Viel gut essen - Am Schauspielhaus Zürich entwickelt Sebastian Nübling seinen minimal-Sibylle-Berg-Style weiter
Die drei Doppelquoten-Loser
von Valeria Heintges
Zürich, 6. Februar 2016. "1 Mann oder viele", fordert Sibylle Berg für ihr Stück "Viel gut essen" und schreibt außerdem: "Der Einsatz und die Verwendung der (chorischen) Zusatzstücke richten sich nach der jeweiligen Inszenierung." Für die Schweizer Erstaufführung des (2014 in Köln uraufgeführten) Stücks im Zürcher Pfauen hat Regisseur Sebastian Nübling die Anweisung ernst genommen – und doch subversiv-genial unterlaufen. Nübling, den seit seiner Uraufführungs-Inszenierung "Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen" am Maxim Gorki Theater Berlin eine Erfolgspartnerschaft mit Berg verbindet, besetzt mit den drei Schauspielerinnen Hilke Altefrohne, Henrike Johanna Jörissen und Lena Schwarz. Lässt sie aber so gekonnt schminken und in typische nichtssagende Männerklamotten stecken (Kostüme: Pascale Martin), dass nur die Stimmen die Frauen verraten.
Die chorischen Texte, die Berg deutlich vom Haupttext trennt, verschmilzt Nübling in Zürich mit dem Ursprungstext, reinigt beide von zu deutlichem Deutschland-Bezug und schreibt sie mit Dramaturgin Andrea Schwieter behutsam auf die Schweiz um. Das ist keine große Sache: Hier wie dort sind Ausländer nicht willkommen, hier wie dort rechtspopulistische Parteien im Aufwind – und hier wie dort die Männer in der Krise. Das jedenfalls behauptet die in Zürich lebende Sibylle Berg. Viel gut essen will dieser Über-Vierzigjährige-in-der-Krise-Mann mit seiner Familie und bereitet daher ein Mehrgang-Menü vor.
Noch nicht mal sich selbst spielen dürfen die Männer
"Die emotionale Seite liegt bei mir im Sollbereich", stellt er selbstkritisch und völlig zu Recht fest. Worte mit Romantik-Verdacht wie Sonne, Gefühle oder Hund fallen ihm gleich gar nicht erst ein. Aber klar: Die Familie ist längst zerbrochen, die Frau ausgezogen, der Sohn will Ballett-Tänzer werden – trotz aller gegenteiliger Bemühungen des Vaters. Vielleicht sogar genau deswegen. Ach ja: Den Job hat der Mann auch verloren, genau in dem Moment, in dem er glaubte, es endlich zum Abteilungsleiter gebracht zu haben. Pustekuchen. Die Abteilungsleiterin heißt jetzt Frau Hüdüczü. "Doppelter Quotenanspruch: Migrationshintergrund und weiblich", konstatiert der Über-Vierzigjährige-in-der-Krise-Mann.
Sibylle Berg hat einige männer- und frauenentlarvende Sprüche auf Lager, die kann sie, dafür lieben wir sie. Doch es ist unbenommen Nüblings Verdienst, diesen nun doch auch altbekannten Klischees mit seiner Besetzung einen völlig neuen Ton zu geben. Die Männer sind männlich perfekt: Lena Schwarz mit windig-fluffiger Tolle, Hilke Altefrohne mit akkuratem Scheitel, Henrike Johanna Jörissen mit licht gewordenem Breitscheitel und alle drei mit dünnem Schnauzbärtchen. Und doch ist jede lüstern-züngelnde Zunge, jeder Griff in den Schritt (die gibt es reichlich), jedes Unverständnis dieses Mannes (die gibt es noch reichlicher) ein Statement, das man als ironischen Beitrag zur Genderdebatte oder als Aufruf gegen jedes Schubladen-Denken verstehen kann.
Wer ist schuld?
