Reigen - Yosi Wanunu und Haiko Pfost versuchen sich in Wien an einem "post porn Schnitzler"
Que(e)rschnitt der Gesellschaft
Von Kai Krösche
Wien, 10. März 2016. Als Arthur Schnitzler seinen "Reigen" im Jahr 1903 veröffentlichte, war die Welt noch eine andere; ein Theaterstück, welches das Balzverhalten quer durch die Gesellschaftsschichten hindurch unverhohlen (über-)zeichnete und lediglich den Geschlechtsakt selbst aussparte: Ein Skandal, nicht aufführbar, verkommen.
Inzwischen wird man mit Schnitzlers (nicht nur) skandaltechnisch in die Jahre gekommenen Szenenreigen kaum noch jemanden zum leidenschaftlich geführten Kampf um Sitte und Anstand auf österreichischen Bühnen provozieren können: Zu dick liegen auf dem Stück Staub und Charme einer vergangenen Zeit. Wieso also dieses Stück heute noch aufführen? Was erzählt uns das Balzverhalten anno 1903 im Jahr 2016 und wie sieht ein "Post-Porn Schnitzler" aus, der nun in einer Gemeinschaftsproduktion um Yosi Wanunu und Haiko Pfost auf der Bühne des Wiener WERK X versprochen wird? Geht das überhaupt – eine Re-Interpretation des "Reigen", die sich bewusst von jenen vielleicht für seine Zeit halbwegs repräsentativen, aber heteronormativen und stereotypen Rollenbildern, die Schnitzlers Stück dominieren, freimacht zugunsten einer komplexeren Zeichnung von Sexualität, Geschlecht und Identität?
Ohne Rücksicht auf Geschlechter
Links und rechts auf der zur Blackbox verwandelten Bühne des WERK X: jeweils drei Schminktische, in der Mitte: eine Bühne auf der Bühne. Der "Post-Porn Schnitzler" ist zugleich postdramatisch: Während auf der von Glühbirnen beleuchteten Guckkastenbühne Schnitzlers Originaltext gegeben wird, sind die zehn Performer*innen sie selbst. Die Welt Schnitzlers ist hier stets als solche erkennbare Illusion; und jene, die sie auf der Bühne zum Leben erwecken, unterwandern bewusst jegliche Erwartungen an eine konventionelle Besetzung: Männer, Frauen und gender-nonconforming Performer*innen verkörpern die Figuren wild kombiniert und ohne Rücksicht auf die vom Stück zugeschriebenen Geschlechter.
So sehen wir eine zwar gekürzte, aber sonst bis in die Gesten hinein textgetreue Aufführung von Schnitzlers Stück in ungewöhnlicher Besetzung. Läuft das Spiel anfänglich noch gegen den Strich, so nähert es sich – zusammen mit der Kostümierung – zunehmend einer Umsetzung der Vorlage an, die so mancher wohl unter anderen Bedingungen als "werktreu" bezeichnen würde. Am deutlichsten zeigt sich der schleichende ästhetische Wandel an der Rolle der Dirne, die zu Beginn und zum Schluss des Stücks vorkommt – tritt Bernd Eischeid am Anfang noch in Hose und T-Shirt auf, so hat er sich im Laufe des Abends für die Endszene in eine Frau verwandelt, inkl. Make-Up und Perücke.
Sprühsahne statt Blowjob
Echten oder simulierten Sex gibt’s auch im Post-Porn-Schnitzler nicht zu sehen. Anstelle des Geschlechtsakts treten hier mal mehr, mal weniger humorvolle Kurz-Performances, die in abstrahierter Form sexuelle Handlungen andeuten; Sprühsahne auf die kahle Stirn, klebriges Löffeln aus dem Honigtopf, angedeutete Blowjobs, dazu Musik – recht erschließen wollen sich die verschämten Kurzeinlagen nicht.
