Probiert mal, Gleichheit zu genießen

von Kai van Eikels

26. Januar 2016.

1.

Man kann die Frage stellen, ob Kunst sozial, politisch engagiert sein oder einem als zweckfrei behaupteten Ästhetischen die Treue halten soll. Ich argwöhne jedoch, dass im Bann dieses Entweder-Oder Debatten weder zu mehr Qualität nach den Kriterien des Engagierten führen noch nach denen des Ästhetischen, und werde daher diese Frage durch eine andere ersetzen: Wie kann und soll Kunst mit dem Genießen umgehen, das Konzepte des Ästhetischen in eine bestimmte Form gebracht sehen wollen, das aber auch in partizipatorischen und interventionistischen künstlerischen Arbeiten ja keineswegs formlos bleibt?

Kunst-Machen, Kunst-Rezipieren, An-Kunst-Partizipieren oder In-Kunst-verwickelt-Werden sind alle daran beteiligt, ein Genießen zu organisieren. Und statt der Behauptung zu vertrauen, irgendwer von uns könne per Dekret Zweckdienlichkeit oder -freiheit über das Beziehungsgeflecht namens Kunst verhängen, sollten wir uns eher für die Effektivität dieses Genießens interessieren. Denn was immer jemand von einer der Positionen – des Machenden, Rezipierenden, Partizipierenden oder Verwickelten – aus tut oder lässt, wird nie mehr als eine Wendung innerhalb einer kollektiv bestimmten Dynamik ergeben.

BitteliebtOesterreich 280 Baltzer xSchlingensief-Aktion mit "Ausländer raus"-Schild:
den Zynismus wiederholen, um ihm
wiedersprechen zu können © David Baltzer
Um zu erfahren, wie Effekte des Genießens, das Kunst organisiert, das Soziale und Politische erreichen, braucht es zunächst Anerkennung für die verstreute Vielheit dessen, was angelegentlich von Kunstveranstaltungen passiert: Kann sein, dass ein Rezipient den Duft, der ihn aus einem Werk anweht, für die Blume nimmt. Die Wiener Dame, die Christoph Schlingensief bei seiner Container-Aktion "Bitte liebt Österreich!" auf dem Höhepunkt ihrer Wut mit überschnappender Stimme "Sie ... Künstler!" titulierte, vergaß zwar genau das, was das Herausgebrüllte benannte: dass das Schild auf dem Containerdach mit der Parole "Ausländer raus!" die Arbeit eines Künstlers war und eine angemessene Rezeption womöglich in einem Reflexionsprozess über die Dialektik einer Kunst bestanden hätte, die den Zynismus dessen wiederholen muss, was zu erfolgreich und darin zugleich unerträglich ist, um ihm mit sachlichem Widerspruch zu begegnen.

Mit Banausie ökonomische und soziale Werte umdeuten

Doch ihre Banausie leuchtet bis heute. Und was sie uns zu sagen hat, hängt davon ab, welche Achtung wir haben für die irregulären Übersetzungen entlang der Grenze zwischen ästhetischem Genießen und dem Genuss, den wir aus sozialen und politischen Handlungen ziehen.

Anstatt Menschen notorisch dafür zu schmähen, dass sie Fiktion mit Realität, Indirektes mit Direktem, Zeigen mit Vollziehen verwechseln, sollten wir Kriterien zu einer Differenzierung dieses Verwechselns entwickeln – Kriterien, um eine Banausie, in der ein Subjekt sich verschließt und verhärtet, von einer Banausie zu unterscheiden, die öffnet, etwas auslöst, Subjektivität investiert.

Ein Reflexionsprozess kommt niemals von sich aus zum Abschluss; das einzige Einverständnis der Reflexion mit dem Endlichen ist die Erschöpfung. Strategien des Handelns enthalten stets Techniken, aus dieser Unabschließbarkeit sich ins Aktuelle von Praxis sozusagen fallen zu lassen. Mit aktiver Banausie geht es darum, das Außerordentliche eines Genießens, das eine gewisse Gleichgültigkeit gegen seinen Gegenstand bewahrt, der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu entwenden, die der Kunst als Preis für ihren besonderen Wert einen abgesonderten Platz anweist. Darum, diesen Mehrwert des Ästhetischen – der, wie Diedrich Diederichsen mal treffend gesagt hat, kein "surplus value" ist, sondern "added value", ein supplementärer Wert, der ökonomische und soziale Werte umwertet – für etwas weniger Gediegenes als subjektive Bereicherung durch Erfahrung zu verwenden.

 

2.

