Schlachtfeld im Kopf

von Sascha Westphal

Dortmund, 17. Februar 2016. Ein Mann liegt auf einem Bett und kommt nicht los von seinen Gedanken. Hoch über ihm kreist ein Deckenventilator. Dazu erklingt irgendwann ein Geräusch, das auch von einem Hubschrauber stammen könnte. Zu Beginn von Klaus Gehres neuestem Live-Film wähnt man sich für einige Momente im falschen Film oder auch im falschen Theater. Der Mann auf dem Bett, das müsste doch eigentlich Captain Willard aus Francis Ford Coppolas Vietnamkriegsfilm "Apocalypse Now" sein. Doch der Eindruck täuscht. Der, der da liegt und von verfremdeten Stimmen und albtraumhaften Bildern, die auf die große Leinwand hinter ihm projiziert werden, gequält wird, hat, anders als Coppolas Reisender ins Herz der Finsternis, den Krieg erst einmal hinter sich. Nach drei Jahren im Kampf für die Revolution und gegen die Weißen ist der ehemalige Schlosser Gleb Tschumalow in seine Heimatstadt zurückgekehrt.

Brecht und Hollywood zugleich

Nur, ist der Krieg jemals wirklich vorbei? "Zement", diese Geschichte eines Arbeiters, der als Heimkehrer seine großen Hoffnungen enttäuscht sieht und schließlich umso verbissener für den Sozialismus arbeitet, ist auch ein Stück über einen nie endenden Kampf. Diese Lesart drängt sich in Klaus Gehres Annäherung an Müller regelrecht auf. Während der von Sebastian Kuschmann gespielte Tschumalow auf dem Bett liegt, erzeugen Caroline Hanke und Marlena Keil, Andreas Beck und Ekkehard Freye an den kleinen, überall im Raum verteilten Miniatur-Filmsets die Bilder und die Stimmen, die Gleb einfach nicht aus dem Kopf gehen. Oft werden gleich mehrere Videobilder übereinander auf die Leinwand geworfen. Die Visionen und Erinnerungen vermischen sich.

Rambo1 560 Birgit Hupfeld uMüller meets Minions? Caroline Hanke als Dascha und Sebastian Kuschmann als Gleb Tschumalow aus Heiner Müllers "Zement" © Birgit Hupfeld

Der Film, der gerade live auf der Bühne entsteht, führt direkt in den Kopf des Arbeiters und Revolutionärs. Dort liegt das neue, das eigentliche Schlachtfeld. Selbst als Tschumalow schließlich erwacht ist und seine Frau Dascha, die bei Caroline Hanke trotz ihres revolutionsgestählten Selbstvertrauen etwas anrührend Verletzliches hat, zur Rede stellt, kommt er nicht los von seinen Erinnerungen. Marlene Keil steht währenddessen vor einer der Kameras und fährt sich immer wieder durch die halblangen Haare. Es sind erotisch aufgeladene Gesten, die in Nahaufnahme die Leinwand füllen.

In Momenten wie diesem erzeugt Gehres Methode, die das Publikum ganz selbstverständlich an der Erschaffung der Bilder teilhaben lässt und ihnen doch nichts von ihrer Macht und ihrem Zauber nimmt, einen überwältigenden Sog. Man ist bei Dascha und Gleb und zugleich auch noch in seinem Kopf. Emotion und Reflexion werden in diesem doppelbödigen Konstrukt eins. So vereint Gehre Brechts Theater der Verfremdung und Hollywoods Kino der Überwältigung und kommt damit bei Heiner Müllers Visionen von der Geschichte als ewigem Blutstrom an.

