Zum dreifachen Glück

von Dieter Stoll

Nürnberg, 18. Februar 2016. Marc liebt Bettina, Bettina liebt Marc, auch Kay liebt Marc, Marc ist nicht abgeneigt, Bettina wundert sich. Ein flotter Dreier wird das nie! Der gestresste Polizist mag seine schwangere Frau offenbar wirklich, findet aber zur eigenen Überraschung schnell auch Gefallen am schwulen Kollegen, den er während der Ausbildung (Achtung, Zweibettzimmer!) kennenlernt. Erst wehrt er sich sehr demonstrativ dagegen, dann weniger. Es muss wohl guter Sex sein, der da bei wenig Licht und viel Röcheln geschieht. Das provokativ gerufene "Pussy!" im Herren-Wortgefecht klingt bald zärtlich, der Affären-Modus setzt ein. Kleiner Mann, was nun? Auf ein Happy-End kann er kaum hoffen, aber heroischer Verzicht ist auch nicht die nächstliegende Lösung – also Augen zu, Hose auf und durchs volle Doppelleben, bis die Katastrophe kommt. "Ich bin nicht schwul", ruft Marc. "Was bist du dann?", schreit Bettina. "Gleichmäßig atmen", empfiehlt der Kenner dem Jogging-Partner für solche Problemfälle. Dumm stellen und weiterlieben, so oder auch anders.

Einmal berührt, schon war's passiert!

Mit dem Stil der frei assoziierenden Adaptionen, wenn Regisseure Stoffe als Knetmasse schätzen, will Karsten Dahlem offenkundig nichts zu tun haben. Der 2013 zur Berlinale-Eröffnung gestartete und seither mit lobenden Erwähnungen durch Festivals gereichte Film "Freier Fall" von Stephan Lacant, für den Dahlem am Drehbuch mitschrieb, muss sich zwar mangels Außenaufnahmen und gekappten Nebenrollen formal zwangsläufig vom Original weit entfernen, inhaltlich bleibt er aber immer auf Sichtweite.

FreierFAll1 560 MarionBuehrle u Leidenschaft in der Polizeischule: Stefan Willi Wang, Julian Keck © Marion Bührle

Zwischen zwei Zuschauerblöcken in der BlueBox des Nürnberger Schauspielhauses wird leerer Raum erobert. Marc und Bettina, werdendes Elternpaar, zerren auf einem Perser-Teppich ihren ganzen Haushalt ins Zentrum und begrüßen das Publikum als Nachbarschaft. Unter dem gekippten Holztisch wird das Schlafzimmer markiert, aber die Ausstattung mit Handmikrophonen ist picobello. Nicht nur, aber auch für die Karaoke-Einlagen mit Wand-Projektion: "Tausendmal berührt", von wegen nix passiert. Die Schwimmhalle, wo im Film die Krise von Sinn und Sinnlichkeit im grenzüberschreitenden Lustgewinn der zwei erstaunten Herren beginnt, ist durch eine Wassersprudelflasche angemessen beschrieben. Waldlauf geht auch im Pendelverkehr auf fünf Metern.

Comedy und Kitsch

Schwieriger wird es mit den menschelnden Droh-Kulissen, dem wohlmeinenden Familien-Anhang und der homophoben Soldaten-Kameradschaft. Hier hilft Impro-Intermezzo, also Sponti-Theater mit Ausrufezeichen. Wo es im Drei-Personen-Ensemble naturgemäß an Personal mangelt, wird eine Koalition der Willigen rekrutiert. Ein Spalier Polizisten? Erste Reihe bitte aufstehen! Da kommt zuverlässig Stimmung auf, fragt sich nur, ob es die passende ist. Denn die Aufführung pendelt so heftig in Richtung Comedy, dass der Gegenschlag fast zwangsläufig im Kitsch landen muss. Tut er dann auch mit viel Gefühlsverstärker auf der Tonspur und einem Finale, das vor allem Umarmungs-Ehrgeiz repräsentiert: Eine Disco-Kugel dreht sich munter, und die drei Ratlosen im Gefühlschaos einigen sich als Heimkehrer im Schummerlicht am Tatort gegen den freien Fall ihrer Ideale auf den flüsternden Trost der Lyrik: "Und doch, welch Glück geliebt zu werden, und lieben, Götter, welch ein Glück". Blackout, Seufzer vom Nachbarn, langer Beifall.

FreierFAll2 560 MarionBuehrle uAuf den Teppich gebracht: Julian Keck, Karen Dahmen © Marion Bührle

Karsten Dahlem hat Erfahrung in Stück-zum-Film-zum-Buch-Projekten, seine bemerkenswerte Nürnberger Inszenierung der Krebs-Tragikomödie "Heute bin ich blond" war der Türöffner für diese Spielplan-Position. Er hat mit Stefan Willi Wang (kürzlich noch Hamlet), Julian Keck (derzeit auch Romeo) und Karen Dahmen (sonst die Julia) eine passende, vor Energie strotzende Top-Besetzung. Aber die nötige Distanz zum Film, die den Mehrwert einer Bühnenfassung schaffen müsste, hat er nie. Er hätte sich selber wegen Befangenheit ablehnen sollen.

Freier Fall
Uraufführung
von Karsten Dahlem und Stephan Lacant, nach ihrem gleichnamigen Film
Regie: Karsten Dahlem, Bühne: Karsten Dahlem, Thays Runge, Kostüme: Sarah Lisa Matheis, Dramaturgie: Katja Prussas, Musik: Georg Praml.
Mit: Karen Dahmen, Julian Keck, Stefan Willi Wang.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Kritikenrundschau

Einen "starken Abend" hat Wolf Ebersberger für die Nürnberger Zeitung (19.2.2016) gesehen. Das Schöne an dieser Filmadaption sei, dass sie "gewollt oder ungewollt, an die elementarsten Mittel der Bühnenkunst" anknüpfe. Angesichts des wichtigsten Requisits, eines roten Orientteppichs, denke man gern "an den großen englischen Theaterzauberer Peter Brook". "Einfach und effektiv" habe nämlich auch Karsten Dahlem seine Regie genutzt, "um 'Freier Fall' in eine andere Form zu verwandeln." Immer wieder lasse Dahlem Drehbuchanweisungen sprechen: "Das könnte spröde wirken oder hilflos, hat aber oft fast poetische Kraft."

Für Birgit Nüchterlein von den Nürnberger Nachrichten (19.2.2016) kommt "Freier Fall" "beinahe wie eine – gut gespielte – Episode aus der 'Lindenstraße' daher." Mit "ein paar schönen, kleinen Ideen (und viel nicht immer nötiger Musik)" gelinge es "der Regie, einige Stimmungen aus dem Film auf die Bühne zu transportieren". Doch "zur wirklich tragischen Figur" werde Marc bei Julian Keck nicht: "Eine Zerrissenheit will man ihm nicht abkaufen." Insgesamt unterhalte das Stück zwar "kitschfrei", halle aber nicht wirklich nach.

Kommentar schreiben