Geil, geil, geil!

von Willibald Spatz

Augsburg, 6. Februar 2016. Zunächst funktioniert das gar nicht: Zu sehen ist Körperjazz, der gehörig nervt. Zu laut, zu überdreht, zu gewollt. Das gesamte Ensemble tritt im Hintergrund an und kommt nach und nach nach vorne, um loszulegen. Theseus ist zu klein für Hippolyta, er muss an ihr emporspringen, um sie zu küssen. Er macht es nicht einmal, sondern dreimal. Die anderen ziehen sich an den Ohren, spucken sich an, hängen aneinander oder schmeißen einander zu Boden. Sogleich ist klar, dass hier der Sommernachtstraum nicht einfach runtererzählt wird, so dass man danach sagen könnte, man habe dieses Stück nun auch mal im Stadttheater gesehen.

Alles auf Kontrollverlust

Als die Handwerkerszene dran ist, wird es noch lauter: Sie stehen teilentblößt frontal zum Publikum und schreien ihren Text im Chor. Um sich daraufhin in Elfen zu verwandeln, reißen sie sich noch mehr Textil vom Leib und zwitschern in Unterwäsche albern. Alle Shakespeare-Figuren werden von sieben Männern übernommen, jeder hat im Schnitt drei Rollen: Athener, Handwerker und Elfe, die Verwandlung geschieht mit Hilfe von Perücken und Kleidern äußerst schnell, niemand verlässt während der Aufführung die Spielfläche, jeder ist immer im Zentrum der Aufmerksamkeit, ein Teil des Spektakels.

Christoph Mehler bedient sich nicht großzügig aus dem breiten Themenangebot, das ihm Shakespeare liefert. Er fokussiert konsequent auf nur einen Aspekt: den vollkommenen Verlust der Gefühlskontrolle. Tjark Bernau als Lysander, der erste, der nach der Behandlung mit der Wunderblume erwacht, hat Schaum vor dem Mund, wie ein Tier fällt er Helena an. Diese hat sich zuvor schon animalisiert: Wie ein Hund ist David Dumas auf Alexander Darkows Demetrius zugekrochen. Würde, was ist das?

Kopulation, Kopulation, Kopulation

Passend dazu stellt Jennifer Hörrs Bühnenraum keinerlei Erinnerung an einen Wald her. Sie hat einen ausweglosen, sich nach hinten verengenden Gang gebaut, einen Hirnkasten, in dem sich dieser nicht enden wollende Albtraum abspielt. Nichts anderes ist dieser Sommernachtstraum, ein Schrecken ohne Entkommen, der inszeniert wird von zwei Traumteufelchen. Klaus Müller und Anton Koelbl spazieren als Oberon und Puck durch dieses Inferno und rufen immer wieder "Geil!". Und die um sie herum, die kriechen aufeinander zu oder voneinander weg und greifen nacheinander oder schlagen zu. Sie müssen Geschlechtsteile packen und Kopulation simulieren, immer wieder Kopulation, Kopulation.

Sommernachtstraum1 560 Kai Wido Meyer uWillkommen zur Orgie! Gregor Trakis, David Dumas © Kai Wido Meyer

Diese Männer sind Getriebene, sie haben alle Kontrolle verloren. Die Worte, die sie nun nur noch herausblöken, sind kaum mehr zu verstehen. Manchmal sieht es so aus, als wollten sie nur spielen, doch sofort werden wieder physische Grenzen überschritten. Das ständige Begrapsche hat gerade in diesen Tagen etwas Extra-Obszönes, das durch die Tatsache, dass hier Männer Männerkörper in Frauenkleidern angehen, noch verstärkt ausgestellt wird. Der Verstand ist eine dünne Fassade, nur ganz selten kann man sich über das, was man im Rausch anstellt, entsetzen und schämen.

Schmerzhaftes Erwachen

Harmlos ist zu diesem Zeitpunkt nichts mehr, einerseits, andererseits haben sich die sieben Schauspieler inzwischen warmgespielt, es swingt auf der Bühne, und die Albernheiten besitzen durchaus eine gewisse Virtuosität. David Dumas rennt als in einen Esel verwandelter Zettel mit einem langen Stock wedelnd um Titania und grölt "Ein Hoch auf unseren Busfahrer". Fast schon unausweichlich scheint es, dass dieses Szenario mit Ausschnitten aus Hieronymus Boschs "Garten der Lüste" überblendet wird, bevor dann doch das Erwachen folgt. Das ist im gleißenden Gegenlicht schmerzhaft anzusehen.