Apokalypse heute

Als Gleb dann etwas später auf seinen Gegenspieler, den von Andreas Beck verkörperten Ingenieur Kleist, trifft und kurz davor ist, ihn als Feind der Revolution zu erschießen, schiebt sich ein anderer Heimkehrer-Albtraum in Heiner Müllers Stück hinein: Das Ensemble beginnt mit Hilfe von Ken-Puppen und Spielzeugautos, Panorama-Photographien und Modelleisenbahn-Landschaft "Rambo", Ted Kotcheffs 1982 entstandene Verfilmung von David Morrells Roman nachzustellen. Der berühmte Actionfilm um einen von Sylvester Stallone gespielten Vietnamkriegsheimkehrer, der von einem Kleinstadt-Sheriff tyrannisiert und gejagt wird, als ultimatives Müller'sches "Intermedium".

Von daher ist es nur konsequent, dass dieser Live-Film von Müllers in das Stück "Zement" eingeschobenem Prosatext "Herakles 2 oder die Hydra" begleitet wird. Über die Einstellungen des Live-Actionfilms, die mal mit den Mitteln des Puppentheaters, mal einfach durch geschickte Kadrierung der Videobilder erzeugt werden, legt sich Marlena Keils Stimme. Ihr Vortrag ist wunderbar ruhig, aber niemals monoton. Sie durchdringt diese ungeheuer fordernde Erzählung von einem Krieger, der nach und nach erkennen muss, dass er und sein Gegner eins sind, und stößt zu ihrem philosophischen Kern: Jeder Krieg ist ein Krieg im eigenen Kopf.

Müllers Text erweitert "Rambo" und gibt diesem modernen amerikanischen Mythos eine neue Dimension. Während Ekkehard Freye, Andreas Beck, Sebastian Kuschmann und Caroline Hanke virtuos den Film nach-drehen und dabei noch von einer Rolle in die nächste schlüpfen, eröffnet sich eine neue Perspektive auf "Zement" und "Rambo". Gleb Tschumalow ist John Rambo, John Rambo ist Gleb Tschumalow; der Strom von Blut fließt durch die Zeiten und die Ideologien, verbindet sie. Aber wer sich auf ihm von einer Welt in die andere treiben lässt und den Überblick bewahrt, wird vielleicht einen Ausweg aus dem Krieg im eigenen Kopf finden. Am Ende der Rambo-Erzählung, an dem sich die Killermaschine dem Morden verweigert, trifft auch Gleb eine Entscheidung: Wenn die Apokalypse heute stattfindet, dann wird er morgen etwas Neues beginnen.

 

Rambo plusminus Zement
Ein Live-Film von Klaus Gehre nach Heiner Müller, Sylvester Stallone und David Morrell
Regie: Klaus Gehre, Bühne: Mai Gogishvilli / Klaus Gehre, Kostüme: Mai Gogishvilli, Musik / Sounds: Michael Lohmann, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz, Video-Technik: Jan Voges, Video-Operator: Joscha Richard.
Mit: Ekkehard Freye, Andreas Beck, Sebastian Kuschmann, Caroline Hanke, Marlena Keil
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

Ja, es gebe "inhaltliche Parallelen" zwischen "Zement" und "Rambo", räumt Ralf Stiftel vom Westfälischen Anzeiger (19.2.2016) ein. Und die "Melancholie, mit der in der einen wie der anderen Geschichte die Verluste der großen Kämpfe bedacht werden", trage "die Parallelisierung auch". Und doch "verbinden sich die beiden Handlungsebenen nicht wirklich. Es fühlt sich eher an, als ob man am Fernseher zwischen zwei Sendern hin- und herzappt, wobei man die meiste Action verpasst." Vielleicht, so Stiftel, "wäre weniger Ambition mehr gewesen." So bleibe "tolles Handwerk für eine Kopfgeburt".

"Man kann Gehres Live-Film nur bewundern", schreibt Arnold Hohmann für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (19.2.2016), denn der Regisseur bringe mit vielen Utensilien und Video-Einsatz Rambo und Tschumalow als zwei Helden zusammen, "in denen sich das Scheitern von Utopien spiegelt, der endlose Kampf auch jenseits des Krieges." Er lasse sie als "Blutsbrüder“ erscheinen, wobei Hauptdarsteller Sebastian Kuschmann "mit großer Kunstfertigkeit von einer Rolle in die andere" gleite.

 

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