Verlorenes Lächeln

von Elisabeth Maier

Karlsruhe, 31. Januar 2016. Auf dem zwielichtigen Boulevard des Verbrechens findet der Pantomime Jean-Baptiste die Liebe. Seine stumme Kunst, im 19. Jahrhundert eine kleine Revolution im Theater, wird angepriesen wie auf dem Viehmarkt. Darunter leidet der Künstler, bis er in die Augen der schönen Garance blickt, und von da an macht alles, was er tut, Sinn. Als der französische Filmregisseur Marcel Carné und der Drehbuchautor Jacques Prévert 1943 bis 1945 ihren Film "Die Kinder des Olymp" produzierten, tobte in Europa der Zweite Weltkrieg. Auf den Schlachtfeldern und in den Konzentrationslagern starben immer mehr Menschen. Bei Carné und Prévert geht es um die Liebe und um das Theater, aber auch die sind vor Mord und Hass nicht geschützt.

Verliebt im Spiegelkabinett

Der Film sorgte in der Nachkriegszeit für Furore, schaffte aber erst 1971 den internationalen Durchbruch. Nun hat ihn der französische Regisseur Benjamin Lazar am Staatstheater Karlsruhe auf die Bühne gebracht. Dabei klammert sich der Spezialist für Barockopern akribisch an den Filmtext. Und setzt dennoch mit seinem Gesamtkunstwerk faszinierende ästhetische Akzente. Virtuos komponiert er ein stimmiges Ganzes aus Bildern, Musik und Schauspielkunst.

KinderdesOlymp3 560 Felix Gruenschloss uInmitten von Spiegeln, im Labyrinth der Gefühle: Frank Wiegard als Lacenaire, Joanna Kitzl als
Garance © Felix Grünschloß

Theater und Wirklichkeit verschmelzen miteinander. Das Meisterwerk des poetischen Realismus überträgt Lazar in seine atmosphärisch dichte Theatersprache. Die Rotkehlchen-Band der Brüder Rynkowski bringt Gefühle zum Klingen. Blassblaue Seidenvorhänge, die die Akteure auf- und zuziehen, ersetzen die Filmschnitt-Dramaturgie. Kerzenschein entführt das Publikum in eine Welt der Träume. Spiegel vervielfältigen Mimik und Gestik der Schauspieler in Adeline Carons Bühnenraum. Sacht wird so die Wahrnehmung verzerrt. Was ist Theater, was ist Wirklichkeit? Am Ende wissen es Spieler und Publikum selbst nicht mehr.

Klischee vom romantischen Verbrecher

Die historischer Mode nachempfundenen Kostüme sind an den Film angelehnt, sie verleihen dem Abend etwas gewollt Antiquiertes. Sehr zeitgemäß ist dagegen Lazars Blick auf die Menschen: Überlebensgroße Schattenfiguren projiziert der Videokünstler Christoph Otto auf die Leinwand. Schwarze Silhouetten drehen sich im Kreis, küssen sich und verschwinden wieder. Später verwandelt sich die Bühne in einen Sternenhimmel. Da darf das Paar die Liebe leben, die ihm in Wirklichkeit verwehrt bleibt. Solche emotionalen Augenblicke übersetzt Lazar in eine magische Zeichensprache. Eine radikal neue Lesart des Filmklassikers liegt dem Franzosen fern. Stattdessen tastet er sich behutsam an dessen zeitlose Aussagekraft heran. Aus der Sicht deutschen Regietheaters hat das etwas Konservatives und doch ist es wunderschön.

KinderdesOlymp2 560 Felix Gruenschloss uSchein, Sein und Sternenhimmel, und das wunderschön in "Kinder des Olymp" © Felix Grünschloß

Großes leisten die Schauspieler. Carnets und Préverts Reflexionen über Bühnenkunst sind für sie mehr als Theatergeschichte. Sebastian Reiss als Schauspieler Frederick hinterfragt klug Schein und Sein des Theaters. Als Lohnschreiber und Mörder Lacenaire suhlt sich Frank Wiegard in historischen Studien französischer Komödienkunst. Er spielt mit dem Klischee vom romantischen Verbrecher. Ebenso laufen Gunnar Schmidt als Direktor der Kleinkunstbühne Funambules und Klaus Cofalka-Adami als vermeintlich blinder Gauner zu Höchstform auf. Beherzt greift Nathalie nach dem Mimen Jean-Baptiste, den sie zum Mann haben will – und das, obwohl er sie nicht liebt. Florentine Krafft zeigt sie als bodenständige Frau, die den Künstler mit ihrer Liebe erdrückt.

Heimatlos

Leichtigkeit bringt die schöne Garance in sein Leben. Die Faszination geistiger Liebe reizt Joanna Kitzl bis zum Exzess aus. Nach Jahren kehrt sie wieder und trifft den Mimen, der in Nathalies Ehe-Kokon eingesponnen ist. Ihre Leidenschaft hat die Zeit überdauert, doch sie haben ihr Lächeln verloren. Am schönsten emanzipiert sich Johannes Schumacher als Jean-Baptiste vom berühmten Film-Vorbild Jean-Louis Barrault. Anders als der souveräne Mime darf er wütend, verzweifelt und ungestüm sein. Alle Besonnenheit wirft der junge Schauspieler im grandiosen Schlussbild über Bord. Da windet er sich am Boden und wird von Pierrots überrannt, die seine Paraderolle nachäffen. In einer Welt, die die bedingungslose Liebe unmöglich macht, hat er keine Heimat mehr.

Kinder des Olymp
nach dem Film von Jacques Prévert und Marcel Carné
Regie: Benjamin Lazar, Bühne: Adeline Caron, Kostüme: Alain Blanchot, Adeline Caron, Julia Brochier, Musik: Clemens Rynkowski, Video: Christoph Otto, Dramaturgie: Jens Peters.
Mit: Joanna Kitzl, Johannes Schumacher, Sebastian Reiss, Frank Wiegard, Jennek Petri, Florentine Krafft, Sascha Tuxhorn, Klaus Cofalka-Adami, Gunnar Schmidt, Ronald Funke, Lisa Schlegel, Jonathan Bruckmeier, Jens Koch, Quentin/Liam Birtanolu und die Rotkehlchen-Band mit Clemens, David und Florian Rynkowski.
Dauerauer: 3 Stunden, eine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Kritikenrundschau

"Benjamin Lazar (..) überzeugt erneut mit stilsicherem Griff in den Fundus der Bühnenopulenz und mit feinem Gespür für die Bedeutung von Gestik.", resümmiert Andreas Jüttner in den Badischen Neuesten Nachrichten (2.2.2016). Die Leistung der Schauspieler reicht von "etwas zu distanziert" bis zu "überzeugend impulsiv". Jüttners Fazit fällt schwelgerisch aus: "Manchmal darf man im Theater auch einfach nur träumen."

Ute Baumeister sah für das Badische Tagblatt (2.2.2016) Theater, inszeniert "als großes Kino". "Dem französischen Regisseur (gelingt) eine Symbiose aus Theater und Film, aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Pantomime und Musik." Die Inszenierung empfand sie als ein "große(s) Auf und Ab der Gefühle".

Kommentar schreiben