Talking Straight Entertainment - Eine Warnung vor der Selbstoptimierung im Studio Я des Maxim Gorki Theaters Berlin
Smoothie-Zombies im Hamsterrad
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 25. Februar 2016. Als es vorm Schlussapplaus dunkel wird, funkeln die roten Lichter an den Kopfhörern der Zuschauer*innen im Studio Я wie lauter Glühwürmchen in einer lauen Sommernacht – gemeinsam einsam. Im Selbstverwirklichungsparadies ist man nicht zusammen, sondern gegeneinander, diese Message unterstreicht das Talking Straight-Kollektiv in seiner neuen Produktion "Talking Straight Entertainment" doppelt, indem nicht nur die Performer, sondern auch die Zuschauer vereinzelt werden – sie folgen der Performance per Kopfhörer, wo aber einfach nur der Ton verstärkt wird.
Ein ethnologischer Blick auf unsere wasserstoffblonde Gesellschaft
Ja, Entertainment wird durchaus geboten in diesem Workshop für die Leistungsgesellschaft, wo die fünf Performer*innen alle Management-Seminar-Klischees nutzen, um im Team zu üben, wie man sich voneinander abstößt, um weiterzukommen. Zum Beispiel im Rollenspiel eines Vorstellungsgesprächs, das live evaluiert wird von einer dabei sitzenden dritten Performerin, die ihrerseits evaluiert wird von Nummer vier, und dann kommt natürlich auch noch Nummer fünf dazu, und es wird höflich um die Deutungshoheit gerangelt, sie wird hin- und hergespielt wie später ein aufblasbarer Erdball, an dem das "Mir gehört die Welt"-Gefühl trainiert wird. Oder?
Mit 100-prozentiger Sicherheit kann man das nicht sagen, denn es wird natürlich die bereits vom Stückemarkt des Theatertreffens 2015 bekannte, weitgehend unverständliche "Talking Straight"- Kunstsprache gesprochen; eine Art Anti-Esperanto, das dominiert ist von Elementen der Sprachen des globalen Nordens und vor Anglizismen strotzt. Auch Emphatisches wie "Super" und "Mega" kommt häufig vor, und viele Sätze werden mit einem entschiedenen "Ok" begonnen. Die Performer*innen sprechen diese Sprache sehr genüsslich, und dass sie alle per wasserstoffblonder Perücke als weiß gekennzeichnet sind, verstärkt noch den Eindruck, dass hier ein ethnologischer Blick geboten – und gleichzeitig ironisiert – werden soll auf die Welt, aus der dieses Theater mitsamt seinem Publikum kommt: unsere.
Evaluationsromantik
Es ist eine Welt im Untergang, deren Menschen sich von grünen Smoothies ernähren und höchstens noch darauf hoffen dürfen, irgendwann Zombies zu werden. Eigentlich sind sie schon auf dem besten Weg. Nur, wenn ihnen eine Aufgabe gestellt ist, leben sie auf; zwischendurch sitzen sie da, wissen nicht, wohin mit ihren menschlichen Körpern und rempeln einander aus Versehen an. Die verbale Kommunikation besteht mutmaßlich aus höflichen Hinweisen darauf, dass die*der andere irgendetwas irgendwo hat liegen lassen. Aber dann: juhu! Selbstoptimierung – und die nächste Evaluation! Auch das Publikum bekommt ein Formular ausgehändigt, auf dem es die Performance sowie die einzelnen Performer bewerten soll.
Die Kriterien sind unverständlich, und natürlich birgt diese Unverständlichkeit gekoppelt mit der Wiedererkennbarkeit der reproduzierten Klischees auch in den Szenen eine große Komik. Aber die erschöpft sich. Zumal die Dynamik des zweistündigen Abends in etwa so monoton ist wie die Dystopie, die er zeichnet: Auf jede Workshop-Szene folgt ein kurzes Ausflippen zu treibender Musik, und die Performer*innen ziehen zum Beispiel den Duschvorhang mit "Talking Straight"-Logo (sieht ein bisschen aus wie das von WhatsApp) immer um ihre kreisrunde, angedeutet futuristisch eingerichtete Bühne herum.
Es schleicht sich nach anderthalb Stunden kurz die Vermutung ein, dass wir, das vereinzelte Publikum, uns selbst befreien müssen, indem wir die Kopfhörer abwerfen, uns zusammentun und die Performance für beendet erklären. Aus dem Hamsterrad kommen die doch von selbst nicht mehr raus? Aber doch, kommen sie, mit Glühwürmchen und Schlussapplaus. Brav.
Talking Straight Entertainment
Ein Simulation von & mit Alicia Agustín, Daniel Cremer, Houwaida Goulli, Lina Krüger, René Michaelsen, Antje Prust.
Künstlerische Mitarbeit: Michael Ebbing, Bühne: Romy Kießling, Dramaturgie: Ludwig Haugk, Necati Öziri.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.gorki.de
"(W)enn man ganz genau hinhört und -schaut, wenn man sich einlässt auf das ebenso pointierte wie präzise, szenische- wie Wortspiel von 'Talking Straight', geht man aus einer Vorstellung dieser Truppe aufgeklärter und reicher, beschwingter und begeisterter hinaus als aus vielen landläufigen Theaterinszenierungen", freut sich Ina Beyer (aufgerufen am 26.2.2016) vom SWR. Den "genialen Darstellern" gelinge es, "durch ebenso geschickte wie perfekte Nachahmung bestimmter gesellschaftlicher Rituale diese zu befragen wie bloßzustellen". Beyer resümiert: "Poesie und Politik gehen hier ein einzigartiges Bündnis ein."
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Und ich glaube morgen läuft als nächster Teil ein Radio Projekt von Talking Straight/Daniel Cremer im Kulturradio vom rbb.
Hört sich zumindest krass an! http://www.kulturradio.de/programm/sendungen/160603/hoerspiel_2204.html