Familienhölle in Bunt

von Simone Kaempf

Berlin, 10. Februar 2016. Dysfunktionale Familienverhältnisse meint man vor allem aus der zeitgenössischen Dramatik zu kennen, ging der Trend zu familiären Beziehungsstücken doch vor einigen Jahren steil nach oben. Als ein Vorläufer solcher Familienstücke, in denen das heimische Wohnzimmer als abgeschottete Realitätserfahrungszelle dient, lässt sich problemlos Roger Vitracs "Victor oder Die Kinder an der Macht" bezeichnen, 1928 von Antonin Artaud in Paris uraufgeführt. Zu Zeiten also, als das surrealistische Manifest bereits einige Jahre in der Welt war und Alfred Jarrys garstiger "König Ubu" auch schon seine Spuren hinterlassen hatte, man am Theater aber doch auf voller Front hoffte: auf die Sprengkraft künstlerischer kleiner Splitterbomben gegen alte Traditionen und die verlogene Moral der Bourgeoisie.

Ein umgekehrter Oskar Matzerath

Dafür vermengte Vitrac Kinder- und Erwachsenenwelt, schuf eine kindliche Hauptfigur wie Günter Grass später seinen Oskar Matzerath, der mit drei Jahren sein Wachstum einstellte: Victor hingegen hört nicht auf zu wachsen, sondern schießt über Gebühr in die Höhe und überragt schon an seinem neunten Geburtstag alle anderen. Ein Kind, das längst weiß, wie man Macht ausspielt, das das Dienstmädchen kompromittiert und sich nicht scheut, die Affäre des Vaters laut herauszuposaunen. Ein Kind also, das das Gebaren der Erwachsenen durchschaut und kein Blatt vor den Mund nimmt.

Sprengladung, wie einst Artaud noch hoffen konnte, steckt darin allerdings beim besten Willen nicht mehr. Am Ende braucht es den Schock, wie heute eben in der Dramatik bestens vertraut, den Tabubruch: Victors Eltern erschossen, ein Erwachsener erhängt – Groß-Reinmachen in einer herrschsüchtigen bürgerlichen Pariser Familie, in der man zwischen Tradition und Moderne, zwischen Champagner und Schlafanzug hängen geblieben ist.

Mit Türenknallen und Furzkissen

So zumindest stellt es die Inszenierung des jungen französischen Regisseurs Nicolas Charaux dar, Gewinner des letzten Young Directors Award der Salzburger Festspiele 2014, der sich über den provokativen Gehalt des Stücks keine Illusionen macht. Im Geiste einer bunten Geburtstagsparty hat er "Victor oder Die Kinder an der Macht" auf der Probebühne des Berliner Ensembles illustriert, mit viel Budenzauber, Bühnenklappen und raffinierten Kostümen, deren kleine Feder- und Fuchsschwanz-Dekos, Toupierfrisuren oder Hochwasserhosen bürgerliches Styling kindlich ironisieren. Mit hartem Realismus oder sozialer Genauigkeit hat das wenig zu tun, denn ja, es gibt sie: junge Regisseure, die leichthändig und verspielt die Stoffe anpacken, gerne Türen knallen lassen, und die sich selbst in Komödien-Standardrepertoire ganz unbekümmert bewegen – Charaux macht nicht mal vorm Furzkissen halt.

Victor 6643 560 Marcus Lieberenz uEin Tänzchen von Mutter (Swetlana Schönfeld) und Sohn (Raphael Dwinger als Victor). Drum herum: Anna von Haebler, Norbert Stöß, Martin Klingeberg, Karla Sengteller. © Marcus Lieberenz

Mit viel Vorschusslorbeeren hat ihn das Berliner Ensemble angekündigt. Und es hat tatsächlich eine große Kunstfertigkeit, wie der 1982 geborene Regisseur das Spiel am Laufen hält, ohne gleich jede Texttiefe mitzunehmen. Anarchie und kontrollierte Komik laufen nebeneinander in einem Bühnenbild, das nicht mehr als ein weißes Holzpodest ist, aber in seiner multifunktionalen Salon-Stilisiertheit doch ziemlich gut aussieht. Mal hebt sich eine Bodenklappe, um Weinflaschen hervorzuzaubern, die Norbert Stöß als Vater Paumelle ausschenkt. Mal schmeißt das Dienstmädchen aus einer Fensterluke die Geburtagsgeschenke im hohen Bogen nach draußen. Und klingelt's an der Tür, begrüßen die eintreffenden Gäste das Geburtstagskind ritualisiert mit "Bist Du aber groß geworden."

Leiser Spott über die Rituale solch Zusammenkommens schwingt mit. Schauspieler erster Garde agieren und müssen gar nicht viel tun. Roman Kaminski poltert als General in Ordensoberhäupter-Paradeuniform und mit Federdreispitz herein, das allein ist schon große Komödie. Swetlana Schönfeldt gibt eine dauerfächelnde Familienmutter. Und Raphael Dwinger bleibt als Victor in kurzen Hosen und Seitenscheitel konsequent naive Unschuld, der die familiäre Fürsorge ziemlich lächerlich aussehen lässt.