Als Nachspiel folgt die "Pyramus und Thisbe"-Aufführung der Handwerker, die einem in ihrer heiteren Harmlosigkeit bewusst macht, in welche Abgründe man bis eben geblickt hat. Alexander Darkow trägt als Löwe eine viel zu lange Perücke, mit der er gegen eine der nun geöffneten Seitenwände knallt. Ein befreiender, wirklich unbefangener Gag. Jetzt ist ein Abtritt möglich, jetzt ist aber auch alles irgendwie trist und Kater. Und dem ist nichts hinzuzufügen. Christoph Mehler lässt Puck zwar zum Ende noch einmal auftreten, doch anstatt seinen Schlussmonolog zu halten, zuckt er nur mit der Schulter und beendet diesen gewiss nicht schönen, aber dafür fordernden und das Augsburger Repertoire vortrefflich bereichernden Abend.

Ein Sommernachtstraum
von William Shakespeare, Übersetzung: Werner Buhss
Regie: Christoph Mehler, Bühne und Kostüme: Jennifer Hörr, Musik: David Rimsky-Korsakow, Dramaturgie: Tobias Vogt.
Mit: Klaus Müller, Gregor Trakis, Tjark Bernau, Alexander Darkow, Sebastian Baumgart, David Dumas, Anton Koelbl.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-augsburg.de

 

Kritikenrundschau

Wer meint, dass Christoph Mehler einem simpel gestrickten Provokationsplan folgt, der sitzt einem Missverständnis auf, schreibt Richard Mayr in der Augsburger Allgemeinen Zeitung (8.2.2016). Mehlers Sommernachtstraum "packte", "war wie ein Angriff" für den Rezensenten: "Dieser Shakespeare entfaltete keine lieblichen Wirren, sondern liebesirren Alptraum." 20 bis 30 Premierengäste hätten die Vorstellung verlassen. Aber das Sexuelle, das Obszöne stecke ja im Text drin, "nur eben nicht in der romantischen Fassung, die das Shakespeare-Bild in Deutschland so stark prägt". Sobald man seinen Blick als Zuschauer nicht nur auf das Ungezügelte in dieser Produktion richte, entdecke man, wie ernst und genau mit dem Stück gearbeitet worden sei, was für starke Betonungen Mehler gesetzt habe und wie am Ende ein neuer Blick auf den Klassiker frei werde. "Dieser Sommernachstraum vibriert, er schwingt so stark, dass man das Spiel nicht nur sieht und hört", so Mayr. "Nein, das Gespielte kriecht förmlich in einen selbst hinein."

Frank Heindl schreibt in Die Augsburger Zeitung (9.2.2016), er habe einen "Sommernachtstraum" gesehen, der sich für "den erotischen Kern" des Stücks interessiere und für "die Parodie dieser – teilweise drogeninduzierten – Geschehnisse", die schauspielerischen Leistungen seien "fulminant", keinerlei "Männer-in-Frauenkleidern"-Peinlichkeit, stattdessen entstehe ein Gender-übergreifendes Gefühl. Am ende: viele fragen offen und viel Applaus für diesen "starken, mit- und bisweilen hinreißenden, in jedem Fall sehenswerten Shakespeare".

Es werde "viel und laut gebrüllt, gestampft, gerungen und gewälzt, da wird heftig kopuliert und mit Riesenphalli Sexakrobatik betrieben", berichtet Berndt Herrmann im Donaukurier (14.2.2016). Mit diesen Mitteln rücke Mehler "radikal in den Mittelpunkt, was gerne märchenhaft verharmlost wird: das Albtraumhafte, Groteske des Waldes als Gegenstück zur Ordnung der höfischen Welt, die archaische Urgewalt der Triebe und Gefühle." Reflektierend fragt der Kritiker: "Ist das fordernd, anstrengend, exaltiert? Ja, aber auch unterhaltend; und betulich ist sowieso schon viel zu viel. Ist das obszön? Nein, wie könnte etwas in einer Welt obszön sein, in der es das Dschungelcamp gibt?" Schlussfrage: "Ist das gutes Theater? Ja, sehr gut."

Christoph Leibold sagte (18.2.2016) auf Radio Bayern2 (hier zum Nachhören): Mehler vermeide trotz reiner Männer-Besetzung den "Charley's Tante-Humor" herumfistelnderM änner auf high heels. Mehler inszeniere einen "Sommernachts-Albtraum der Triebhaftigkeit", nicht neu sei dies, aber Mehler gelinge die Balance zwischen "Triebtäter-Tragödie und Komödie".  Der "Sommernachtstraum" sei "grob und grotesk", "kurz und krass wie ein Quickie" und "dabei hochnotkomisch".

