe Y nun erlaubt, auch einmal öffentlich sprechen zu dürfen? Aber bitte nur, wenn keine Tränen kommen?
Mit der Aussage "Ab jetzt ist alles Material" markiert die Regisseurin Uta Plate den Punkt in einem Inszenierungsprozess, ab dem es ihr nicht mehr um Authentizität und Besitz geht. Das heißt, dass auch die eigene Geschichte nun fremd wird. Nichts ist von selbst Material, sondern es wird zu einem solchen erst durch einen komplizierten Prozess der Loslösung, Verselbständigung, Ent- und Neukontextualisierung.
Ist Recherche dann lediglich notwendige Vorarbeit zur Material-Generierung, die sich journalistischer, sozialwissenschaftlicher Methoden bedient oder "irgendwie" intuitiv abläuft? Oder ist die Recherche selbst ein künstlerischer Vorgang, der seine eigenen Methoden und Ästhetiken ausbildet? Was bedeutet das für die Rezeption?
Entgrenzung der Formen
Zwei Tendenzen meinen wir zu beobachten: die Entgrenzung der Formen und die Globalisierung der Recherche. Ein wichtiger Impuls für das zeitgenössische Recherchetheater waren die Heimspiel- und Doppelpassförderungen der Kulturstiftung des Bundes. Beim öffentlichen Videoroulette, das am Ende der Recherchetheatertage stattfand, konnten Zuschauer*innen per Zufallsgenerator Filmausschnitte von Inszenierungen der Teilnehmer*innen erlosen. Drei der insgesamt vier gezogenen Videos stammten dabei aus Produktionen, die durch die Kulturstiftung gefördert wurden. Ein interessanter Zufall, der zeigt, wie kulturpolitisch ästhetische Entwicklungen gesteuert werden. Während der inzwischen ausgelaufene Fonds Heimspiel lokale Recherchen und Stadtprojekte förderte, orientieren sich inzwischen viele der Recherchetheatermacher*innen international. Dahinter scheint die Erkenntnis zu stecken, dass sich lokale Stoffe nicht mehr lokal erzählen lassen, sondern nur in ihrer Einbettung in globale Zusammenhänge.
Das wirft neue Fragen auf: Wie gehen wir mit dem (Nicht-)Verstehen fremder Kulturen um? Felix Meyer-Christian, der unter anderem in Afghanistan und Japan recherchiert, wies auf den Zwiespalt hin, in den man gerät, wenn man zu viel erklären will oder ohne Erklärungen in Exotismus schwelgt.
Wie lässt sich eine grenzüberschreitende Recherche überhaupt produktionstechnisch bewältigen? Und wie vermeidet man einen Recherche-Imperialismus, der die Deutungsmacht in den Händen der europäischen Theatermacher versammelt? Ein interessantes Modell, das auf diese Fragen reagiert, legt Clemens Bechtel vor. Für sein Projekt Hunger for Trade am Deutschen Schauspielhaus Hamburg knüpfte er ein globales Recherche-Netzwerk mit Theatern aus acht weiteren Ländern. Jedes Theater erarbeitete seine eigene Produktion, recherchierte dafür im eigenen Land, konnte aber auch den Partnerinstitutionen Recherche-Aufträge geben. Alle beteiligten Partner wurden auf diese Weise Auftraggeber*innen und Auftragnehmer*innen. Eingespeist wurden die Forschungs-Ergebnisse in eine Recherche-Datenbank, aus der sich alle Theater bedienen konnten. Was relevante Fragen, Themen, Felder sind, wurde prozessual gemeinsam bestimmt.
Zuwachs an Komplexität
Je professioneller die Recherche in den vergangenen Jahren geworden ist, je ausgefeilter ihre Methoden, desto komplexer werden auch die politischen, sozialen, psychologischen oder kulturellen Zusammenhänge, die durch Recherche sichtbar werden. Aber wie kann das künstlerische Produkt dieser Komplexität gerecht werden?
