Das Prinzip Mann

von Wolfgang Behrens

Berlin, 20. Januar 2016. Was war denn das jetzt? Nach den obligatorischen fünf Stunden – darunter macht's der Noch-Volksbühnen-Intendant nicht mehr – schüttelt man sich erst einmal einen Trip aus den Gliedern, dessen expressive Finsternis einem auch bei Frank Castorf nicht alle Tage begegnet. Diesmal hat man sich nicht – wie noch bei den Karamasows – in den Bert Neumann'schen Sitzsäcken gefläzt: Zum düster dräuenden Turm gestapelt, hinter dem Kunstnebel im Gegenlicht wallt, laden sie vielmehr zum Schauen ein. Eine Abraumhalde? Ein mythischer Berg? Ein rauchender Lavahaufen? Den Grundraum Neumanns jedenfalls erleben wir jetzt aus der umgedrehten Perspektive, auf der Bühne sitzend, während sich die Schauspieler*innen im Zuschauerraum so exaltiert wie inbrünstig auf und um diesem/n Sitzsack-Turm herum abrackern.

Von der radikalen Andersheit

Gegeben wird Friedrich Hebbels "Judith". Ein Stück, dessen alttestamentarisch kraftstrotzende, wenn nicht kraftmeiernde Gestalten schon den Spott eines Karl Kraus herausgefordert haben: Eine Parodie sei diese Tragödie, die den Nestroy'schen Hohn (Nestroy hatte Hebbels "Judith" neun Jahre nach der Uraufführung 1849 recht prominent veräppelt) schon in sich trage und die auf die Grimasse angewiesen sei. Und ja, sieht man Martin Wuttke anfangs neckisch über die Sitzsäcke hüpfen und klettern, breitbeinig watschelnd und aus federnden Knien staksend, mit kahlem Schädel und Pferdeschwanz, hört man ihn fisteln und krächzen, so scheint die Grimasse nicht fern: In diesem brutalen Baals-Jünger Holofernes steckt viel Arturo Ui, eine Rolle, die Wuttke seit nunmehr über 20 Jahren am nur zwei Kilometer entfernten Berliner Ensemble einzigartig komisch verkörpert.

judith 560 ThomasAurin HKraft des Kapriziösen: Birgit Minichchmayr als Judith, Martin Wuttke als Holofernes © Thomas Aurin

Doch der parodistische Zungenschlag bleibt an diesem Abend Episode, nur ab und an kehrt er zurück, am kräftigsten wohl, wenn zur fröhlichen Wiederbelebung des langsam ermattenden Publikums in der fünften und letzten Stunde der Aufführung ein echtes Kamel die Bühne entert. Bis dahin aber hat sich Castorf von der angemaßten Wildheit der Hebbel'schen Figuren anstecken lassen, hat die Selbstermächtigungen und Unbedingtheiten einer Judith und eines Holofernes zum Anlass genommen, sich im wilden Denken zu üben. Denn jenseits des Hebbel-Textes wird viel Wildes und Wirres geraunt: Man hört von Riten und Kulten, von Heliogabal und vom Schisma des Irshu (wer, bitte, kann mir sagen, was das ist?), von der Scheidung des Geistes ins männliche und weibliche Prinzip, von der radikalen Andersheit und von der ursprünglichen Kraft des Hasses. Ausweislich des Programmblattes lauschen wir dabei Artaud und Baudrillard (ein paar unvermeidliche Heiner-Müller-Sätze fallen natürlich auch), doch da ist auch Anderes zu hören, der antike syrische Dichter Lukian etwa und wohl auch die eine oder andere esoterische Quelle.

Zwischen Mystik und Poststrukturalismus

Das alles wird mit geradezu flammendem Eifer vorgetragen, und wenn die Spieler*innen mal wieder in die grell orangefarbenen Plastikzelte zur Linken oder in orientalisch ausgestattete Gemächer im Rückraum entschwinden, dann agitieren sie auch gerne die Handkamera an. In der appellativen Übertreibung dieser wie gewohnt auf eine Leinwand übertragenen Ultragroßaufnahmen verharrt immerhin ein komisches Restmoment – ansonsten prasseln diese zwischen Mystik und Poststrukturalismus mäandernden Botschaften eher als recht humorfreie Gardinenpredigten auf uns ein.

