Wie peinlich!

von Michael Wolf

Berlin, 13. Februar 2016. Kafkas Figuren merken es sofort: Irgendetwas stimmt nicht in ihrem Zuhause. Andreas Kriegenburg hat vier Kästen übereinander stapeln lassen: darin biedere Interieurs, lindgründe Sofas, Bücher-Attrappen. Eigentlich alles so wie es sein soll. Nur: Die Zimmer haben Schlagseite. Es gibt hier nicht einen rechten Winkel. Komisch, aber so ist das bei Kafka nun mal – und zwar im zweifachen Sinne. Zunächst sind Kafkas Welten meist undurchsichtig, unheimlich, ver-rückt. Selbst ein B-Movie-Science-Fiction-Porno von Helge Schneider böte weniger Überraschungen, als die verborgene Mechanik der Texte dieses Versicherungsangestellten. Zudem sind nicht wenige von ihnen Fragment geblieben. Sie hören einfach auf, sind irrational im mathematischen Sinne – nicht ohne einen beunruhigenden Rest teilbar. Sie bewahren das Geheimnis einer Fremdheit, deren Ursprung nicht zu verorten ist.

Was sollen bloß die Nachbarn sagen?

Aber sie sind zugleich auch komisch im Sinne von irre lustig. Sollte sich das bislang noch nicht herumgesprochen haben – Andreas Kriegenburg beweist es ein für alle Mal. In "Ein Käfig ging einen Vogel suchen" am Deutschen Theater lässt er sein Ensemble Kafkas "Der Bau" und "Blumfeld, ein älterer Junggeselle" nacherzählen. In "Der Bau" berichtet ein nicht näher bestimmtes Tier, allerdings ein recht paranoides Exemplar, von seinem Lebenszweck: All seine Gedanken kreisen darum, wie es sein Versteck vor Eindringlingen schützen kann. Blumfeld hat ähnliche Probleme. In seiner Wohnung tauchen plötzlich zwei Bälle auf, die unaufhörlich hin- und herspringen. Nervtötend! Und peinlich! Was werden die Nachbarn sagen?

EinKaefigGing2 560 ArnoDeclair hDeutsches Wimmelbild mit Schrägen: Laura Goldfarb, Moritz Grove, Jörg Pose, Bernd Moss, Nele Rosetz, Natali Seelig © Arno Declair 

Kriegenburg collagiert die beiden Fragmente mit kürzeren Texten Kafkas. In ihnen allen kämpfen die Figuren gegen das Fremde an, das in ihre Welt tritt, oder eventuell irgendwann vielleicht einmal in sie treten könnte. Was sie wollen, ist ein Rückzugsort, ein geschütztes Heim, eine feste Perspektive, von der aus sie sicher auf die Welt blicken können. Um das vorwegzunehmen: Sie scheitern grandios an diesem Anspruch. Warum sollte es auch ausgerechnet in Kafkas Welten so etwas wie Sicherheit geben? Oder bei uns – im Deutschland des Jahres 2016?

Angestrengte Gemütlichkeit

Aber gut, den Versuch ist es wert. Mit Choreographien der Pedanterie kämpfen fünf Schauspieler*innen des Ensembles gegen jede Störung des Alltags an. Sie pellen wohlig seufzend Eier, stemmen Aktentaschen wie Hanteln und atmen, wenn die Angst übermächtig wird, in JA-Plastiktüten. In ihrer angestrengten Gemütlichkeit, dem Wiederholungszwang erinnern sie an Loriot-Cartoons.

Zumal sie alle Masken unter ihren ordentlichen Seitenscheiteln tragen. Zu unterscheiden sind sie kaum, sie haben das Individuelle nicht verdient. Eine eigenständige Person müsste handeln, aber wie soll das gehen? Blumfeld zum Beispiel hätte gerne einen Hund, aber mal ehrlich, warum sollte er sich einen Hund anschaffen, wenn er doch weiß, dass dieser eines Tages sterben könnte? Oder schlimmer: Der Hund könnte nicht sterben, dafür wäre er dann in dreißig Jahren alt und träge.

Zu Hause lauern die Dämonen

Blumfeld und Co. leben nur hypothetisch, sind besorgte Bürger, die ihre Bedenken so eng um die Hälse geschlungen tragen wie die Krawatten, in denen sie sich verheddern. Nur an dieser einen Stelle treten sie als Gruppe auf, um sich zu fünft gegen einen sechsten zu verbünden: "Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet."

Jede Veränderung birgt Gefahr. Als eine der Figuren sich einmal nach draußen wagt, flüchtet sie schon bald wieder vor dem Anblick nackter Frauenbeine nach Hause. Aber auch dort lauern die Dämonen. Laura Goldfarb und Lisa Quarg spuken als Widergängerinnen des Zwillingspaars aus dem Horrorklassiker Shining durch die Wohnungen und Köpfe der Figuren. Als ein Nachbarskind eintritt, dauert es nicht lang, bis eine Hand nach seinem Oberschenkel greift.

