Das Kabarett vom Urknall der Moderne

von Kaa Linder

Zürich, 12. Januar 2016. Neumarkt 5, so lautet die geschichtsträchtige Adresse des kleinen Theaterhauses in der Zürcher Altstadt, das in diesem Jahr sein 50. Jubiläum feiert. Mit einem eigens dafür kreierten Festakt unter dem Titel "Was tun?" – wobei der Titel von Lenins Schrift aus dem Jahr 1920 zitiert wird. Wladimir Iljitsch Lenin weilte im Jahr 1916 einen Steinwurf von den Räumlichkeiten des Theaters entfernt in der Spiegelgasse 14 im Exil. In diesen Gemäuern (dem späteren Cabaret Voltaire) riefen anfangs des 20. Jahrhunderts Kriegsflüchtlinge die Moderne aus. All das müsste wissen, wer sich den fast zweieinhalbstündigen Festakt zu Gemüte führt.

Denn Regisseurin Friederike Heller und Dramaturg Ralf Fiedler wühlen ausgiebig im historischen Humus dieses Hauses, seiner Vergangenheit "als Ort progressiver und sozialdemokratischer Aufklärung", wie die blumige Eröffnungsrede des Kulturbeauftragten betont. In einer Vergangenheit, aus der das Credo künstlerischer Erneuerung hervorgegangen ist. Das Theater Neumarkt war seit jeher der subventionierte Spiegel, den die Stadt sich immer mal wieder vor die Nase hält, um ihren Bürgern zu zeigen, was man eine Tramstation weiter, am Schauspielhaus, nicht zu sehen bekam: Avantgarde. Wie man dieses Credo der künstlerischen Erneuerung allerdings angeht in einer Zeit, wo die Moderne sich längst überholt hat, mit dieser Frage ringt der "Festakt" auf allen Ebenen.

Krokodil an der Wand

Vielversprechend ist der weissgetünchte Laufsteg, an dessen Breitseiten die Zuschauer dreireihig übereinander auf bunten Kissen aufgereiht sind (Bühne: Michael Simon). Die Miniatursitzflächen sind mit Tischchen und Lämpchen versehen, Servietten mit Schweizerkreuz liegen parat, es gibt Saalbedienung, Bier und Wein, schliesslich soll gefeiert werden. An der Wand hängen – ganz Dada – ein Krokodil, eine furchterregende Löwenmaske und ein Fahrrad. Links und rechts der Flucht leuchten rote Samtvorhänge. Zweifellos sind wir im Kabarett. Das Versprechen könnte grösser nicht sein.

Wastun1 560 CasparUrbanWeber uFlugblätter in Arbeiterverein-Atmosphäre oder Ist das schon Kunst? © Caspar Urban Weber

Umständlich und selbstverständlich viersprachig eröffnet ein Mitarbeiter des Kulturdepartements (Marcus Signer) den Festakt, zitiert aus den Programmheften von 1966 und macht deutlich, was dieses Haus auch war: ein Ort der Widersprüche. Eine Heimat für Sozialisten genauso wie für Zünfter, für den Arbeiterbildungsverein genauso wie für Künstlerinnen und Künstler. So wird in diesem Festakt weniger das Theater Neumarkt gefeiert als die Geburtsstunde des Dadaismus vor 100 Jahren.

Kunst politisieren

Die Protagonisten, welche damals das politische und das künstlerische Profil der Stadt kennzeichneten, sich um die Vormacht des Denkens und die Begrifflichkeit der Freiheit stritten, treten denn auch auf und streiten anstatt zu feiern. Allen voran Vladimir Iljitsch Lenin (Martin Butzke), der mit grimmiger Miene, wachsendem Furor und zunehmender Erschöpfung zur Revolution aufruft und dabei durch und durch heutig klingt: "Man muss lernen, der eigenen Regierung nicht zu trauen." Lenins Gegenpol ist Hugo Ball. Marcus Signer spielt ihn mit fiebriger Unruhe und lässt die narkotischen Abgründe ahnen, denen entlang der Pionier des Lautgedichts torkelte. An seiner Seite stöckelt die Künstlerin Emmy Hennings (Yanna Rüger) mit wechselnden Perücken über den Laufsteg und kompensiert die männliche Rhetorik mit viel Geschrei und in die Luft gestreckten Fäusten.

