Jenseits des Regenbogens

von Falk Schreiber

Hamburg, 23. Januar 2016. Zur Eröffnung der diesjährigen Lessingtage lädt das Hamburger Thalia Theater zum "Bürgergipfel". Hamburger und Neuhamburger treffen sich zum Mittagessen und diskutieren Themen wie Arbeit, Wohnen, Glauben und Bildung; Themen, die die Stadt umtreiben, Themen, die sich auf den Nenner "Wie wollen wir unser Zusammenleben organisieren?" bringen lassen. Arbeit, Wohnen, Glauben und Bildung, das sind auch die zentralen Themen in John Steinbecks Roman "Früchte des Zorns" von 1939, der die Familie Joad begleitet auf ihrer Wanderung aus der Armut in Oklahoma nach Kalifornien, wo sie auf eine Zukunft hoffen und doch nur Missgunst, Fremdenfeindlichkeit, Ausbeutung finden. Die Joads sind also: Wirtschaftsflüchtlinge.

Es ist eine innerhalb des Festivalkonzepts durchaus sinnvolle Entscheidung, dass Luk Perceval zum Auftakt eine Dramatisierung von Steinbecks Roman inszeniert. Und es ist auch sinnvoll, diese Inszenierung als Koproduktion mit dem NT Gent mit einem multinationalen Ensemble durchzuführen, ähnlich dem klugen, hermetischen Erster-Weltkriegs-Tableau FRONT vor zwei Jahren.

Mit dabei: die Biografien der Darsteller*innen

Allerdings, und das ist der erste Schwachpunkt des Projekts, betont die Dramaturgie die Fremdheit des Ensembles dann ein weiteres Mal, indem im Programmheft die Migrationsgeschichte jedes Schauspielers einzeln dargestellt wird: Da ist zum Beispiel Rafael Stachowiak, der aus Polen stammt, im Ruhrgebiet aufwuchs und jetzt zum Thalia-Ensemble gehört. Nick Monu, der in Nigeria geboren wurde, in Amerika und England ausgebildet wurde und jetzt in Salzburg lebt. Marina Galic, deren Eltern aus Kroatien kommen, und die ein Zuhause-Gefühl hat, wenn sie im Frankfurter Städel vor Tischbeins Goethe-Gemälde steht. Und so weiter. Aber was heißt das? Dass alle irgendwie Migranten sind? Nein: Die Schauspielstars, denen hier Migrationsbiografien zusammenkonstruiert werden, haben nichts mit Steinbecks Familie Joad gemein, und sie haben auch nichts mit den Menschen gemein, die heute vor Lesbos und Lampedusa ertrinken. Die Grundkonstruktion der Inszenierung grenzt, leider, an Sozialkitsch.

Fruechte des Zorns3 560 Amir Smailovic hIrgendwo auf dem Weg: Marina Galic, Maria Shulga, Rafael Stachowiak © Armin Smailovic

Wobei das, was dann in kurzen eineinhalb Stunden über die Bühne geht, für sich genommen durchaus berührt. Perceval konzentriert sich auf die Familie Joad und den mitreisenden Wanderprediger Casy, Gegner, Freunde, Konkurrenten und Ausbeuter tauchen nicht auf, was den Abend einerseits konsequent entpolitisiert, andererseits die Figuren sehr präzise in den Blick nimmt. Das Ensemble modelliert jede Rolle individuell und verliert dennoch das große Ganze nie aus dem Blick. Bert Luppes als Casy, der seine Sätze einem sich windenden, vibrierenden Körper abringt, Mariia Shulga als madonnengleiche Rose, Kristof Van Boven, der Tom Joad mit lauernder, untergründiger Gefährlichkeit ausstattet: Sie geben große Schauspielmomente. Und auch die manchmal etwas prätentiöse Sprache, eine Art Kunstgermanisch aus Deutsch, niederländischen Brocken und Passagen in Englisch und Russisch, schafft es nicht, diese insgesamt beeindruckende Leidensperformance zu zerstören.

Die schöne Sehnsucht der Wandersleut'

Immer wieder jedoch steht dem hehren Anliegen der Inszenierung ihre eigene Kunstfertigkeit im Weg. Im Eröffnungsbild, als der Sturm durch einen dunklen Unort zu heulen scheint, bis man merkt, dass dieses kreatürliche Heulen kein Wind ist, sondern der Kehle Nick Monus' entspringt. In Annette Kurz' minimalistischer Ausstattung, die nicht viel mehr braucht als einen laubbedeckten Boden und eine große, verschlissene Plane, um ein Lager zu skizzieren, einen Lastwagen, ein verdorrtes Feld, sogar eine Nabelschnur. Und in der Musik, die sich an Standards reibt, "Summertime", "My Baby just cares for me", "Somewhere over the rainbow": "Somewhere over the rainbow / way up high / there's a land that I heard of / once in a lullaby". Ach, was ist das doch für eine schöne, traurige Sehnsucht, auf Wanderschaft, auf Migration!

