Ein Nathan, der in die Kälte kam

von Valeria Heintges

Zürich, 5. März 2016. Es schneit. Auf Moslems, Christen, Juden. In dünnen Flocken, ununterbrochen. Ein Vorhang aus Schnee zerteilt die Bühne des Zürcher Pfauen, führt Menschen zusammen oder trennt sie voneinander.

In Gefahr

Wenn Robert Hunger-Bühler dem Sultan die Ringparabel erzählt, bleibt ihm nur ein kleines Dreieck, kaum Raum zum Atmen. Der Moslem lädt den Juden zum Gespräch, just wenn der Ruf des Muezzin jedes Wort übertönt. Auch zeigt sich der Sultan nicht, spricht mal von links, mal von rechts, mal über Mikrofon. Nur folgerichtig also, wenn Hunger-Bühler den berühmten Text über die drei Religionen hektisch spricht, gehetzt beinahe. Dieser Mann weiß nicht, was der Sultan im Schilde führt – und spürt dessen Überlegenheit überdeutlich. Zwar wird Klaus Brömmelmeier als Sultan Saladin sein "Sei mein Freund, Nathan!" sagen. Aber es wird, sportlich ausgedrückt, nur ein Halbzeitstand sein. Hier sind alle auf der Hut – und jeder weiß, dass der nächste Schlag vernichtend sein kann.

NathanderWeise3 560 Tanja Dorendorf TTFotografie u"Nathan der Weise": Unverkennbar gotscheff-leer und brack-mäßig mit einem Stoff befüllte Bühne, darauf: Johannes Sima, Gottfried Breitfuss und Robert Hunger-Bühler belauern sich in der Asche
von Claudia Kalinski  © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Schnee aus Asche

Der Schnee, den Bühnenbildnerin Claudia Kalinski in (ein wenig nervender) Gleichmässigkeit bis zur Ringparabel auf die Bühne rieseln lässt, hat es in sich. Nur die Scheinwerfer lassen ihn weiß erstrahlen. Auf der Bühne zeigen die Flocken ihr wahres Gesicht: Es sind Aschefetzen. Asche aus Nathans brennendem Haus, aus dem ein Tempelherr Tochter Recha nur in letzter Minute retten konnte. Asche auch – ein Bild von luftabschnürender Härte –, in die der Klosterherr mit einem Besen dem Patriarchen den Weg bereiten wird. Wenn der dann in Asche watend sein "Tut nichts, der Jude wird verbrannt!" verkündet, wird die Szene zum brutalen Sinnbild des Holocaust.

Auf dünnem Eis

Daniela Löffner inszeniert Lessings "Nathan der Weise" in Zürich mit der eisigen Kälte, die der meteorologische Winter vermissen lässt. Sie erfindet das Werk nicht neu, entschlackt es aber, gibt ihm einen stimmigen Rahmen und leitet jeden Schauspieler zu präzisem Spiel. Im Zentrum der Kälte steht Hunger-Bühlers Nathan, der weniger die gütige Seite von Lessings Titelfigur verkörpert als vielmehr die angsterfüllte, ratio-getriebene. Zu genau weiß dieser Nathan, wie dünn das Eis ist, auf dem er sich durchs Leben bewegt. Der größte Feind wohnt unter seinem Dach: Aus der christlichen Erzieherin Daja wird in Zürich ein Sascha, den Gottfried Breitfuss mit prolliger Brutalität verkörpert. Der Geschlechterwechsel macht Nathans Widersacher härter, biestiger, brutaler; dieser Sascha macht sich nicht den Hauch einer Mühe, Nathans Toleranz und Großmut nachzueifern.

NathanderWeise2 560 Tanja Dorendorf TTFotografie u"Nathan der Weise": Man beachte die emblematische Wärmefolie der Flüchtlinge, Recha wird sie sich nach dem Brand als engelhaftes Flügelkleid überziehen: Julia Kreusch, Johannes Sima, Elisa Plüss, Robert Hunger-Bühler  © Tanja Dorendorf  / T+T Fotografie

Duckmäusertum und  Gewalt

Vom Christentum ist hier nur wenig Wärme zu erwarten: Nicht von Sascha, sicher nicht vom Patriarchen. Und auch nur sehr bedingt vom Klosterbruder, den Benedict Fellmer zuweilen Herzenswärme verleiht, die im guten Fall in Richtung Naivität, im schlechten aber in Duckmäusertum abdriftet. Und der Tempelherr? Der wird in Johannes Simas Spiel zum aufbrausenden, jungen Mann, der weder seine Hitzköpfigkeit, noch seinen tiefsitzenden Antisemitismus verleugnen kann und will.

