Ein Mordstheater

von Matthias Schmidt

Chemnitz, 5. März 2016. "Bleiben Sie ruhig sitzen, Sie sind Gast hier", sagt Caligula leise, als er seinen Platz im Publikum sucht. Halb flüsternd, exakt auf dem Grat zwischen leicht verstört und vollkommen besonnen, spricht er die Sätze, für die Camus' Schauspiel so berühmt ist, vom Unglück der Menschen, ihrer Unfreiheit, dem Mangel an Wahrheit, dem Tod. Dann setzt er sich, Reihe 12, Sitz 214. "Das ist mein Platz!"

Dieser Caligula ist kein Tyrann, kein Mörder. Er ist ein nachdenklicher Mann, gar nicht unsympathisch, und er bleibt im Wesentlichen in dieser sanften Tonlage. Ein Künstler? Damit beginnt das große Nachdenken, denn natürlich wird er dennoch tun, was Caligula tut. Wird mit den Heuchlern seine sadistischen Spielchen spielen und eiskalt selbst die ermorden, die ihn wirklich lieben. Und nun?

Freiheit auf Kosten der Anderen

Nun könnte man sagen, dass die Chemnitzer Inszenierung die thesenhaften Sätze des Stückes schön herausarbeitet: "Man ist immer nur frei auf Kosten anderer." Man könnte sagen, dass Regisseur Robert Czechowski stark auf das Spiel im Spiel setzt. Caligula tritt als Regisseur auf, der mit und für die anderen ein böses, aber lehrreiches Spiel spielt: "Die Menschen mangeln der Erkenntnis und bedürfen eines Lehrers, der weiß, wovon er spricht." Dieser Text ist wahrlich kein Leichtgewicht, und doch kann man ihm fasziniert folgen.

Caligula2 560 uVersonnen und gefährlich: Stefan Migge als Caligula im Vordergrund
© Dieter Wuschanski / Theater Chemnitz

Man könnte sagen, dass dieses Spiel auch vom Theater selbst handelt, davon, wie man die vierte Wand durchbricht. Denn mal mehr und mal weniger direkt wird das Publikum einbezogen, angesprochen, angeleuchtet. Nie aber im Sinne eines "Wir hier oben auf der Bühne und ihr da unten im Parkett", sondern eher im Sinne einer solidargemeinschaftlichen Verabredung: "Wir denken jetzt mal zwei Stunden zusammen." All das sind Qualitäten der Inszenierung. Könnte man sagen.

Kammerspiel statt Schocker

Was man aber sagen muss ist, dass Chemnitz einen ungeheuer konzentrierten Theaterabend erlebt hat. Einen, der in jeder Hinsicht fertig und durchdacht wirkt, der eine Stimmung erzeugt, die das Paradoxe an Caligulas Denken und Handeln aufs Feinste nachvollziehbar macht. Morden zum Zwecke des Erkenntnisgewinns? Absurd, eigentlich.

Zudem schlägt die Regie die zahlreichen Einladungen des Textes für Geschmacklosigkeiten und schrille Effekte weitgehend aus. Obwohl Blut fließt und Hüllen fallen. Obwohl Bühne, Kostüme, Musik und Choreografie sehr deutliche Handschriften tragen. Aber nichts drängt sich hier in den Vordergrund. Hier passt alles, selbst die kleinen Improvisationen, die sich durch den Abend ziehen. Statt für einen grellen Schocker hat sich Czechowski für ein größtenteils ruhiges Kammerspiel entschieden. Er schafft ein Requiem für einen Täter. Absurd, eigentlich.

Verrückt, oder?

Die Szene ist ein Sanatorium, in dem die alten Patrizier, umgeben von Pflegern in nichts Gutes verheißenden Gummischürzen, mit ihren Rollatoren und Rollstühlen Caligula und seiner Caesonia quasi ausgeliefert sind. In Kostüm und Ausstattung kann man schwelgen: die seltsamen Ledergeschirre der Patrizier hinterfragen, die nackten Hintern der so genannten Ratten beschmunzeln. Eine Musik- und Soundcollage lässt die Handlung beinahe etwas futuristisch wirken. Wann genau sie spielt, bleibt offen, aber sicher eher in der Zukunft als in der Vergangenheit.

Caligula1 560 uSanatoriumsleichen pflastern seinen Weg: Stefan Migge als Caligula mit Stefan Schweninger als Patrizier Senectus © Dieter Wuschanski / Theater Chemnitz

Der aber alles beherrscht, ist Stefan Migge. Ein spektakulärer Caligula! Nichts gegen Caesonia (Ulrike Euen) oder Helicon (Philipp von Schön-Angerer), auch beide toll, aber Stefan Migge traut man, so wie er spielt, den Abend auch als Ein-Personen-Stück zu. Kein Bösewicht, kein Killer. Immer sein gnadenloses Spiel spielend und zugleich offen lassend, ob er aus Trauer oder Verzweiflung oder eben doch notgedrungen – weil zum Zwecke der Belehrung "der Menschen" – tötet. Genau genommen tötet er noch nicht einmal, denn – siehe oben – er führt ja nur Regie in einem Spiel mit Figuren eines Dramas.

Migge agiert dabei gerade im richtigen Maß schizophren, ein bisschen rauschhaft und sich zugleich dafür schämend. Sobald er einmal wirklich verrückt wirkt, sagt er einfach gen Parkett "verrückt, oder?", und schon ist die gewünschte Unschärfe wieder erreicht. Einmal schaut er – traurig und zugleich entschlossen – ins Publikum und sagt: "Die Leute glauben zu wenig ans Theater." Robert Czechowski, dem Direktor des Lubuski Teatr in Zielona Gora, und seinem Team gelingt es, diesen Glauben an das Theater zu stärken. Ausgerechnet mit "Caligula". Verrückt, oder?

 

Caligula
von Albert Camus
Deutsch von Uli Aumüller
Regie: Robert Czechowski, Bühne: Wojciech Stefaniak, Kostüme: Adam Królikowski, Choreografie: Pawel Matyasik, Musikalische Konzeption: Damian-neogenn-Lindner, Dramaturgie: René Schmidt.
Mit: Stefan Migge, Ulrike Euen, Philipp Otto, Philipp von Schön-Angerer, Michel Diercks, Shana Sophie Brandl, Christine Gabsch, Christian Ruth, Andreas Manz-Kozár, Wolfgang Adam, Martin Valdeig, Stefan Schweninger, Dominik Förtsch, Stella Goritzki, Christopher Schulzer, Paul-Louis Schopf, Anna Bertram.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.theater-chemnitz.de

 

Kritikenrundschau

Das polnische Inszenierungsteam um Robert Czechowski setze "optisch ein bisschen auf Provokation", sagt Wolfgang Schiling auf MDR Figaro (6.3.2016) und dieses "ein bisschen" setze sich "auch bei dem fort, was das Team eigentlich mitteilen" wolle, es fehle "an Konsequenz im Erzählen der Geschichte." Der "ziemlich gut, intensiv und auch aasig agierende Stefan Migge als Caligula" dominiere "den Abend spielerisch-souverän", aber eins könne "am Ende auch er nicht liefern", nämlich den "im Programmheft definierten Anspruch", Erwartungshaltungen zu unterlaufen und den Spalt dafür zu öffnen, was Theater eigentlich ausmache, "den lebendigen Akt zwischen Zuschauer und Spieler". Man verlasse "das Theater nicht klüger und auch nicht sehr gut unterhalten."

 

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