"Früchte des Zorns" macht im Rahmen einer traditionellen Romandramatisierung vieles richtig, aber: Perceval möchte etwas über Migration erzählen, und wenn man den Vergleich zieht mit Karin Beiers thematisch verwandtem Schiff der Träume kürzlich am benachbarten Schauspielhaus, einem Stück, bei dem die eigene Macht- und Ratlosigkeit wütend in galligem Humor versenkt wurde, dann sieht dieser analytisch arg schlichte Steinbeck-Abend plötzlich ziemlich schwachbrüstig aus. Das falsche Stück zur richtigen Zeit: Arbeit, Wohnen, Glauben und Bildung mögen Themen für Steinbeck gewesen sein, und es sind sicherlich auch Themen für die Stadt. Aber diese stille, stimmige und konzentrierte Inszenierung, sie ist kein Thema. Sie ist ein Missverständnis.

Früchte des Zorns
von John Steinbeck, deutsch von Klaus Lambrecht, Fassung auf Basis einer Adaption von Frank Galati
Regie: Luk Perceval, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Annelies Vanlaere, Video: Philip Bußmann, Musikalische Leitung: Catharina Boutari, Licht: Jan Haas, Dramaturgie: Steven Heene, Julia Lochte.
Mit: Kristof Van Boven, Marina Galic, Bert Luppes, Nick Monu, Mariia Shulga, Rafael Stachowiak.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Weder zu Flüchtlingen, noch zur Wirtschaftskrise, noch zu Steinbeck, noch zum Schicksal der Familie Joad sei Luk Perceval etwas eingefallen, ist Stefan Grund in der Welt (25.1.2016) höchst verärgert. In einem "Akt vollendeter künstlerischer Ignoranz" lasse Perceval seine Darsteller*innen Teile der Steinbeckschen Sozialreportage referieren. "Das wirkt, als stapften fünf Verdi-Gewerkschaftsfunktionäre durch das Laub und demonstrierten für besseres Wetter." Immerhin löse das Stück Fluchtimpulse aus: "Man will dringend raus aus dem Theater", so Grund und holt aus zur Generalabrechnung: "Nach der miserablen 'Dreigroschenoper' (Regie: Antú Romero Nunes) und der gescheiterten Horváth-Kombi 'Kasimir und Karoline – Glauben, Lieben, Hoffen' von Jette Steckel folgt am Thalia nun dieser fruchtlose Abend. Das Theater rauscht unter Leitung von Joachim Lux in eine handfeste künstlerische Krise. Staub drüber."

"Den Realismus treibt der Theatermann dieser Geschichte gründlich aus – zugunsten einer vermeintlichen Allgemeingültigkeit und behaupteten Zeitlosigkeit", beobachtet Anke Dürr auf Spiegel online (25.1.2016) und attestiert der Inszenierung "höhere Kunstfertigkeit". Perceval interessiere sich wenig für die Motive der Flüchtenden, nicht für die konkrete Geschichte. Nur mit drei Szenen halte er sich länger auf, "und in denen wird es grundsätzlich: Es geht um Anfang und Ende des Lebens", so Dürr: "Dass einem das so wenig zu Herzen geht an diesem Abend, muss man sich das selbst ankreiden? Nein, es liegt eher am Scheitern dieser Inszenierung."

"Was Perceval tatsächlich zeigen will, ist ein Kollektiv auf der Flucht, das immer weiter treibt und nie wirklich weiß, wohin und wie – und was am Ende des Weges sein wird", so Michael Laages im Deutschlandfunk (24.1.2016). "Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss – und führt nirgendwo mehr hin." So sollten wir uns wohl nach Perceval das Flüchten vorstellen, den Verlust der Heimat und aller Sicherheit, die sie mal bot. "So passt diese triste Eröffnung vielleicht (und zumindest) ganz gut zum Streiten um die Geflüchteten dieser Tage."

Der Abend bleibe jenseits aller dramaturgischen Ambitionen "seltsam schön-illustrativ", befindet Alexander Kohlmann im Fazit auf Deutschlandradio Kultur (23.1.2016). "Die internationalen Schauspieler stehen in den Hosenträger-Kostümen der Großen-Depression des letzten Jahrhunderts auf der Bühne – und dürfen ihre Geschichten nicht erzählen." Der Steinbeck-Text werde "in sinnfällige Bilder verwandelt, aber weder durch Fremdtexte, Projektionen, Kostüme oder andere theatrale Mittel an unsere Gegenwart angedockt".