Und vielleicht geht es sogar darum, im Herzen der Sensibilisierung, die Kunst schon dadurch befördert, dass man sich überhaupt mit ihr abgibt, etwas von jener Gleichgültigkeit, jener Ignoranz, jenem Unwissen freizusetzen, das die Angehörigen der herrschenden Schichten denen voraushaben, die sie beherrschen. Die wildeste Aktionskunst schafft nicht den Moment aus der Welt, in dem ich zwischen all den Brüllenden, Rennenden, Machenden dastehe wie jemand, der "I don't give a fuck" sagen könnte – es aber nicht sagen muss, denn die Situation enthält bereits eine Anerkennung für diesen Moment, für diese Abwendung vom Objekt einer dringlichen Sorge. Meine Wendung ins Subjektive (oder durchs Subjektive woandershin) ist hier nichts, was mich von allen anderen abtrennt. Eher kann ich davon ausgehen, dass die anderen und ich nicht zuletzt dank dieser Gleichgültigkeit eine Art von Zusammen unterhalten haben werden.

Politischer Aktivismus könnte von oder besser mit Kunst lernen, an vorderster Front, da, wo die Überzeugung, genau das tun zu müssen, sich zu unbestreitbarer Gewissheit verdichtet, jene Langeweile zu empfinden, von der Walter Benjamin einmal sagt, sie sei die Schwelle zu großen Taten. Ihr Unbesorgtes markiert die Schwelle zu etwas, dessen Größe die Notwendigkeit des aktuell Getanen befragt: Stellen der empathische Reflex oder dessen Resonanzen in Wut über Ungerechtigkeit gute politische Motive dar, um aktiv zu werden? Und sind sie als Motive auch formende Kräfte, die meine Aktivität und die vieler anderer so zu organisieren vermögen, dass sie gut zusammenwirken?

Ich habe 2014 im September an einem Treffen auf Kampnagel Hamburg teilgenommen, das unter dem Titel "The Art of Being Many" vier Tage lang Künstler*innen und politische Aktivist*innen zusammenbrachte. Das Konzept unterstellte, Leute, die politisch(e) Kunst machen, und Leute, die sich in politischen Bewegungen engagieren, hätten ein gemeinsames Anliegen, das "Wie" ihres Vorgehens zu erörtern und experimentell Optionen zu erkunden, wie man sich zu kollektiven Aktionszusammenhängen koordiniert. Die Initiatorin Sibylle Peters hielt es für hilfreich, diesen Experimenten einen Theaterraum zur Verfügung zu stellen. Denn auf einer von allen betretenen Bühne würde – so die Annahme – das 'als ob' des Spielens eine geschützte Raumzeit aufspannen. Das überließ es den Teilnehmenden, nach Belieben Themen einzusetzen, in der Absicht, die Aufmerksamkeit auf die Form zu lenken.

'Als ob'-Problem und Fake politischer Dringlichkeit

Eben an diesem Punkt schieden sich aber die Gemüter. Die auf einmal eindeutig zu 'Aktivisten' Gewordenen hielten den Organisatoren und ihren 'Künstler'-Partnern in den Panels beharrlich vor, ohne einen urgent cause sei das Versammeln sinnlos, alles Gesagte und Getane bloß Fake. Es gelang bis zum Schluss keine Verständigung darüber, inwiefern das 'als ob' etwas anderes meinen kann als das Faken einer Realität. Im Grunde hätte dort etwas umgekehrt Entsprechendes zu jener Abkürzung der Kunsterfahrung ins Wirkliche passieren sollen, als die ich die Banausie bezeichnet habe: ein Umweg der politischen Aktion durch die Kunst. Doch bietet das Theater einer solchen Erörterung einen geeigneten Ort?

The Art of being many 560 Kampnagel uBegegnung auf Augenhöhe, das ja. Dennoch blieben Aktivisten und Theatermacher uneinig über
das "Als ob" bei "The Art of Being Many" im September 1014 © Kampnagel Hamburg

Das Theater ist, in baulicher und institutioneller Massivität, vor allem ein abgesonderter Ort. Darin koinzidieren sein Vermögen und sein Unvermögen. Die Zuschauenden kehren, wie Elias Canetti in "Masse und Macht" schreibt, der Polis den Rücken zu, und diese Abkehr ist die Bedingung ihrer Versammlung zum Publikum. Politisch ambitionierte Theatermacher unternehmen immer wieder Anstrengungen, im Bereich ihres ummauerten und institutionalisierten 'als ob' die Dringlichkeit des urgent cause zu rekonstruieren. Theater lehnt sich damit quasi gegen seine eigene Disposition auf, es faket die Dringlichkeit eines aktivistischen Verhältnisses zur Sache. Letztlich verzichtet es damit auf das Beste, das Kunst dem Aktivismus mitzuteilen wüsste: eine Freiheit, die aus der Form kommt. Der Umweg über ein 'als ob' vermittelt einen Zugang zum Agieren, der sich, obwohl Agieren Reagieren heißt, die Form des Agierens nicht aufdrängen lässt von den Umständen, die drängen – und in deren Drängen meist bereits Kalküle einer Ausbeutung dessen mitwirken, was zu unternehmen wäre, um Abhilfe zu schaffen.