 

Kommentare  
Ein Sommernachtstraum, Augsburg: Puck zuckt die Schultern
Eine starke Aufführung, aber leider eine Kritik, die den letztlich entscheidenden Kerngedanken dieser Inszenierung, nämlich das komplette Weglassen des Shakespeare'schen Komödienschlusses, überhaupt nicht erwähnt und deshalb auch nicht kritisch hinterfragt. Dass der traditionelle Komödienschluss, bei dem die "richtigen" Paare durch den alles wieder "in Ordnung" bringenden Gegensaft in maßgeblichen heutigen Inszenierungen mit Recht immer wieder in Frage gestellt wird, weil nicht mehr daran geglaubt wird, dass Shakespeare in dieser schwarzen Komödie seine Figuren wirklich "erlöst" hat, ist auch bei Christoph Mehler völlig legitim. Aber den Schluss einfach streichen, wie es Mehler tut? Shakespeare hat Menschen - und das zeigt diese Inszenierung großartig - bis an die äußerste Grenze getrieben, hat ihnen ihre Identität genommen. Und dieser nächtliche Albtraum der verlorenen Identität soll nur eine vorübergehende Phase, ein Spuk gewesen sein und darum dürfen vier (scheinbar) glückliche Paare von der Bühne herab lächeln? Happy End? Dass diese vier jungen Menschen, im Wald durch den Dschungel der Liebe getrieben, all diese eruptiven Befreiungen durch einen Gegensaft einfach vergessen und der frei gesetzte Geschlechtstrieb dadurch wieder in die geregelte Bahn des gesellschaftlich sanktionierten und domestizierten Geschlechtsverhältnisses zurück gelenkt wird: daran kann/darf kein heutiger Regisseur mehr ernstlich glauben. Aber dieser Zweifel und diese durchaus auch Shakeseare'sche Skepsis muß inszeniert werden. Mit einem Weglassen des üblichen Happy Ends ist es nicht getan. Der Augsburger Schluss - völlig unvermittelt und unverständlich - Puck zuckt die Schultern, aus - ist nur eine Kapitulation und Verstümmelung, aber keine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem problematischen Komödienschluss. Schade um diese sonst aufregende Inszenierung. Hannes Gröner
Ein Sommernachtstraum, Augsburg: stark und bildgewaltig
Was für ein Abend! Der Sommernachtstraum, den uns Christoph Mehler mit dem Augsburger Ensemble hier vorlegt, ist ein wirkliches Kunstwerk.
Zu Beginn ein einziges Bild; Einige Sekunden der Stille, bevor da eine Welt in Athen gezeigt wird, die nichts verspielt Kitschiges oder zauberhaft Lahmes hat. In dieser Welt, die dort im Schwarz des Bühnenkastens entsteht, wartet die bittere Realität auf die Figuren im Sommernachtstraum. Was da im Wald vor sich geht, ist nie und nimmer - wie in so vielen Inszenierungen - schöner und harmloser Elfenzauber. Hier kommt das wahre Wesen von Lysander, Hermia, Demetrius und Helena zum Vorschein. Geilheit, Lust, Intrige und Gewalt.
Was wir zu sehen kriegen, ist ein Best-of der Arten, wie Liebe - im Guten wie im Schlechten, erwidert oder angewidert - aussehen kann. Mehler zeigt uns hier auf gekonnteste, energischste und zugleich simpelste Art, welche Gewalt in Shakespeares Text stecken kann, wenn man ihn nur richtig auslegt. Die Besetzung aus sieben Männern lässt uns dank großartiger Spielkunst und beachtlicher Einfühlung zu keiner Sekunde am Geschehen zweifeln. Auf der Bühne sieht man für den Moment Frauen. Man hat nie das Gefühl, Männer versuchten eine Frau zu spielen, sondern es sind - Frauen. Und doch gibt es immer wieder so Momente, an denen einem - aufgrund der Einfachheit aber auch manchmal der Grobheit - wieder die Handwerker in den Sinn kommen...
Es fällt auf, wie die Geschichte häufig in Bildern erzählt wird. Der Zenit der Verwirrung der Liebenden oder auch die Auflösung des Konfliktes zwischen Oberon und Titania, sowie die Entzauberung Zettels, werden sozusagen wortlos erzählt. Aber dennoch so stark und bildgewaltig, dass man kaum die Dialoge vermisst. Die Handwerker, denen ja sonst in allen Inszenierungen stets genügend Platz eingeräumt wird, da sie einfach immer vom Publikum geliebt werden, kommen an diesem Abend etwas kurz. Dies ist jedoch dem Konzept, aus der Komödie einen kurzen aber intensiven Abend zu machen, und der Idee, den Schwerpunkt auf die Liebespaare zu setzen, verschuldet. Somit also mehr als zu verschmerzen. Außerdem bekommen die Handwerker ja mit dem Schluss und sogar nach dem eigentlichen Finale noch einmal ein ganz großes Solo. Die kläglichste Komödie und der grausamste Tod von Pyramus und Thisbe. Und für einen kurzen Moment entstehen hier wirklich das erste Mal in der Handlung echte Emotionen; welche, die nicht von Geilheit, Gier nach Lustbefriedigung oder Akzeptanz rühren.
Christoph Mehlers Inszenierung ist keineswegs ein Theaterabend, der märchenhaften Elfenzauber und romantische Kitsch-momente bietet. Er regt zum Nachdenken an und lässt Shakespeare und die von ihm geschaffenen Figuren vielleicht sogar besser verstehen; ja sogar den Ernst und die Gewalt in der sonst so verklärten Geschichte erkennen.
Umso besser und Danke dafür!
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