Für die in der belagerten Stadt Bethulien spielenden Akte hat sich Castorf diesmal gar eines Chores versichert, der hemmungslos den von Einar Schleef erarbeiteten Mittelkanon plündert: Da wird nicht nur skandiert, da wird auch rhythmisch getrampelt, und einmal grölen die Männer die zweite Gralsszene aus "Parsifal", als gelte es Richard Wagner im Fußballstadion zu etablieren. Dazu wabern beständig dissonant basswummernde oder orientalisierende Klänge bedeutungsschwanger und Weniges bedeutend durch den Raum. Auf diffuse Weise ist so nahezu alles in dieser Inszenierung auf einen archaisierenden Expressionismus abgestellt.

Kraft des Kapriziösen

Es ist zum Weglaufen! Und es ist faszinierend! So gespreizt die Textauswahl (bei Hebbel angefangen) auch sein mag, so chaotisch das alles zusammengemantscht scheint, so irritierend bleibt es doch auch in seiner ungeschlachten Setzung. Und das Hauptpfund des Castorf-Theaters sind zuletzt eben doch seine Darsteller*innen, die den energetischen Druck aufbauen können, um eine solche Setzung fünf Stunden lang zu behaupten. An der Kraft des Kapriziösen etwa, die Birgit Minichmayr ihrer Judith verleiht, an ihrer immer wieder überschnappend ins Heisere kippenden Stimme mag man sich kaum sattsehen und -hören. Was man mit gleichem Recht von der messerscharfen Direktheit Jasna Fritzi Bauers als Judiths Magd Mirza sagen kann. Vom aasigen Wuttke ganz zu schweigen.

Und so goutiert man am Ende doch noch halbwegs wach die finale Pointe – Achtung, Spoiler! –, dass Judith den Gewaltmenschen Holofernes, das Prinzip Mann, den Imperialismus und das wilde Sein auch durch Köpfen nicht aus der Welt schaffen kann. Holofernes ist immer noch da und darf das Schlusswort sprechen, während Judith, den abgeschlagenen Kopf in Händen, verzweifelt davonwankt. Dann aber schüttelt man seine Glieder und fragt sich: Was war denn das jetzt?

 

Judith
von Friedrich Hebbel
Regie: Frank Castorf, Raum: Bert Neumann, Einrichtung Judith: Caroline Rössle Harper, Kostüme: Tabea Braun, Chorleitung: Christine Groß, Licht: Lothar Baumgarte, Videokonzeption und Kamera: Andreas Deinert, Ton: Christopher von Nathusius, Tonangel: William Minke, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Birgit Minichmayr, Martin Wuttke, Jasna Fritzi Bauer, Mex Schlüpfer, Stefan Kolosko. Chor: Yasmin El Yassini, Judith Gailer, Ann Göbel, Anita Groschen, Leonie Jenning, Anke Marschall, MissVergnügen, Estefania Rodriguez, Nathalie Seiß, Johanna Skirecki, Julius Brauer, Jakob D'Aprile, Florian Denk, Niklas Dräger, Max Grosse Majench, Fritz Walter Huste, Henry Kotterba, Paul Rohlfs, Marcus Schinkel.
Dauer: 5 Stunden, eine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau 

Castorfs "Judith" "vermag (...) auch das netteste Kamel nicht mehr zu retten", befindet Irene Bazinger in der FAZ (22.1.2016). Als besonders betrüblich empfindet Bazinger, "dass Birgit Minichmayr als souveräne, kokett abgründige Diva von einer Judith, Jasna Fritzi Bauer als deren schrill-schräge Magd Mirza und Martin Wuttke als getrieben-bösartiger landfremder Eindringling so selten auf der Bühne und so oft indirekt auf der Leinwand zu sehen sind." Sie sah in der Volksbühne eine "groteske Mischung aus Kino und Theater", die "mehr gedacht als gemacht habe".

