Raskolnikows Scheibenwelt

von Tobias Prüwer

Halle, 27. Februar 2016. "Es ist ganz schön spät geworden. Zeit, mich zu stellen, auch wenn ich immer noch nicht weiß, warum." Nach dreieinhalb Stunden, Pause inklusive, gesteht Doppelmörder Raskolnikow endlich seine Untat gegenüber den Behörden. Als langes Stück Literaturtheater hat Matthias Brenner "Schuld und Sühne" am Neuen Theater Halle inszeniert. Er verpackt Fjodor Dostojewskis Stoff in einen extrem konzentrierten, die Zuschauerkonzentration extrem fordernden Sprechtheaterabend.

Im Kopf des Mörders

Das Leiden des elenden Jura-Studenten Rodion Romanowitsch Raskolnikow findet unbehaust, fast ohne Kulisse statt. Einzig eine groß weiße, leicht nach vorn gekippte Scheibe füllt als Spielfläche den Raum, in dem sich des Verbrechers Kopfkino abspielt. Der unüberführte Mörder entspricht seiner eigenen Herrenmenschenideologie vom Recht des überlegenen Tatmenschen nicht und geht an der auf sich geladenen Schuld fast zugrunde. Auf der Kreisfläche treten die Figuren auf und ab. Hier hält Raskolnikow den Eröffnungsmonolog, während sich ihm am Boden spiralförmig Licht nähert und das schicksalhafte spätere Bild vorbereitet: Er wird von den Ermittlern ebenso eingekreist, wie sich sein Gewissen als seinen Verstand malträtierende Schlinge zuzieht.

SchuldundSuehne2 560 Falk Wenzel uIhre Welt ist eine Scheibe: Hagen Ritschel (Raskolnikow) und Ensemble © Falk Wenzel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Am Rand von Raskolnikows Scheibenwelt nehmen nun alle anderen zwölf handelnden Personen Aufstellung. Im beginnenden Spiel werden sie durch kurze Aufsagesätze eingeführt. Der Student zeigt auch mal auf jemanden, um die Rollen zu verdeutlichen. Das funktioniert als eine der Konfusion vorbeugende Maßnahme ganz gut. Man ist schnell drin in der Grundkonstellation. Nach dieser schönen Eingangsituation gefällt das Spiel zunächst als solides Sprechtheater. Nur passiert dann nicht mehr viel. Natürlich schreitet die Haupthandlung voran, auch auf Nebenstränge verzichtet Regisseur Brenner nicht. Es schleppt seinen Gang.

Von der Dramaturgie allein gelassen

Der überlegte Licht- und Projektionseinsatz auf dem Kreisrund reicht als einziger Unterstützungseffekt nicht aus, kurz aufdröhnende, die Szenenwechsel ankündigende Musik genauso wenig. Das Publikum muss den Schauspielern an den Lippen kleben, weil sich der Abend zu sehr auf die Worte verlässt. Klar, es wird auch mal rumgerannt, geschrien. Aber solche Nuancen fallen nur als kurze Ausschläge auf einer Monoton-Tempo-Skala aus. Oft bleibt auch Hauptfigur Raskolnikow (Hagen Ritschel) trotz allem nicht an Leidenschaft mangelnden Spiels leer. Man guckt drauf, erfährt vom Inneren aber via Körper nicht viel. Dabei soll das doch hier sein Kopfkino sein – was alle Möglichkeiten der Varianz und Zustände, der szenischen Reduktion oder handlungstechnischer Betonungswechsel böte.
SchuldundSuehne1 560 Falk Wenzel uErst wird gemordet, dann gegrübelt: Hagen Ritschel (Raskolnikow) mit Enrico Petters (Samjotow)
© Falk Wenzel

Das Ensemble, letztlich von der Dramaturgie allein gelassen, schafft es auf Dauer nicht, die Spannung über den langen Zeitraum zu halten. In stichelnd-schneidenden Verhörsituationen gelingen immerhin Till Schmidt als Staatsanwalt ein paar Ausbrüche aus dem Gleichklang. Ab und zu sorgen kleine Einfälle für Lacher. Für einen Ausbruch aus dem angelegten Sprechtheatermuster sind sie aber zu spärlich. Der Witz einer im Anschluss an die Pause auftretenden Figur, endlich komme sie auch mal zum Einsatz, sie habe sich die letzten 90 Minuten nur gelangweilt, entpuppt sich alsbald eher als zynisch denn lustig gemeint.

Lob des Alkoholikers

Der Abend entwickelt sich dann auch zum reinen Geduldspiel, wenn klar wird, ein Bruch kommt nicht. So sind es die Betrunkenenszenen, die am nachhaltigsten Eindruck hinterlassen. Neben dem zwischenzeitlich als einem im Rausch auftrumpfenden Studenten Max Radestock besticht der betrunkene Titularrat a.D. Marmeladow durch heilsam unnormales, das Aufmerksamkeitslevel steigerndes Ausagieren. Matthias Walter versieht diesen mit einer Spur Slapstick, weil er tut, was alkoholisch deliriertes Verhalten eben so mit sich bringt.

Das Lob des Alkoholikers ereignet sich wohl unbeabsichtigt, während der Kern der "Schuld und Sühne"-Thematik inhaltlich durchs Verzetteln in Heiratspolitik vernebelt wird. So gehen an diesem Abend manche guten Moment und auch intime Zwischenspiele verloren. Das Plus der Zeitlosigkeit dieser Inszenierung, ihr Verzicht auf das Ausstellen einer vermeintlich russischen Seele, verfliegt zu Gunsten des Malus der Langatmigkeit und des Versuchs, den ganzen Roman darzustellen.

 

Schuld und Sühne
von Fjodor Dostojewski nach der Übersetzung "Verbrechen und Strafe" von Swetlana Geier
Regie: Matthias Brenner, Bühne: Nicolaus-Johannes Heyse, Kostüme: Susanne Cholet, Dramaturgie: Alexander Suckel.
Mit: Peter W. Bachmann, Mira Helene Benser, Petra Ehlert, Sonja Eimser, Enrico Petters, Till Schmidt,  Andreas Range, Max Radestock, Martin Reik, Hagen Ritschel, Danne Suckel, Matthias Walter, Lena Zipp.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.buehnen-halle.de

 

Kritikenrundschau

Joachim Lange von der Mitteldeutschen Zeitung (29.2.2016) lobt die Stückfassung. Der Text tue in der Übersetzung von Swetlana Geier ganz verständlich so, "als wäre er schon als Dialog und direkte Rede zur Welt gekommen". Regisseur Matthias Brenner entfessle "packendes Schauspielertheater", bei dem die Schauspieler*innen ihre jeweiligen Stärken ausspielen können.

Brenner lasse "all das weg, was atmosphärisch ist", so Michael Laages auf MDR Figaro ((29.2.2016). "Da brennt keine einzige Kerze, da ist nichts Russisches, da ist auch die Psychologie nicht überstrapaziert." Der Abend konzentriere sich "extrem auf den Text", mit einem Nachteil: "Wer seinen Dostojewski nicht ein bisschen im Kopf hat, der kann durchaus auch bei der großen Personnage ein bisschen durcheinanderkommen, wenn man nicht merkt, wo die Szenen wechseln." Dennoch: "eine sehr ernstzunehmende Aufführung, die man in Halle und auch weit über Halle hinweg empfehlen kann."

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