Auch im Hause des Sultans herrscht Kälte. Gefochten wird mit spitzer Klinge und elektronischem Sensor, aber auch mit treffendem Wort und gewaltsamer Geradlinigkeit. Nie lässt dieser Sultan vergessen, dass er alle Templer verfolgen und töten ließ, alle, bis auf den einen. Julia Kreusch ist ihm als Sittah ebenbürtige Partnerin, die nur ungern die Macht an den Bruder abtritt und nicht einmal vor Mord zurückscheut. Ihr Opfer: Der zum Hinduismus übergetretene und Yoga praktizierende Schatzmeister Al Hafis (Christian Baumbach). Der hatte sich mit der bitteren Erkenntnis "Am Ganges nur gibt's Menschen" von Nathan und Jerusalem verabschiedet.

Am Ende alleine

Und zwischen alldem: Recha, erzogen ohne Religion von einem christlichen Erzieher und einem toleranten Pflegevater. Sie mag als Friedensbotin gelten, so frisch und jugendlich und intelligent, wie Elisa Plüss sie über die Bühne tanzen lässt. Doch am Ende wendet auch sie sich von Nathan ab, wenn er ihr den Geliebten zum Bruder macht. Denn Nathan behält recht mit seiner Angst vor dem dünnen Eis. Wenn die jungen Leute Geschwister und Christen, die Moslems Onkel und Tante sind, steht Nathan allein. Und der Sultan sagt verbittert: "Ich habe nie verlangt, dass allen Bäumen eine Rinde wachse."

 

Nathan der Weise
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Daniela Löffner, Bühne: Claudia Kalinski, Kostüme: Katja Strohschneider, Licht: Frank Bittermann, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Christian Baumbach, Ludwig Boettger, Gottfried Breitfuss, Klaus Brömmelmeier, Benedicta Fellmer, Robert Hunger-Bühler, Julia Kreusch, Elisa Plüss, Johannes Sima.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Christian Gampert vom Deutschlandfunk (Aufgerufen am 6.3.2016) findet, diese Inszenierung spreche gegen die Annahme, Daniela Löffner wäre schon eine "fertige Regisseurin". "Obwohl die Inszenierung mit schönen, melancholischen Stimmungen und über langen Strecken mit einer großen Langsamkeit arbeitet, gehen die psychologischen Veränderungen der Figuren viel zu schnell." Am deutlichsten sei das beim Tempelherrn des Johannes Sima, (...) – der zunächst den bewährten christlichen Antisemitismus pflegte, aber wenig später schon Nathan um den Hals falle und ihn Vater nenne. "Dass Löffner die christliche Erzieherin der Recha zum Mann uminterpretiert und von Gottfried Breitfuß spielen lässt, bringt keinen Mehrwert, im Gegenteil". "Zum Teil stehen und knien die Figuren posenhaft voreinander wie im Stadttheater der 50er-Jahre." Auch die Ringparabel sei auf perfide Weise misslungen und ferner keine einzige Figur richtig besetzt: "lauter frischgewaschene Jungmimen, die schön schau-spielen, aber nicht dahin gehen, wo es wehtut".

Barbara Villiger Heilig schreibt in der Neuen Zürcher Zeiung (7.3.2016), Löffners Inszenierung erzähle Lessings Stück nach, ohne einen erkennbaren interpretatorischen Anspruch zu erheben. Der Regie geht es vor allem um klare Zeichnung der Figuren. "Der Klosterbruder, Go-Between zwischen Partien und Zeiten, bringe bei Benedict Fellmer nebst komischer Unbedarftheit ein Quentchen verdruckster Fiesheit mit, vor allem aber, in Form des Breviers, die unglaubliche Auflösung jenes familiären Knotens, den Lessing dramaturgisch schürzt." Mit dieser Lösung könne Daniela Löffner freilich nichts anfangen – für sie sei 'Nathan' kein Stück über kriegsbeschädigte Familienstrukturen, über betrogene Adoptivkinder, über Geschwister, die sich unverhofft wiederfinden und sich deshalb nicht als Mann und Frau lieben können. "Das wäre eine andere Geschichte, weniger plakativ, weniger 'aktuell', aber gerade deshalb so zeitlos wie modern."

Egbert Tholl schreibt in der Süddeutschen Zeitung (8.3.2016), dringlich sei hier nichts, weshalb auch Löffners Eröffungsbild rasend schnell verpuffe: "Da stehen alle Schauspieler im Ascheregen, verhüllt in burkaähnliche Umhänge, kein Gesicht sichtbar." Die "Ascheflocken segeln herab, unentwegt, bis zum Ende der 'Ringparabel'." Am Ende rufe der Muezzin aus Lautsprechertröten zum Gebet. "Sind alle hier Muslime? Hat Löffner gerade Houellebecqs Roman 'Unterwerfung' (falsch) gelesen?", fragt sich Tholl und beschließt, dass es doch letztlich egal ist, "weil aus dem Bild nichts entsteht."

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