Ganz furchtbar nett!

Dennoch leidet die Inszenierung zunehmend: Nicht nur vordringlich daran, dass Dwingers Victor in dem Familienpanorama als Persönlichkeit blasser wirkt als es Vitracs Fassung vorsieht. Von Bosheit, Garstigkeit oder Tiefgründigkeit keine Spur. Kuriert von den Ansprüchen, intellektuell sein zu müssen, schnurrt die Inszenierung den Geburtstagsabend brav ab, bis die Gäste verabschiedet und die Paumelles überdeutlich ausstaffiert mit ihren Schlafbrillen ins Ehebett abtauchen.

Der Sinn für Situationskomik bleibt, aber das anfangs pralle Spiel versiegt im schönen Schein und Kunstfertigkeit. Was als groß ausholende Entlarvungsskizze beginnt, versickert in kleinen privaten Miniaturen. Frische Ideen hat Charaux, und vor allem einen warmen, menschenfreundlichen Blick, der diese Art dysfunktionaler Familie netter macht, als sie eigentlich ist – und das Stück leider auch um einiges uninteressanter und musealer, als es sein könnte.

 

Victor oder Die Kinder an der Macht
von Roger Vitrac
Deutsch von Helga Krolewski
Regie: Nicolas Charaux, Bühne und Kostüme: Pia Greven, Musik: Martin Klingeberg, Dramaturgie: Steffen Sünkel.
Mit: Swetlana Schönfeld, Karla Sengteller, Anna von Haebler, Raphael Dwinger, Roman Kaminski, Norbert Stöß, Jörg Thieme.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 
Mehr zu Nicolas Charaux: Er gewann 2014 mit dem Georg-Trakl-Abend Der Abschied den Young Directors Award der Salzburger Festspiele.


Kritikenrundschau

Nicolas Charaux suche nicht "den Skandal, sondern das Absurde im Alltäglichen und den Schwindel im Realen", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.2.2016). „Das Ensemble spielt herzlich gern verrückt und folgt Vitracs absurdem Quatsch über offenen Ehebruch, inzestuöse Komplikationen, antiautoritäre Eruptionen und die nur mühsam aufrechterhaltenen Fassaden der Bourgeoisie mit von Nicolas Charaux regiemäßig erstaunlich sicher gesteuerter Lust." Fazit: "Zu seinem szenischen Talent und vielschichtig überzeugenden Formbewusstsein kann man Nicolas Charaux wirklich gratulieren. Jetzt müsste er allerdings noch Inhalt und Leben dazumischen, damit seine Arbeit mehr als einfach schöner Schein wird."

Das "deutlich" mit "Staub behaftete Stück" sei an diesem Abend "lammfromm auf die Bühne" gebracht worden, berichtet Eberhard Spreng für den Deutschlandfunk (11.2.2016). Nicolas Charaux "arbeitet sich brav am Text ab, mit langsam schwindendem Ideenreichtum. Seine Inszenierung ist so noch etwas harmloser als das Stück selbst und das Berliner Ensemble wieder einmal ein Theater, an dem man sich für die Dauer der Aufführung aus der Zeitgenossenschaft in vergangene Welten verabschieden kann."

"Behäbigkeit und satter Unterhaltungsgeist" walten für Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (12.2.2016) in diesem Abend. "Die ganze falsche Theaterhaftigkeit wird hier so platt ausgestellt, dass für echte Bissigkeit, für Unvorhersehbares keine Lücke bleibt.“ Der Regie attestiert die Kritikerin "Ideenlosigkeit". Und: "Dazu wird so bieder schwankhaft gespielt, dass sich auch der schlimmste Waffenhändler im Publikum nicht gemeint fühlen muss."

 