Sofern draußen politische Veränderungen geschehen oder geschehen können, befindet Theater sich in einer misslichen Position, und das eben deshalb, weil es nie gelungen ist, dem Theater die Macht des Abgesonderten auszutreiben und die durch Jahrtausende mitgeschleifte Heiligkeit loszuwerden. Theaterbetrieb versucht sich ins Politische einzukaufen mittels einer manchmal schon verzweifelt anmutenden Rhetorik, wenn man etwa lauthals versichert, "eine Debatte anstoßen" zu wollen, aber zu den Debatten, die über die besagte Sache längst vielerorts stattfinden, nichts Eigenes beizutragen hat. Die Botschaft lautet: Macht es doch hier bei uns, im Theater! Darauf gilt es zurückzufragen: Warum ausgerechnet dort? Falls Theater Aktion treffen soll, müsste es auf diese Frage überzeugende Antworten geben.

 

3.

Der abgesonderte Ort des Theaters könnte indes gelegen kommen in einem Moment, da 'draußen' nicht klar ist, was in einer Sache ein politisches Handeln wäre. Nach einer Phase, in der mit dem Arabischen Frühling, den Occupy-Protesten und Anti-Austeritäts-Bewegungen sich der Aufbruch in eine wiedergefundene Entschiedenheit politischen Kämpfens abzuzeichnen schien, erfasst meine Aufmerksamkeit gegenwärtig eine Situation, die geprägt ist durch immer verwickeltere Kriege und Bürgerkriege, durch Allianzen, die beinahe noch grässlicher sind als die Verfeindungen, durch Verbrechen und Grausamkeiten bis zum Völkermord und durch Fluchtbewegungen, die den Widerstand nationalstaatlicher Gewalt zur Abschottung von Grenzen unter großem Leid überwinden.

ankommen1 560 Fabian Hammerl iBegegnung, die so vielleicht doch nur im Theater stattfindet: "'anˌkɔmən" am Thalia Theater Hamburg © Fabian Hammerl

Es erscheint mir schwierig, diese Gegenwart des Vielen gleichzeitig Passierenden, überwiegend Schlimmen zu politisieren. Das Politische wird aufgesogen vom Diplomatischen, von einer staatsstrategischen Vernunft des 'Ohne einen Deal mit Putin, der Assad kurzfristig im Amt lässt, wird es keine Beendigung des Krieges in Syrien geben‘ und dergleichen. Oder man konstruiert eine vereinseitigte Sicht, die Parteinahme erlaubt, um den Preis einer Ausblendung von unpassenden Informationen oder der Leugnung ihrer Wahrheit.

Was ich hier bloß sehr grob umreiße, unterrichtet davon, dass Sachverhalte nicht an sich politisch sind. Politisch, das meint eine Form, in die Sachverhalte insofern eingehen, als bestimmte Haltungen möglich sind und dabei die Perspektive eines Handelns aufscheint, das um seiner selbst willen vorzuziehen wäre – für das ich mich entscheide, nicht weil es bestimmte Resultate garantiert, sondern weil ich dieses Handeln als solches für richtig halte. Und indem ich meine Entscheidung in der wie immer schwankenden Überzeugung treffe, mich für ein Richtiges zu entscheiden, verbindet sich mit dem Entscheiden selbst und dem so entschiedenen Handeln ein Genießen, ein Glück. Etwas zu politisieren findet an der informatorischen Situation immer auch einen Widerstand, und im guten Falle wächst die Differenziertheit der Haltungen und die Trefflichkeit der Entscheidungen durch die Auseinandersetzung mit dem, was in ihnen schief bleibt.

