Quo vadis, Europa?

von Sabine Leucht

München, 17. Februar 2016. To leak or not to leak, das ist hier die Frage: Hält man es mit der Wahrheit, wenn diese sehr wahrscheinlich das eigene Land scharf nach rechts reißen wird – oder schließt man opportunistisch vor ihr die Augen? Bringt man sich selbst als Bauernopfer dar oder mutiert man lieber wider Willen zum Pferd, das vor dem grottenfalschen Karren läuft? Streng genommen kennt man die Alternativen nicht, die der PR-Agentin Clara und ihrem Freund David blühten, wenn das Team, mit dem man sich durch diesen Theaterabend "Lessons of Leaking" von machina eX knobelt und kombiniert, in sensiblen Momenten andere Entscheidungen getroffen hätte. Doch man bekommt große Lust, sich erneut auf das Abenteuer einzulassen, bei dem Clara dann vielleicht beim Einbruch in ihre Sicherheitsfirma aufflöge oder die Frauke-Petry-hafte deutsche Kanzlerin am Ende abdanken müsste, weil sich ihr Volk vermeintlich für den Verbleib in Europa entschieden hat. Doch zu viel soll hier nicht verraten werden.

Einer ist schon um die Ecke gebracht

machina eX, Berliner Performer mit Hildesheimer Wurzeln, eröffnen das Münchner Mini-Festival "Europoly" an den Kammerspielen mit einem weiteren ihrer Computerspiel-inspirierten Theater-Point&Click-Adventure. "Lessons of Leaking" ist mit unheimlich hohem technischem und logistischem Aufwand unheimlich gut gemacht. Und zumindest die Einstiegshürden sind auch für digitale Analphabeten zu schaffen – denn wie immer sind die Zuschauer zum Miträtseln gebeten.

LessonsofLeaking1 560 Gabriela Neeb uPublikum, was nun? – Nora Decker als PR-Agentin Clara in "Lessons of Leaking" von machina eX
© Gabriela Neeb

Zum ersten Mal bleibt die Performance von Roland Bonjour und Nora Decker in der temporären Endlosschleife hängen, als das Bilderbuch-Karrierepaar des Jahres 2021 die Batterien für die Fernbedienung sucht, um sich selbst in der Glotze sehen zu können. Publikum, was nun? Später gilt es, gemeinsam Tresore und Codes zu knacken, vier Bildschirme gleichzeitig zu überwachen und eine Spielfigur durch den Grundriss eines Gebäudes zu lotsen. Die Uhr läuft; einer, der offenbar ebenso Bescheid wusste wie wir nun auch, wurde schon um die Ecke gebracht. Und eine undurchschaubare Frau mit einer fahrigen Zärtlichkeit für alles Botanische hat offenbar die ganze Hackerzentrale unter ihrer Fuchtel.

Geht die Wahrheit über alles?

Als mitspielender Zuschauer wird man zugleich gut unterhalten und zum Denken gebracht. Geht einem die Wahrheit wirklich über alles oder heiligt nicht manchmal auch der Zweck die Mittel? Und: Was sind die Alternativen zu Europa, das einem dieser Tage so oft wie eine üble Farce erscheint?

Dies könnte eine der Fragen gewesen sein, die sich auch das Goetheinstitut vor fast drei Jahren stellte, als es erstmals auf die Suche nach den freien Gruppen ging, die nun dieses Performance- und Filmfestival zum alten und neuen Europa bestücken. In Kooperation mit den Münchner Kammerspielen und Kulturinstitutionen aus Athen, Vilnius, Dublin und Lissabon hat es die fünf Theaterabende ermöglicht, die derzeit in München zu sehen sind.

In bester Rimini-Protokoll-Manier

Das Wort "Krise" haftete damals, als die Institutionen sich auf die Suche machten, noch mehr am Geld als an den Flüchtlingen, denen man den Begriff mittlerweile untergeschoben hat, als hätten sie ihn persönlich ausgebrütet. Im griechischen Europoly-Beitrag kommen beide "Krisen" zusammen. Und wie! "Clean City" bringt in bester Rimini-Protokoll-Manier fünf reale Putzfrauen auf die Bühne, die gemeinsam haben, dass es sie (aus Südafrika, Bulgarien, Russland, den Philippinen und Albanien) nach Griechenland verschlagen hat – und dass weder das Geld, das ihre Familien für das Studium gespart hatten, noch die vorherige Beschäftigung als Architektin oder Universitätsdozentin sie davor bewahren konnte, nun griechische Frauen "bei ihrer Emanzipation zu unterstützen", so der fast zynisch anmutende Beitrag einer Wissenschaftlerin in einer Videoeinspielung.