Zwischen Sense und Topfpflanze

So ist das deutsche Haus gebaut, in dem sich Loriot und Kubrick, Spießertum und Horror um eine zweifelnde oder besser verzweifelte Seele streiten. German Angst steht auf dem Klingelschild, schließlich werden Messer gewetzt. Etwas Gelassenheit, Zuversicht, Vertrauen, als Aus-, als Mittelweg scheinen unmöglich. Blumfeld und Co. werden niemals zur Ruhe kommen. Zwischen Sense und Topfpflanze ist kein Platz mehr auf dem Spitzendeckchen. Ihre einzige Rettung besteht in unablässigen Erwägungen, was wäre wenn – ein Schutzwall im Konjunktiv, aufgetürmt, um sie vor der Zukunft zu bewahren. Gibt es eine treffendere Beschreibung für ein Land, das seiner eigenen Gastfreundschaft so lange misstraut hat, bis es seiner Skepsis endlich recht geben durfte?

Ganz nebenbei bieten Kriegenburg und sein großartiges Ensemble eine alternative Lesart Kafkas an. Ist er vielleicht nicht nur der ewige Sohn, der Jude, der frühe Existentialist, sondern auch der Schriftsteller, der das deutsche Wesen am besten beschrieben hat? Besser als Günter Grass, Ernst Jünger und Thomas Mann zusammen? Vielleicht, aber derlei Gedanken mit einem eindeutigen Ergebnis verbieten sich bei Kafka. Auch dieser Theaterabend bleibt im besten Sinne Fragment, endet mitten im Satz, als hätte es ihn schließlich zerrissen.

 

Ein Käfig ging einen Vogel suchen
von Franz Kafka
Regie / Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Andrea Schraad, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Elias Arens, Laura Goldfarb, Moritz Grove, Bernd Moss, Jörg Pose, Nele Rosetz, Natali Seelig, Lisa Quarg.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Mehr zu Andreas Kriegenburg und Franz Kafka? 2008 inszenierte er an den Münchner Kammerspielen spektakulär Kafkas Prozess, mit dem er 2009 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde.

 

Kritikenrundschau

Irenze Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.2.16): "Kriegenburg gelingt es tatsächlich den Texten Kafkas immer wieder ihre Komik abzulauschen und diese in bizarre, im wahrsten Sinn des Wortes schräge Bilder umzusetzen. Doch: "Zwar ist das Ensemble großartig einstudiert und spielt virtuos-artistisch auf, doch die Wiederholung der stilistischen Mittel ermüdet bald, anstatt den Spaß zu vergrößern." Kriegenburg versuche, "Kafka einerseits als Komiker des Absurden, andererseits als Visionär der Düsternis zu zeigen, ohne freilich dem einen oder dem anderen gerecht werden zu können." Mehr als "gefällig unbedarftes Kunstgewerbe" komme dabei am Ende nicht heraus.

Christine Wahl vom Tagesspiegel (14.2.2016) hat ein "tagesaktuelles Pegidisten-Porträt" gesehen. "Nur: So überzeugend die Lesart und so clever die Textmontage, so entschärfend wirkt der Abend leider auf der Inszenierungsebene." "Der ungemütliche Abschottungstext", serviert "im biederen Opi-Unterhaltungs-Format", könnte sich zur idealen Dialektik aufschaukeln. "Nur dürfte der Slapstick dann nicht so wahnsinnig gefahrlos, so uneingeschränkt affirmativ daherkommen." So drohe der Text unter "netten Nümmerchen in geschlossener Siebziger-Jahre-Optik" wegzurutschen.

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (14.2.2016) hingegen hat mehr als Slapstick gesehen und dennoch Spaß gehabt. Freilich: "Es hätte die kurzen Einspielungen von Radionachrichten über Flüchtlinge und IS-Terroristen nicht gebraucht, um uns Zuschauer bei unseren aktuellen Ängsten und bei unserem Unbehagen vor dem Fremden zu packen." Die Parallele  zur aktuellen Debatten werde ohnehin deutlich. "Mögen diese angstverkniffenen Abziehbilder in ihren so lächerlichen wie ohnmächtigen Abwehrverrenkungen zum Lachen reizen – sie sind natürlich keinen Deut schlechter als wir".

"Selten wird einem die Kafka-Rezeption so freundlich entgegengetragen", freut sich Katharina Granzin in der tageszeitung (15.2.2016). Die Inszenierung sei "temporeich und voll Witz". "Doch im Laufe des Abends sickert mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass das, was nur vielleicht nicht ganz ernst gemeint war, eben doch ernst ist." Die paranoide Grundgestimmtheit von Kafkas Prosa werde  immer deutlicher. "Das Schreckliche liegt in der Vorahnung; in seiner unbeirrbaren Konsequenz ist das gleichzeitig auch bedrohlich komisch."