Für Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (22.1.2016) ist Castorfs neueste Inszenierung "natürlich eine Zumutung", die zugleich Spaß macht, so man denn eine "gewisse Neigung zum sadomasochistischen Theatergenuss" mitbringt – also: "ein abgefuckter, düsterer, großartiger Abend!". Birgit Minichmayr fand Laudenbach "gefährlich lasziv", Martin Wuttke wiederum "beneidenswert verspielt". Laudenbach empfand "Judith" als "moralfreie Kehrseite seiner letzten Arbeit, der erstaunlich klaren Auseinandersetzung mit Dostojewskis 'Brüdern Karamasow'".

"Kein schlechter Castorf, auch wenn das komisch klingt", findet Jan Küveler in der Welt (19.1.2016). Er empfand den Abend als "ehrlich gesagt ziemlich anstrengend. Relativ unwitzig, untypisch für ihn. (...) Beinahe scheint es, als wolle Castorf, der die Volksbühne ja schon mit Beton planiert hat, bevor demnächst Chris Dercon die Intendanz übernimmt, den letzten Zuschauer vergraulen." Wenn um Mitternacht alles vorbei ist, möchte Küveler dennoch "zum Erschöpfungsglauben" Castorfs übertreten.

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (21.1.2016) meint: "ein vorbildlich quälender Volksbühnenabend". Zwar seien viele Zuschauer zwischendurch ausgestiegen, dennoch "bleiben (sie) bis zum Schluss", und "nach fünf zermürbenden Stunden gibt es einen erstaunlich kraftvollen Schlussapplaus."

"Alles an dieser Inszenierung ist ambitioniert, musikalisch untermalt wie in einem Historienfilm, mit Lagerfeuerflackern und Kunstnebel," schreibt Simone Kaempf in der taz (21.1.2016). Das Zusammenspiel von Birgith Minichmayr als Judith und Martin Wuttke als Holofernes sei intensiv. "Man staunt, was sie an Textmengen körperlich machen, wie sie dennoch aufdrehen, wenn sich im Finale alles mit Glamour auflädt", führt Kaempf aus.

Christine Wahl sah für Spiegel Online (21.01.2016) eine Mordszene, auf die "wohl selbst Quentin Tarantino neidisch" wäre. "Kurzum: Es ist großes philosophisches Trash-Kino, was sich gegen Ende der fünften Aufführungsstunde in der Berliner Volksbühne ereignet." Davor sah sie ein mäanderndes Stück, gemacht für "assoziative Anlagerungen", das sich allerdings vor allem kurz nach der Pause "in der multiplen Interpretation eines Volksbühnen-Chores gefühlt derart endlos und frontal in Richtung Publikum ergießt, dass man schon sehr ausgeruht sein muss, um daran ausschließlichen (intellektuellen) Genuss zu finden."

Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (21.01.2016) hat einen Tipp für das Castorf-Publikum: "Das Fiese bei diesem Castorf ist, nicht zum ersten Mal, dass es gegen Ende erst richtig losgeht." Das Finale sei nämlich tatsächlich eines mit "Kraft". Nichtsdestotrotz sah er in der Volksbühne eine Inszenierung, "die keinen Fokus hat, keinen Rhythmus und einen schlechten Sound".

"Eine monolithische Textgeschwulst wälzt sich über die Bühne, die selbst die endlich wiedervereinigten großartigen Schauspieler Birgit Minichmayr und Martin Wuttke (…) nicht bewältigen können", beobachtet Caspar Shaller in der Zeit (28.1.2016). Doch "wie so oft bei Castorf" werde man von der zweiten Hälfte für das Ertragen der ersten belohnt. Als nach der Pause "der brillante Chor" auftrete, nötige die Inszenierung einen zu der Erkenntnis: "Diesen Text muss lesen, wer begreifen will, was gerade in der Welt passiert."

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