Mit "Hans Schleif" haben der Regisseur Julian Klein und der Schauspieler Matthias Neukirch in der Box des Deutschen Theaters Berlin ein Inszenierungsereignis geschaffen, das dem verminten und unüberschaubaren Feld der NS-Mittäterschaft in hochkonzentriertem Rahmen nachgeht. Mit viel Beharrlichkeit und letztlich angstfrei erforscht Matthias Neukirch das Leben seines Großvaters, eines ambitionierten Archäologen und SS-Funktionärs. Dabei wird die Recherche selbst zur Dramaturgie: Julian Klein lässt in immer neuen Erzählvarianten und überraschenden Wendungen die ganzen Verwicklungen, Fragen, Widersprüche und Denkprozesse sichtbar werden, die diese Recherche bestimmten. Immer wieder gerät der Schauspieler während der Aufführung ins Gespräch mit dem im Publikum anwesenden Regisseur, um Erkenntnisse zu überprüfen oder zu hinterfragen. So ist es nur konsequent, diesen Prozess in ein Publikumsgespräch zu verlängern, das Teil des Stückes ist.
Andere Inszenierungen sind ausufernde Gesamtkunstwerke, die sich aus Schauspiel, Video-Parcours, literarischer Publikation (wie Stefan Noltes und Paul Brodowskys Spurensuche Grafeneck am Theater Freiburg) zusammensetzen, oder suchen nach Mehrfachverwertungen als Dokumentarfilm, Webpräsentation und Tanzperformance (wie Conversion 2 von costa compagnie am Theater Heidelberg). Vielleicht erzeugt die Unabschließbarkeit der Recherche das Bedürfnis, die Ergebnisse nicht ausschließlich in einem geschlossenen Theaterabend kondensieren zu müssen. Vielleicht steht auch der Anspruch dahinter, nicht nur Ergebnisse zu präsentieren, sondern die Rezeption auf den Prozess auszuweiten. Weil die Kunst nicht erst auf dem Schreibtisch eines Autors oder mit dem Text eines Schauspielers beginnt. Vielleicht aber auch, um der Komplexität des recherchierten Feldes durch komplexe Darstellungsformen gerecht zu werden.
Präsenz als Selbstzweck oder inhaltliche Tiefe?
In der Hinwendung zur Komplexität des Wirklichen ist das Recherchetheater ein "Realismus" auf der Höhe unserer Zeit. Das sei Einwänden erwidert, die in jüngsten Debatten unter dem Siegel des Realismus vorgebracht wurden. In seiner Polemik gegen alle Theaterformen, die kein dialektisches Wirklichkeitsverständnis zeigen und nicht vom Klassenstandpunkt aus unsere Welt beschreiben, graust sich Bernd Stegemann ("Lob des Realismus") vor einer Welt, die angesichts ihrer Ausdifferenzierung in Komplexität "erstarrt". Man darf sich fragen, welche Formen von Ausdifferenzierung er damit meint: die der Geschlechternormierungen? Der Musikstile? Der Familienmodelle? Wer die Workshops und Diskussionen auf den Recherchetheatertagen verfolgt hat, kann dies nicht so stehen lassen.
Das zeitgenössische Recherchetheater ist in der Lage, Komplexität erfahrbar zu machen, analytisch zu durchdringen und mit ihr umzugehen. Doch Stegemann scheint viele der Entwicklungen gar nicht zu kennen. Wie man angesichts der inhaltlich reichhaltigen, nuancierten und erhellenden Arbeiten von etwa Gudrun Herrbold, Julia Roesler oder Janette Mickan davon sprechen kann, dass es dem "Dokumentartheater" (sic!) um "Realness" und "Präsenz als Selbstzweck" ginge, die in erster Linie auf den Kitzel des Realen zielten, bleibt ein Rätsel. So viel wurde bei der Tagung klar: Recherche bedeutet allen Teilnehmer*innen stets eine ernsthafte Beschäftigung mit einem Feld, und keinen Schlüsselloch-Voyeurismus. Möglicherweise verwechselt Stegemann hier theaterwissenschaftliche Theorie von Erika Fischer-Lichte und Hans-Thies Lehmann mit den realen Stücken und Inszenierungen.