"Luk Perceval setzt sparsam Gestaltungsmittel ein – und sechs großartige Schauspieler, die nicht mehr als das Laub, den verdorrten Baum und eine große Plane brauchen, um diese 'Urgeschichte der Migration' – wie es im Programmheft zutreffend heißt – darzustellen", beschreibt Heide Soltau den Abend im NDR (24.1.2016). Die Inszenierung enthalte viele wunderbare Details. Insgesamt sei der Beifall des Publikums aber sehr zurückhaltend ausgefallen, so Soltau: "Luk Perceval ist es nicht gelungen, einen dramatischen Bogen zu spannen und die Zuschauer auf eine Reise mitzunehmen, die sie packt." Er habe "Früchte des Zorns" als düsteren Passionsweg inszeniert, "auf dem ein Unglück auf das andere folgt". Der düsteren Bühne entspreche die düstere Stimmung. "Das ist schwer zu ertragen."

"Keiner der sechs Protagonisten, die da für gut anderthalb Stunden auf der leeren Bühne des Thalia Theaters stehen während aus dem Schnürboden Herbstblätter müde herabrieseln, entwickelt irgendeine Beziehung zum Verhandelten", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.1.2016). "Bis zum Ende wartet man auf ein wirkliches Erlebnis, einen Moment der Berührung: aber nichts. Nur bleierne, langgezogene Leere." Perceval habe die urtümliche Sprengkraft seines Stoffs völlig entschärft und es geschafft, "keine einzige Frage zu stellen, die einen anginge", so Strauss: "Nicht, dass man sich eine weitere plakative Spiegelung der 'Flüchtlingskrise' gewünscht hätte, aber zumindest das archetypische Potential der Steinbeckschen Migrationsgeschichte hätte man doch berühren können: was für eine demütigende Erfahrung Flucht bedeutet, wie leicht sie eine entwurzelte Familie auseinanderreißen, jede Lebenskraft versiegen lassen kann und wie schrecklich düster alles wird, wenn sich Hoffnungen, die zu Hause geschürt wurden, in der Fremde als verlorene Illusionen erweisen."

"Was in diesem Stück wirklich langweilt, ist das Fehlen jeglicher Empathie, jeder auch nur ansatzweise glaubwürdigen emotionalen Beziehung zwischen den Rollen", schreibt Frauke Hartmann in der Frankfurter Rundschau (26.1.2015). Bewusst habe Perceval Schauspieler verschiedener Herkunft gewählt und lässt sie zeitweise in ihren Muttersprachen sprechen oder singen. Doch "die Rollen passen überhaupt nicht zum Alter der Spieler, Manierismen häufen sich". Die Figuren lässt er so holzschnittartig werden wie die Protagonisten der Bibel. Fazit: "Deutlich wird hier nur der Wille des Regisseurs zur Verallgemeinerung, und vielleicht auch die Hybris, letzte Wahrheiten verkünden zu wollen."

Diese "Früchte des Zorns" wirkten durch das starke Bühnenbild von Annette Kurz eher wie eine szenisch verlängerte Installation als wie die Adaption eines Romans, schreibt Klaus Irler in der taz Nord. "Die Inszenierung zielt auf atmosphärische Dichte, sie appelliert mehr an das Gefühl als den Verstand. Was bleibt, ist Betroffenheit nach einem durchweg pessimistischen Blick auf das Phänomen der Migration." Mit Aufbruchstimmung könne der Abend nicht dienen, auch nicht mit einem Beitrag zu der Frage, wie sich eine transnationale, interkulturelle Gesellschaft finden könne. "Die Inszenierung verdeutlicht allerdings, dass Flucht auch aus wirtschaftlichen Gründen kein Spaß ist. Und das tut sie eindrucksvoll."

Die Regie kaschiere "mit klischeefreudigen und sehr äußerlichen Theatermitteln, dass sie weder für die Figuren noch für den Stoff noch für die Adaption des Romans einen Zugriff, geschweige denn eine Form gefunden hat", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (26.1.2016). "Es wird abwechselnd erzählt und gespielt, auch gerne gebrüllt, ohne dass so etwas wie eine Erzählung entstehen würde." Auch die aparte Besetzungsidee, die Schauspieler des koproduzierenden Theaters NTGent die verarmten Farmer des mittleren Westens spielen zu lassen, könne das dröhnende Kunstgewerbe nicht retten.

 

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