Und das einfach auch Spaß macht, weil die Frauen mit großer Lust und Leidenschaft Männer spielen, die Frauen nicht verstehen. Allein, zu zweit, zu dritt, chorisch und solistisch (und etwas gar zu oft vorne an der Rampe) geben sie den sich rechtfertigenden Versager. Altefrohne besonders machomäßig, Schwarz besonders lässig und Jörissen besonders missgelaunt. Auf leerer Bühne sporteln sie ihre Unterlegenheit weg, beim Joggen, auf dem Trampolin, in unzähligen Liegestützen.
Und sie suchen den Schuldigen, das ist ja auch ein Volkssport. Das sind sie nicht selbst, natürlich nicht, dafür alle anderen. Sie bedrängen ihn, sind Frau und Sohn, sind Nachbarn, Mitarbeiter, Chefs. Sind "die Ausländer", der Fremde schlechthin. Die Anderen drehen sich hinein in diesen unsichtbaren Kokon, den der Mann um sich gewoben hat. Und werden Gestalt, werden Stoff, werden lange, meterhohe Vorhangbahnen, die sich in die Leere schieben (Bühne: Eva-Maria Bauer). Langsam, in weiten Kurven. Zuerst wagen sie sich nur unmerklich vor, treten dann wieder den Rückzug an. Dann aber winden sie ihn ein wie riesige Schleier, den Mann. Der ist gerade bereit: für die Radikalisierung seiner Gedanken. Für den großen, anonymen Auftritt in den Kommentarspalten des Internets. Für die (Schweizerische) "Volkspartei". "Wir sind Bürger mit Bürgerrechten. Und die holen wir uns. Jetzt."
Viel gut essen
von Sibylle Berg
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Eva-Maria Bauer, Kostüme: Pascale Martin, Musik: Lars Wittershagen.
Mit: Hilke Altefrohne, Henrike Johanna Jörissen, Lena Schwarz.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.ch
"Der Regisseur rhythmisiert die Parts geschickt, Bergs Diskurs-Fläche gewinnt an Kontur", schreibt Katja Baigger in der Neuen Zürcher Zeitung (8.2.2016). "Komik, Verzweiflung und Zynismus werden betont. Berg/Nübling treffen einen Nerv!"
"Dadurch, dass drei Frauen den Mittvierziger in der Krise spielen, bekommt die Inszenierung eine zusätzliche Pointe – nicht mal sich selbst darf der Mann noch sein", sagt Andreas Klaeui im SRF (8.2.2016). Als Text werde "Viel gut essen" dadurch herausgehoben, "dass Sibylle Berg hier über die mal heitere, mal triviale kolumnistische Oberfläche hinaus einen Blick auf ein Seelenbild wagt", so Klaeui: "Sebastian Nübling macht daraus Theater, indem er die fortschreitende Abschottung dieser vereinsamten Seele zeigt, plastisch auf der Bühne mit ganz langsam sich vorschiebenden Schleiern – und indem er zeigt, wie sich hinter der Abschottung die Ressentiments noch vermehren."
Für Alexandra Kedves "glückt das Stück vor allem da, wo der Mann ein Mensch ist, den das Leben im globalen Dorf überwältigt – wie uns alle. Gender-Philippikas und Rechtsrutschisten-Bashing hingegen hat man besser und knackiger schon in Bergs Kolumnen gelesen", schreibt sie im Tagesanzeiger (8.2.2016). Darum sei es bedauerlich, "dass die Inszenierung sich streckenweise ausgerechnet darin suhlt. Mehr Spiel mit dem Schwierigen, Ambivalenten anstatt Spott übers Simple, Eindimensionale: Das hätte uns noch viel fester in diese Welt der geklöppelten Vorhänge eingewickelt."
Fast unmerklich steigern sich die drei Darstellerinnen von zunächst nach Verständnis heischenden Tönen bis zum Punkt, an dem alles kippt, so Peter Burri in der Basler Zeitung (8.2.2016). Immer bitterer werde der Monolog, den Berg einem deklassierten Mann in den Mund lege. Fazit: "Siebzig Minuten klug serviertes Minimaltheater, das gleichzeitig unterhält und verstört, weil die Autorin immer auch mit der Komponente Mitleid spielt, um das Selbstmitleid ihres Endzeitmannes zu entlarven."
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