Wir seien "Gefangene im Maybe der Kontingenz" schreibt Stegemann und behauptet, dass "immer mehr Menschen an den Dogmen der Kontingenz zweifeln." Zu gern wüsste man, wen er eigentlich damit meint. Vielleicht hat die Globalisierung und Radikalisierung des Kapitalismus, so wie es Stegemann nahelegt, tatsächlich etwas damit zu tun, dass gesellschaftliche Prozesse schwerer planbar, kontingenter und undurchdringlicher werden. Dem wird man aber nicht Herr, indem man ständig pauschalisierend von "dem" Kapitalismus, "der" Postmoderne und "immer mehr Menschen" schreibt. Komplexität kann nur durch die Fähigkeit zur Komplexität bewältigt werden und Kontingenz nicht durch ihre Leugnung. Was sich Stegemann von der Welt (und offenbar vom Theater und seinen ästhetischen Spielweisen) wünscht, nämlich weniger Ausdifferenziertheit, das ist ganz offensichtlich eher ein Kernproblem seiner Analysen.
Wie schwierig es ist, Kontingenz zuzulassen, sie nicht durch affirmative Narrative wegzuerklären, das wird besonders bei Interviewprojekten deutlich. Oft gibt es so etwas wie eine "Euphorie der Recherche", wenn sich Menschen im Gespräch plötzlich öffnen und Worte finden für etwas, das bislang unaussprechlich war. Dann können auch schockierende, schwer zu ertragende Erfahrungen von Kontingenz zum Thema werden – Krankheit, Verlassensein, Verlust von Glaube. Aber das Theater kann etwas, was im Alltag häufig unmöglich ist: Kontingenz in einer Form einzufangen, und sie trotzdem in der Schwebe zu halten; sie für Neuinterpretationen des eigenen Lebens, gesellschaftlicher Zusammenhänge, aber auch von Geschichte offen zu halten.
Ins Zentrum der Theaterlandschaft
Recherchen benötigen Zeit. Die zehn Jahre, die der investigative Journalist und ehemalige BND-Mitarbeiter Wilhelm Dietl in seinem Impulsvortrag bei den Recherchetheatertagen für Recherchen im Nahen Osten ansetzte, bleiben im Theater wahrscheinlich Utopie. Aber deutlich wird auch: Eine seriöse Recherche ist aufwendig. Wie aber lassen sich auch im Stadttheater solche Prozesse produktionstechnisch und dispositionell organisieren – und letztlich auch finanzieren?
Für DT-Intendant Ulrich Khuon heißt dies, dass sich auch die Häuser diesen Anforderungen an größere Flexibilität stellen müssten. Das bedeutet, andere Modelle als die üblichen sechswöchigen Probenzyklen en bloc zu finden. Das bedeutet, dass Schauspieler*innen möglicherweise schon im Vorhinein in die Entstehung der Produktion eingebunden sind. Das bedeutet, dass eine Recherche-Infrastruktur aufgebaut und betreut werden muss.
Die Wahrnehmung, Rechercheprojekte seien etwas für das Beiprogramm auf der Studiobühne und vom Aufwand her knapp oberhalb einer szenischen Lesung angesiedelt, stimmt schon lange nicht mehr. Das gilt auch für die finanzielle Ausstattung von Rechercheprojekten. Sie sind im Zentrum der Theaterlandschaft angekommen. Sie öffnen die Theaterhäuser für die Wirklichkeit draußen, bringen neue Themen und bislang ungehörte Perspektiven auf die Bühnen. Insofern ist die "Welthaltigkeit" sicher kein Problem mehr. Im Gegenteil, denn vielleicht geht es nun eher um die Frage, wo die Kunst eigentlich beginnt.