Demokratische Politik ist immer Politik mit schlechter Haltung. Als politisch Entscheidender und Handelnder stehe ich niemals ganz gerade und aufrecht, komme nirgends kosmisch ausbalanciert mit meiner Mitte zur Deckung. In dem Maße, wie ich empfindlich bleibe für die Torsionen, die Drehungen und Wendungen der Vorgänge in dieser Welt, brauche ich eine gewisse Geschmeidigkeit – die der Lässigkeit (das Wort gesagt in Nähe auch zu: Nachlässigkeit) näher steht als dem, was uns eine überkommene Rhetorik immer noch als das Feste, Standhafte, Charakterstarke präsentiert, als ginge es vor allem darum, sämtlichen Verlockungen des Falschen zu widerstehen. Die für politisches Handeln wichtige Differenz liegt heute keineswegs zwischen den starken, opferbereiten Charakteren und den Weichen, Schwächlichen, den vom Mainstream-Kulturpessimismus so gern gegeißelten Egoisten und Narzissten. Sie liegt zwischen denen, die das Schiefe ihrer Haltungen bloß wie eine Krankheit erleiden, und denen, die gelernt haben, dieses Schiefe für das Handeln zu verwenden.

Statt Terror verdoppeln: Frieden entdecken

Mein Vorschlag lautet, in einer zeitgemäßen Wiederaufnahme von Brechts Lehrstück-Experimenten Theater zu Ausbildungsstätten einer solchen Geschmeidigkeit zu machen, zu Instituten, an denen Menschen sich in Politisierung üben: darin, an einem einstweilen abgesonderten Ort dem, was drum herum passiert, eine Form zu geben, die etwas um seiner selbst willen Vorzuziehendes und das heißt als Entscheidung und als Handlung zu Genießendes ermittelt.

Um es auf eine knappe, halbwegs konkrete Empfehlung zusammenzuziehen: Statt den Terror der täglichen Nachrichten auf der Bühne zu verdoppeln, könnte Theater etwas dafür tun, Frieden genießbar zu machen. Während staatliche Diplomatie und NGO-Initiativen darin übereinkommen, in Frieden bloß die Abwesenheit von allzu viel Krieg im Land zu sehen, bleibt die Genießbarkeit von Frieden für uns, die wir in einer der sogenannten friedlichen Zonen des Planeten leben, weithin erst zu entdecken.

The Art of being many1 280 Kampnagel uGleichheit üben: Szene bei "The Art of Being
Many" © Kampnagel Hamburg

Statt die vielen Ungleichheiten einer in der Tat in Vielem ungleichen Gesellschaft anzuprangern und kurzatmige imaginäre Gemeinschaften moralischer Empörung zu fabrizieren, könnte Theater mit uns üben, wie man Gleichheit genießt. Das können wir nämlich ebenfalls kaum. Wir genießen – als Staatsbürger und als Zuschauer oder Partizipierende der meisten Kunstveranstaltungen – Ungleichheit in ihren zahlreichen schillernden Facetten. Wir genießen das eigene Unterworfensein, die Beweglichkeit desjenigen, der die Verantwortung des Herren los ist. Wir genießen das unverdiente Privileg derjenigen, denen es besser geht, gewürzt durch das schlechte Gewissen deshalb. Wir genießen, dass gemäß unbefragten Kriterien immer nur sehr Wenige in etwas sehr gut sind – und wir sofort aufhören, es sehr gut zu nennen, sobald Viele es hinkriegen. Wie aber genießen wir Gleichheit?

Wenn ich von Geschmeidigkeit spreche, dann auch um anzudeuten, dass es mir dabei nicht um Umerziehung geht. Dafür, die Menschen erst zu optimieren, ist es in jeder politischen Gegenwart zu spät. Die Kunst des Kollektiven, von der ich etwas halte, operiert mit einer Umstülpung des Prothetischen. Sie stellt Hände bereit, Interfaces zwischen Subjekt und Welt, die jedoch nicht dazu dienen, Subjektivität nach außen zu verlängern. Umgekehrt tragen sie Formen des Handelns an das Subjekt heran und sagen: Probier mal, was passiert, wenn du das hier genießt.

KaivEikelsKai van Eikels ist Philosoph, Theater- und Literaturwissenschaftler und arbeitet am Institut für Theaterwissenschaften der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kollektivformen wie "Schwärme" oder "Smart Mobs", Kunst und Arbeit, Performance und Politik. Bücher: Die Kunst des Kollektiven (Fink 2013), Art works – Ästhetik im Postfordismus (mit Netzwerk Kunst + Arbeit, bbooks 2015). https://kunstdeskollektiven.wordpress.com

 

Der Text ist die überarbeitete und gekürzte Fassung einer Keynote, die Kai van Eikels am 7. November 2015 im Rahmen von MOBILIZE! Theater trifft Aktion. Neue Bühnen der Subversion am Schauspiel Dortmund gehalten hat. Van Eikels Text ist Bestandteil der Publikation Theater trifft Aktion – Ein Update zum Verhältnis von darstellender Kunst und Aktivismus, die dieser Tage von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Theater Dortmund veröffentlicht wurde und insgesamt 12 Texte zum Thema versammelt.

 

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