Kommentare  
Victor, Berlin: das Problem Ihrer Zunft
Liebe Frau Kaempf,
Ich habe dummerweise den Fehler begangen, mir heute morgen Ihre Ergüsse zu unserer Arbeit durchzulesen.
Wer kritisiert, muss dann auch die Kritik an der Kritik aushalten.
Ich stelle fest: jemand wie Sie, der , wie ich vermute, sich ein Stück nach dem anderen ansieht, also im Wesentlichen Zuschauer der Kreativität der Anderen ist, erlaubt sich dann in etwa 10 bis 15 Minuten eine Arbeit zu beurteilen und oft genug in die Tonne zu treten, an der viele Menschen Monate sich zerrieben haben.Das finde ich arrogant und anmaßend. Ich sage keinesfalls, dass es verboten ist, eine Meinung zu haben, nur fehlt in aller Regel der Respekt vor der Arbeit des Gegenübers . Nebenbei wird auch noch komplett übersehen, dass auch der Kritiker ja letzten Endes nur sich selber sieht. Die Realität da draußen gibt es nämlich gar nicht, sondern nur Ihre Beurteilung darüber, und die sagt mehr über Sie selber aus als über das Stück, das sie zerreißen.
Leider ist das auch nur wenigen Lesern klar. Nach meiner Meinung dürfte "Kritiker" kein Beruf sein, bzw. frage ich mich schon, wes Geistes man sein muss, um sich dazu "berufen" zu fühlen. Wie Ihnen vielleicht aufgefallen sein mag, war ich auch an dieser Arbeit beteiligt, allerdings nur als Musiker und Komponist (....war da überhaupt Musik....?) Über das Verhältnis von Theaterkritikern zu Musik sage ich jetzt nichts.
Nebenbei,was hätten Sie denn gerne gesehen ? Ein "realistisches" Werk, bei dem der ganze Schwachsinn und Irrsinn , den man täglich in der Zeitung lesen kann, abgebildet ist ?
Davon gibt es sicher reichlich.
Wenn man das gemacht hätte, hätte es sicher geheißen, dass das zu plakativ gedacht sei...
Das Problem ihrer Zunft ist, dass Sie dadurch, dass Sie das Ansehen von Theaterstücken zum Beruf gemacht haben, so abgestumpft sind, dass Sie nicht mehr in der Lage sind, sich verzaubern zu lassen, alles geht nur noch durch den Kopf, so stellt es sich für mich dar. Sie sind nicht zu beneiden.
Mit freundlichen Grüßen,
Martin Klingeberg
Victor, Berlin: Zauber gibts beim Magier
Wenn ich mich verzaubern lassen will, geh ich zum Magier. Das Theater muss schon mehr können. Eine Inszenierung, die nicht auch dem kritischsten Blick standhält, steht eben auf wackeligen Füßen. Ohne die Inszenierung gesehen zu haben und das Folgende auf die hier gesprochene Inszenierung zu beziehen, will ich übrigens auch noch anmerken, dass man auch Monate harter Arbeit darin stecken kann, großen Quatsch zu produzieren. Zu sehen bekommt der Betrachter eben nur die 2 Stunden Theater – und an denen müssen sich die Beteiligten messen lassen.
Victor, Berlin: gefühltes Lob
Hier scheint tatsächlich jemand sauer darüber zu sein, dass er nicht erwähnt wurde. Es werden die Bühne und die Kostüme gelobt. Und auch der Regisseur scheint nichts Wesentliches falsch gemacht zu haben. Er war für den Geschmack der Rezensentin vielleicht nur etwas zu nett. Eine Theatermusik ist immer dann am Besten, wenn sie sich gut einpasst und gar nicht groß auffällt, oder sich gar in den Vordergrund spielt. Das ist hier der Fall. Martin Klingeberg darf sich also auch gelobt fühlen. Ansonsten verstehe ich seine Reaktion ehrlich gesagt nicht. Es wirkt wenig souverän, sich mit einer Nichtwürdigung des Kritikerberufs zu revanchieren. Mal ganz abgesehen davon, dass diese Inszenierung insgesamt tatsächlich keine Bäume ausreißt, oder lange im Theatergedächtnis haften bleiben wird. Kommt das schon einer Nichtwürdigung der geleisteten Arbeit gleich? Welch Missverständnis der Arbeit von KritikerInnen. Der/die Kritiker/in würdigt oder lobt nicht, sondern beschreibt, analysiert und bewertet, was er/sie gesehen hat. Simone Kaempf hat das in ausreichendem und vertretbaren Umfang getan.
Victor, Berlin: Enttäuschung?
Ja, warum sollte jemand, der seine Lebenszeit (na, gut bezahlt hoffentlich, aber trotzdem Lebenszeit) nicht sauer sein, wenn die Autorin dieses Textes ihr großes Wissen preisgibt über Literaturgeschichte blablabla, was sie alles weiß und am Ende ihr großes Wissen recht erstaunlich wenig praktisch anzuwenden weiß in der Auseinandersetzung mit dem Gesehenen. Die Darsteller werden mal kurz durchgehechelt, wie zuviele Requisiten einen meist schlechten Regisseur verraten. Und das zu einer Inszenierung die Musik, aber auch das Licht, der Bühnenraum gehören, und wenn dann am besten mit größter Liebe unauffällig, und deswegen auffällig. Und wenn Kritik meint zu unterscheiden, dann finde ich es auch durchaus schade und oberflächlich, was hier verfasst wurde. Ich kann die Enttäuschung über die Nichtauseinandersetzung durchaus verstehen. Und ich frage mich, worauf läuft das hinaus?
Victor oder Die Kinder an der Macht, Berlin: plätschert
Anfangs ist das bunte Treiben im Wohnzimmer ganz amüsant mit anzusehen.

Auf die Dauer werden die knapp zwei Stunden langweilig, da dem Abend die Abgründe und die Doppelbödigkeit fehlen, die z.B. Karin Henkels Inszenierung der „Affäre Rue de Lourcine“ einige Hundert Meter weiter am Deutschen Theater auszeichnen.

Der Abend plätschert erschreckend museal vor sich hin.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/28462-die-laecherlichkeit-der-bourgeoisie-victor-oder-die-kinder-an-der-macht-auf-der-be-probebuehne.html
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