In dieser Perspektive ist das Recherchetheater auch keine Konkurrenz zum Literaturtheater, sondern eine weitere Spielart im Spektrum des dramatischen Bühnenhandelns, die je nach Thema und künstlerischem Ansatz aufklärerisch, poetisch, politisch relevant oder auch langweilig und missglückt sein kann. Die Übergänge zum Literaturtheater sind inzwischen sowieso fließend: Autor*innen, die recherchieren, und Recherchierende, die ihr Material sprachlich und dramaturgisch zu Literatur verdichten.
Systematisieren, ohne zu standardisieren
Günter Mey vergleicht die unglaubliche Vielfältigkeit der Recherche- und Umsetzungsformen, die parallelen Entwicklungen von Methoden, das großes Potenzial und die enorme Kreativität mit der Situation der Qualitativen Sozialforschung vor zwanzig Jahren. Ein kreatives Chaos, das neue Tore aufstößt. Nun gälte es, diese Formen zu systematisieren, ohne zu standardisieren. Standards kann es nicht geben, da sich die Beteiligten für jedes recherche-basierte Theaterprojekt entlang des Themas, Ausgangspunktes oder der initialen Forschungsfrage von Neuem auf die Suche machen nach den inhaltlich adäquaten Mitteln der Wirklichkeitserschließung.
Aber man könnte sortieren, welche Forschungsstrategien zu welchen Mitteln greifen und welche Implikationen damit verbunden sind. Die aktuelle Entwicklung des Recherchetheaters stellt uns also ein Bündel an Fragen: erkenntnistheoretische, produktionstechnische, ethische und ästhetische. Es öffnet sich ein neues Feld. Wir könnten uns auf die Suche machen, dieses zu erkunden.
Tobias Rausch (freier Regisseur und Autor, Foto: Felix Grünschloss) und Ruth Feindel (Dramaturgin und Lektorin) haben die 1. Berliner Recherchetheatertage am Deutschen Theater Berlin zusammen mit Birgit Lengers (Leiterin Junges DT) kuratiert.
Mehr zu der Realismus-Diskussion um Bernd Stegemanns Buch "Lob des Realismus": Auf die Buchvorstellung und Diskussion in der Berliner Akademie der Künste reagierte der Autor und Regisseur Kevin Rittberger. Ihm wiederum antwortete die Autorin Kathrin Röggla.
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Nebenbei: wo ist gute Literatur ohne Recherche???
Geht's jetzt um Recherchetheater vs. Literatur? Quark, Quark, Quark...
Gibt es auf nachtkritik nicht genügend Threads, in denen man gefahrlos über Gott und die Welt schwafeln darf? Auf geht's, das Abendland geht eh' gerade überall unter.
Lesen Sie doch bitte den Text, dann kann man darüber sprechen und streiten, dies hier ist lächerlich!
Ich habe einiges an guten Rechercheprojekten gesehen, von teilweise deutlich höherer Qualität als Beispiele des 'klassischen' Theaters oder Authorentheaters. Ja, und ich habe superschlechte Rechercheprojekte gesehen. Ist daher die ganze Gattung 'unterkomplex', 'eitel', 'langweilig', 'selbstgefällig', 'zum Gähnen'?
"Na, das wird man doch schon noch sagen dürfen!"