Fünf richtig tolle Frauen haben Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris hier gecastet. Selbstbewusste Frauen mit Kraft und Humor, die gleich klar machen, dass sie Respekt verdienen (und nach der Vorstellung keine Kaugummis unter den Sitzen sehen wollen) und es gar nicht nötig haben, mehr zu scheinen als sie sind. Die beiden Theatermacher aus Athen – beide mit Deutschland-, Gotscheff- und ja: auch Rimini-Protokoll-Erfahrung –, die derzeit die Experimentierbühne des Nationaltheaters in Athen leiten, führen sie klug und behutsam durch den Abend. Sie berichten von Vorurteilen (auch den eigenen), moderner Lohn-Sklaverei, der Entfremdung von den eigenen Kindern und dem Stolz auf sie, von denen einige heute – teils wieder in anderen Ländern – tolle Karrieren machen.

Unerschrockene Glückssucherinnen

Es gibt ein, zwei Momente, an denen die Gemeinschaft der unerschrockenen Glückssucherinnen allzu demonstrativ zusammenrückt, aber insgesamt ist es toll, wie die fünf Schauspiel-Laien nichts machen müssen, was sie nicht können, stumm der jeweils Erzählenden zuhören, aber auch ausgelassen Schnulzen singen oder zu Donna Summers "She works hard for the money" ein Teppichklopfer-Staubwedel-Ballett auf die Bühne der Kammer 2 zaubern. Aber auch die Rechtlosigkeit von Menschen ohne Papieren haben sie schmerzhaft verdeutlicht. Und die rassistischen "Säuberungsaktionen" der rechtsextremen "Goldenen Morgenröte" nehmen in grausiger Weise Dinge vorweg, die sich hierzulande gerade erst anzubahnen drohen.

 

Europoly

Clean City (Athen)
Deutschlandpremiere
Stückfassung, Recherche und Regie: Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris, Bühne und Kostüme: Eleni Stroulia, Musik: Panagiotis Manouilidis, Dramaturgie: Margarita Tsomou, Licht: Eliza Alexandropoulou, Video: Nikos Pastras.
Mit: Mabel Matchidiso Mosana, Rositsa Pandalieva, Fredalyn Resurreccion, Drita Shehi, Valentina Ursache.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Lessons of Leaking (Berlin)
Uraufführung
von machina eX
Text: Dmitrij Gawrisch, Konzept: machina eX, Clara Ehrenwerth, Regie: Anna Fries, Bühne: Anna Fries, Franziska Riedmiller, Technik, Programmierung und Interaction Design: Lasse Marburg, Philip Steimel, Videoanimation: Konrad Jünger, Kamera: Paula Reissig, Sounddesign: Mathias Prinz, Dramaturgie: Clara Ehrenwerth, Kostüme: Daniela Bayer.
Performance: Roland Bonjour, Nora Decker, Ayana Goldstein und (auf Video) Benita Sarah Bailey, Cora Frost, Walter Hess, Maria José Morales Falgueras.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Was sich vom Plot her schon spannend liest, wird im Vorgang selber vollends faszinierend", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (20.2.2016) über "Lessons of Leaking". Der "lustige Vorgang" des Spiels münde in einen hochpolitischen Diskurs. Auch sonst ist Tholl angetan vom "Europoly"-Festival und schreibt: "Subtil ist beim Auftakt (…) wenig; umso beeindruckender jedoch die mitunter verschrobene, ästhetische Qualität. Ein echter Glücksfall."

Die Beiträge des Festivals bewiesen, "dass politisches Theater nicht moralisierend-langweilig, sondern unterhaltsam sein kann", so Annette Walter in der Tageszeitung (25.2.2016). Am besten glücke das in "Clean City“, Theater mit Betroffenen, das das menschliches Elend nicht ausbeute. Rührend, wie die migrantischen Putzfrauen "am Ende als Zeichen ihrer Emanzipation den Zeibekiko tanzen, der traditionell eher griechischen Männern vorbehalten ist, und wie sie aufblühen, weil sie endlich Aufmerksamkeit und Respekt erhalten, ja, weil ihnen ihre Würde zurückgegeben wird." machine eX“ habe sich zudem "erfreulicherweise eines Themas angenommen, das man an den Kammerspielen sonst nie sieht und in dem man Teil eines kurzweiligen Experiments wird".

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