Wastun2 560 CasparUrbanWeber uDiskutieren und Feiern in "Was tun?" © Caspar Urban Weber

Die Kollision von Politik und Kunst findet in einer Figur ihre interessanteste Verkörperung: im Arbeiter und Sozialisten Fritz Münzenberg, der im Laufe des Abends zu Tristan Tzara mutiert und sich mit Hugo Ball wegen Emmy anlegt. Maximilian Kraus verkörpert diese Doppelrolle sinnstiftend: den Sozialisten Münzenberg gibt er stotternd und unscheinbar, den Dadamitbegründer Tzara selbstbewusst, sexy und eloquent. "In mir wirkten schon immer zwei gegensätzliche Mächte, die eine verlangt Geduld und Disziplin, die andere Radikalität."

Auf Trockeneis

Diese gegensätzlichen Mächte wären sowohl inhaltlich wie szenisch ein Versprechen. Stattdessen gibt's ermüdende Rhetorik, lautmalerische Gedichtrezitation, viel Trockeneis und zum Schluss eine Performance mit weisser Farbe auf nackter Haut.

Zwischen schriller Revue und trockener Geschichtslektion schwankt die Inszenierung und scheint sich dabei nicht so recht über den Weg zu trauen. Der Live-Sound von Peter Thiessen übersetzt den Tenor der Ratlosigkeit und Verunsicherung – die vor 100 Jahren möglicherweise kaum grösser gewesen sein mögen als heute – in melancholische Songs. Die schweren Bässe wummern alle feinen Zwischentöne zu. "Alle Fragen wurden gestellt" resümiert der Kulturbeauftragte zum Schluss. Auf die Antworten
müssen wir noch ein Weilchen warten.

Was tun? Ein Festakt
Jubiläumsproduktion des Theater Neumarkt
Von Friederike Heller mit Musik von Peter Thiessen ("Kante")
Regie: Friederike Heller, Bühne: Michael Simon, Kostüme: Sabine Kohlstedt, Dramaturgie: Ralf Fiedler.
Mit: Martin Butzke, Johannes Dullin, Maximilian Kraus, Yanna Rüger, Marcus Signer.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten Minuten, eine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

Kritikenrundschau

Dada- und Revolutions-Protagonisten in eine fiktive Begegnung zu zwingen, sei zwar nicht neu, so Christian Gampert im SWR (13.1.2016), aber theatralisch produktiv – und lustig. Die Inszenierung halte "eine schöne Balance zwischen antibürgerlicher Spinnerei und politischem Ernst. Und das macht Spaß.“

"Die Bühne ist langgezogen, genauso wie die Inszenierung, was nicht zu deren Vorteil gerät", findet Katja Baigger in der Neuen Zürcher Zeitung (14.1.2016). Die Stärken von Regie, Schauspielern, Bühnen- und Kostümbildnern dieser Produktion seien es, "historische Ferne zu erzeugen, die weder überkandidelt noch humorlos wirkt". Zwischen den Polen Politik und Kunst oszilliere der Abend, der sich weniger an der Geschichte des Hauses als am Dada-Jubiläum abarbeite.

"'Was tun?' ist nicht so chaotisch wie ein Abend im Cabaret Voltaire, nicht so blutig wie die Oktoberrevolution, und natürlich wird die Frage nicht beantwortet, aber gerade darum ist es ein gelungener Festakt zum Fünfzigsten des Theaters Neumarkt und zum Hundertsten von Dada", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.1.2016).

"Was tun?" sei "am Ende doch weniger Festakt als Einführung in die Wirrnis einer Zeit und ihre durcheinanderwirbelnden Hoffnungen", schreibt Christoph Schneider im Tagesanzeiger (14.1.2016). Manchmal wirke es "wie ein in szenische Bewegung gesetzter Volkshochschulkurs". "Wobei es dem Theater nicht schadet, wenn es manchmal auch bildet", so Schneider. Aber: Ein wenig "melancholisch und sogar nekromantisch" sei der Abend eben doch, denn er könne "durch die Sehnsucht nach Radikalität die Radikalität nicht ersetzen".

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