Nee, darf man nicht.
apropos selbstgefällig und eitel; wer Sätze mit "Der Ansatz für Literatur ist schon komplex..." beginnt, sollte besser nicht über einen Mangel an Literatur lamentieren. Wenn es euch im Leben an Literatur fehlt, dann geht in die nächste Buchhandlung und kauft euch Bücher. Setzt euch hin und lest sie durch, anstatt von zeitgenössischen BühnenkünstlerInnen zu erwarten, euch aufgrund eures Mangels an Fantasie und Eigeninitiative die immer gleichen Geschichten vorzuquatschen und diese unerträgliche Einseitigkeit des Dramenkanons damit stets zu reproduzieren. Das Theater ist gottlob nicht mehr darauf angewiesen ausschließlich "dramatisch" zu sein, sondern beherbergt eine mannigfaltige Vielfalt an Formen und Interessen. Recherchetheater ist eine davon. Eine Notwendige. Fendel/Rausch haben das super dargelegt, das Interesse der ZuschauerInnen gewaltig. Und natürlich scheitern Projekte in diesem Segment ebenfalls. Aber ich möchte erst gar nicht an all die unfaßbar miserablen, gescheiterten und langweiligen Tschechow-, Goethe-, Grass-, Ibsen-, Shakespeare- und sonstige Tote-Alte-Männer-Literatur-Abende denken... Also ab zu Thalia mit euch - die Buchhandlung, nicht das Theater.
Lang ist der Text...mag sein...aber durchdacht?
Nicht der Begriff "Kontingent" wird angemessen eingegrenzt..wo er doch wahrlich vielschichtig angewendet wird. So verwendet ihn Stegemann eindeutig im Sinne Luhmanns. Systemtheoretisch eben. Ob dies die Autoren auch so sehen bleibt unklar...abgesehen davon ist die Polemik bezüglich "Bücher kaufen" unangebracht und unterkomplex wie so mancher "Recherchetheater Event"
Aishylos recherchierte doch auch schon persoenlich in der Schlacht von Salamis. Der Unterschied aber, er zitierte keine Theorie, die Theorie zitierte ihn. Irgendwie scheint die Dramaturgie tendenzieller Natur Aepfel mit Birnen zu verwechseln. Liegt das an der Kreativitaet? Es bleiben Fragen.
Das müsste also Stegemann noch leisten, sonst muss er sich eben auch Kritik im Sinne von Nörgelei an seinen Publikation gefallen lassen. "Kontingent" klingt auf alle Fälle nach Lagerbeständen oder beabsichtigten militärischen Truppenverschiebungen. Handelsbegriff oder militant versaut. Sollte man einen besseren finden, wenn es um Theater geht.
Zum Beispiel, weil sie, die Kunst, die nicht erst erlebt, sondern gleich recherchiert wird, unberechenbare Wirkungen zeitigen, beunruhigend sein kann, politisch unkontrollierbar, wissenschaftlich nur mit Mühen und nicht sofort einzuordnen ist???
Ist für Schauspieler nicht der normale Probenvorgang eine einzige Recherche sofern ein Dramentext probiert wird??
Genügt für die Erstellung eines bühnentauglichen Dramentextes nicht die autorseitige Erfahrung der beobachteten Probenarbeit von Schauspielern?? Warum sollte der Text, der ansonsten aus der autorimmanenten Welt-Haltigkeit besteht, bühnentauglicher werden, wenn vorab Schauspieler in die Recherchen eingebunden werden??? Oder, wie Herr Khuon überlegt, wenn die Autorin oder der Autor über die Dauer der Texterstellung vom Theater finanziert wird???
Natürlich stellen sich diese Fragen nicht, wenn es erst gar nicht um Inszenierung von Dramentexten sondern um Themen-Darstellung bzw. Problemfelder-Darstellung auf dem Theater mit theatralen Mitteln geht.
Was kompliziert ist. Möglicherweise hochkompliziert.
Aber nicht komplex.
Es gibt nicht zu viel, sondern leider zu wenig Komplexität auf dem Theater.
Theater hält Komplexität im Moment hier gar nicht aus. Das liegt möglicherweise an den demokratischen Strukturen. Demokratie ist kompliziert und Kunst ist komplex. Deshalb begreift Demokratie Kunst zunächst als staatsfeindlich, solange sie nicht genug Wissen über ihr unbekannte Kunst zusammengetragen hat. Wäre das möglich???