Ungleich spannender sind die folgenden Szenen, in denen die Performer*innen, in die zu uns gerichteten Spiegel blickend, kurze Gedanken und Anekdoten sprechen: Einblicke in Sexualitäten, Lebensentwürfe und Geschlechtsidentitäten jenseits des Mainstreams, in alternative Formen des Begehrens und Aufbegehrens. Wenn die die Geschlechtergrenzen verschwimmen lassende Performancekünstler*in Lucy McEvil über das von ihr gespielte "Süße Mädel" feststellt, dass dieses so sehr Stereotyp bleibe, dass ihm sogar der Name verwehrt werde (den es erst bekomme, wenn es einen Mann heirate – und dann trage es lediglich dessen Namen), und dies dann der Freiheit der eigenen Existenz gegenüberstellt – dann ist das nicht nur ein interessanter Kommentar zum kurz zuvor Gesehenen, sondern ebenso ein berührendes, weil starkes Bekenntnis zur eigenen Emanzipation.
Keine Überraschung, nur Overacting
So ganz zünden will der Abend trotzdem nicht. Zu gemischt die klassisch-schauspielerischen Qualitäten der einzelnen Ensemblemitglieder: Was im performativen Teil des Abends keine Rolle spielt, führt bei dem werktreuen Schnitzler-Spiel zu starken Ungleichheiten, die immer wieder ins Laienspiel oder Overacting driften. So wird, statt mittels einer ungewöhnlichen Besetzung nach vielleicht noch Verborgenem in Schnitzlers Text zu suchen, dieser ungewollt mehr vor- als aufgeführt. Wäre es gelungen, hier weniger das Aus-der-Zeit-Gefallene des Textes auszustellen und die Vorlage tiefer und konsequenter zu durchleuchten, so wäre man vielleicht noch auf die ein oder andere Überraschung gestoßen; so aber gerät der "Post-Porn Schnitzler" trotz aller Verheißungen am Ende unbefriedigender als erhofft.
Reigen (the making of a post porn schnitzler)
basierend auf Arthur Schnitzlers "Reigen"
Inszenierung/Leitung: Yosi Wanunu, Haiko Pfost Musik: Oliver Stotz, Sabine Marte, Bühne: Johannes Weckl, Haiko Pfost, Kostüme: Bernd Eischeid, Marius Valente, Licht: Yosi Wanunu, Johannes Seip, Dramaturgie/Konzept: Haiko Pfost, Text: Arther Schnitzler, Ensemble, Florian Ronc. Mit: Denice Bourbon, Veza Maria Fernandez-Ramos, Dutzi Ijsenhower, Denise Kottlett, Peter Kozek, Lucy McEvil, Nancy Mensah-Offei, Elinor Mora, Nora Safranek, Anat Stainberg.
1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.werk-x.at
Petra Paterno von der Wiener Zeitung (12.3.2016) findet: "Diese Performer auf eine größere Bühne geholt zu haben, ist das eigentliche Verdienst der Aufführung." Diese komme immer dann in Gang, wenn die Akteure zwischen zwei Schnitzler-Passagen etwas aus ihrem eigenen Leben erzählen würden. "In diesen Momentaufnahmen wird ein anderer Blick auf Liebe, Lust und Leidenschaft viel unmittelbarer als in dem etwas bemühten Rollentausch beim 'Reigen'." Zwischen den Schnitzler-Szenen und den Lebensberichten hingegen zerfalle der Abend etwas und finde nicht wirklich zu einer Form. "Mehr Leben, weniger Kunst", fordert Paterno.
Yosi Wanunus Inszenierung sei "erstklassig", so Norbert Mayer in der Presse (11.3.2016) und ein "Reigen", "der jedem Life Ball zur Ehre gereichte". Was bei Schnitzler ausgespart werde, der Vollzug, deuteten die Schauspieler hier meist humorvoll und originell an. "Selten wird's 'voll porno'" und wirke meist locker.
Das "Objekttheater lehrte heiter-verständlich erotische Praktiken", gibt Margarete Affenzeller im Standard (18.3.2016) zu Protokoll. "Das Besondere des Abends bleibt aber die Schnittstelle zwischen eigener Biografie und Schnitzler-Rolle". Im queeren Rollenspiel-Reigen verlaufe alles "Das verläuft alles in rascher Schnitttechnik, herb-funktional mit metaphorischen Pointen".
alles in rascher Schnitttechnik, herb-funktional mit metaphorischen Pointen - derstandard.at/2000033203685/Gedanken-eines-StubenmaedelsDas verläuft alles in rascher Schnitttechnik, herb-funktional mit metaphorischen Pointen - derstandard.at/2000033203685/Gedanken-eines-Stubenmaedels
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