"Hinter der surrealistisch-bunten Oberfläche ist diese Inszenierung ein kluger, abgründiger Kommentar zur Angst vieler Europäer vor den Zuwanderern und der näher rückenden Konflikte jenseits des eigenen Wohlstandsidylls", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (16.2.2016). "Die Wohnzimmer-Gemütlichkeit der möblierten Herren kippt in die Paranoia und wird aggressiv gegenüber einem imaginären Feind." Allerdings: "Dass irgendwann aus einem Radio neben dem Wetterbericht auch Meldungen über Kriege und Flüchtlinge zu hören sind, wäre als Hinweis nicht unbedingt nötig gewesen."

 

Kommentare  
Ein Käfig ging einen Vogel suchen, Berlin: Lebensinhalt
Erzählt werden die mit weiteren Kafka-Texten angereicherten Geschichten durch verschiedene, stets weibliche Erzählinstanzen sowie im Wechsel durch die multiplen grauen Besorgtbürger. Dabei gelingt es gut, den Sprechduktus sich in einer Spirale zunehmender Panik verfangen zu lassen, aus dem es keinen Ausweg gibt, weil sich die selbstgeschaffene Angst wie ein Perpetuum Mobile immer weiter selbst befeuert. Die Abwehr des Fremden wird zum Lebensinhalt, zum ultimativen Lebenssinn, tun sich einmal fünf Einzelne zusammen, dann nur, um einen sechsten abzuwehren. Wer verstehen will, was die viel beschworene Sehnsucht nach Ordnung und Sicherheit in ihrem Kern bedeutet und warum sie sich so äußert, wie sie es in Dresden und anderswo nicht nur in Deutschland tut, der betrachte diese Essenz des deutschen, nein, europäischen Wutbürgers und Besitzstandwahrers, des in seiner Angst Gefangenen und aus ihr seine Welt Bauenden, und er betrachte sie lang und eingehend.

Der Pegida-Schreier und AfD-Wähler, ihn gab es schon zu Zeiten des Prager Versicherungsbeamten und deutschen Juden Kafka, und er hat sich kaum verändert. Will man am Abend etwas kritisieren, dann das ein paar unnötige Textzugaben gegen Ende die Plakativitätsschraube ein wenig weit drehen, wodurch er ein paar Länge bekommt. Über weite Strecken ist Ein Käfig ging einen Vogel suchen jedoch ein gestochen scharfer, beißend satirischer, ungemein komischer und doch erschreckender analytischer wie entlarvender Blick auf die Macht der Ordnung, die so oft zu Ausgrenzung, Hass und Gewalt geführt hat und führt. Am Ende ist mitten im Satz Schluss. Die Blumfelds müssen weg. Vermutlich nach Dresden.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2016/03/17/die-essenz-des-wutburgers/
Ein Käfig ging einen Vogel suchen, Berlin: recht brav
(...)

Der auf fünf Klone (Elias Arens, Moritz Grove, Bernd Moss, Jörg Pose, Natali Seelig) aufgespaltene Protagonist von Andreas Kriegenburgs Kafka-Abend „Ein Käfig ging einen Vogel suchen“ am Deutschen Theater hat es längst aufgegeben, sich mit diesen Details zu befassen. Er hat sich in seine kleine Höhle zurückgezogen, völlig überfordert von einer Welt da draußen, die aus den Fugen scheint und ihm nur Angst macht. Panisch verkriecht er sich im „Bau“ und steigert sich immer tiefer in seine Angstphantasien hinein, dass das Unbekannte und Fremde auch in seinen letzten Zufluchtsort eindringen könnte.

Gefährlich wird diese Haltung vor allem dann, wenn sie sich aggressiv gegen Dritte wendet. „Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet“, schreien die fünf ihren Fremdenhass in Kafkas „Die Gemeinschaft“ heraus. Diese Erzählung hat Andreas Kriegenburg mit weiteren Texten und Fragmenten zu einem Collage-Abend verbunden und auf seine schiefe Bühne gebracht.

Derartig lautsprecherische Pegida-Parolen bleiben an diesem Theaterabend aber eher die Ausnahme: die Figuren verkriechen sich lieber mit ihrer Lebensuntüchtigkeit in ihrem Angstkokon. Diese Haltung beschreibt „Ein Käfig ging einen Vogel suchen“ unterhaltsam, aber mit auf die Dauer ermüdender Redundanz. Die spielerische Annäherung an die besorgten Bürger wäre noch sehenswerter, wenn sie weniger im Slapstick herumtändeln würde. Es muss ja nicht gleich zu einer frontalen Abrechnung mit AfD und Co. wie Falk Richters „Fear“ an der Schaubühne kommen, aber mehr Zuspitzung hätte der recht brave Abend gut vertragen können.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/28364-die-paranoia-der-grauen-maeuse-kafka-abend-ein-kaefig-faengt-sich-einen-vogel.html
Ein Käfig ging einen Vogel suchen, Luxemburg: grandios
Gestern, D.T. in Luxemburg, Gastspiel. Ein grossartiger, gelungener Abend, Inszenierung, Schauspiel, einfach gut durchdacht und grandios umgesetzt ... Kafkas Texte nicht nur intelligent sondern auch aktualitätsrelevant durchleuchtet ...
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