Der kategorische Imperativ des Spektakels

von Nishant Shah

September 2015. Unsere Digitaltechnologien sind vor allem Systeme des Beobachtens und Observierens. Wie es in Abwandlung eines alten philosophischen Problems witzelnd heißt: "Wenn im Wald ein Baum umfällt und niemand ist da, der es twittert, ist der Baum dann auch wirklich umgefallen?" – so scherzhaft das klingen mag, ist doch wahr daran, dass wir in einer panoptischen Blickwelt leben. Ob es nun die ubiquitären Kameras in unseren Smartphones sind, Dronen am Himmel, Überwachungssysteme, die unsere Informationsflüsse kontrollieren, oder Satelliten, die noch unsere Schlafzimmerfenster ausspähen können: Wir leben in einer Kultur der gegenseitigen Überwachung und Beobachtung, deren Zwang zur Observierung einen wiederum kontrollbedürftigen Datenüberschuss generiert, welcher zusammen mit der ständig wachsenden Zahl von Zuschauern, die uns beobachten, unser Leben in lauter Schauspiele verwandelt hat. Diese präsentieren sich in Form zerstückelter und dekontextualisierter Inszenierungsfragmente, die sich zwar noch zu längeren Narrativen verknüpfen lassen, aber meist mehr schlecht als recht einzig von Algorithmen der Verteilung, Speicherung und Kuratierung zusammengehalten werden.

Die Bildkulturen und Bezeugungspraktiken der digitalen Wende sind so anschmiegsam und verführerisch, dass dies zu einem Paradox geführt hat, welches ich den kategorischen Imperativ des Spektakels nennen will. Es beginnt damit, dass das Digitale zu einem Medium wird, durch das wir uns selbst und andere wahrnehmen (etwa, wenn unsere Selfies der Vergewisserung dienen, dass man uns auch wirklich sieht) und mit dessen Hilfe wir unseren sozialen Netzwerken ein zunehmend stärker vermessenes Ich präsentieren, an dem sich alles, von unseren tiefsten Leidenschaften bis hin zu unseren inneren Körperfunktionen, bildlich vergegenwärtigt findet. Die Bilddarstellung wird damit zur Standardmetapher, mit der die Wirklichkeit erklärt, Beziehungen geschildert, Geschichten erzählt und historische Anekdoten und Begebenheiten neu aufbereitet werden. Und zwar mit dem Ziel, penetrative Tiefentechnologien zu entwickeln, die sich überschneiden, aufeinander einwirken und die Natur des Menschen bildhaft ergründen. Hatte die kartesianische Aufklärung den Menschen als ein denkendes Wesen konzipiert, so geht er aus der digitalen Aufklärung mit ihrer Glasfaseroptik als sichtbare Erscheinung, als ein angeschautes Wesen hervor, angeschaut allerdings nicht mehr von anderen Menschen, sondern vom Digitalen selbst.

ITE Algorithmus 560 .UniBremenITE Algorithmus Quelle: Universität Bremen

Wir leben in einer Zeit beispielloser Veränderungen, in der die Daten, die wir von uns generieren, digitaltechnologiegestützt sind, und in der der einzige Weg, sie zu ordnen, zu speichern, zu sieben und zu begreifen über Logiken und Logistiken des Digitalen führt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wir mögen zwar glauben, dass es den Social Media darum zu tun sei, uns über Länder und Lifestyles hinweg netzweit mit Freunden und Followern zu verbinden, die sich für das interessieren, was wir zur gemeinsamen Nutzung ins Netz stellen. Die Wahrheit jedoch ist, dass in einem sozialen Netzwerk das einzige, das uns sieht und hört – und dies mit einer Eindringlichkeit, die wir an jedem menschlichen Wesen erschreckend fänden – ein Algorithmensatz ist, der uns geduldiger und beharrlicher zuhört, zusieht und erinnert, als es unsere Eltern, Partner oder Therapeuten je vermöchten. Der kategorische Imperativ des Spektakels gründet sich darauf, dass wir uns zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte in einer Lage befinden, in der weder der Datenschreiber noch der Datenleser Menschen sind. Der Mensch in dieser Konfiguration ist das angeschaute Objekt und auch der stets in Sichtweite befindliche Sitz jener zugleich allgegenwärtigen und unsichtbaren Digitalgeräte, Plattformen und Gadgets.

Das im Imperativ des Spektakels gründende Paradox besteht nun darin, dass jene Digitalgeräte ein so omnipräsenter und selbstverständlicher Teil unseres alltäglichen Umgangs geworden sind, dass wir sie in ihrer Transparenz übersehen und nur noch durch sie hindurchblicken. Sie begegnen uns an Schnittstellen der Intimität. Sie vibrieren in unseren Taschen und gleiten geschmeidig durch unsere Finger. Sie betasten, befühlen, umschlingen uns und bleiben doch transparent. Die Ironie dabei ist, dass eben da, wo sie sich durchsichtig zeigen, sie undurchsichtig werden. Je kleiner, individuell abgestimmter, flexibler und unaufdringlicher unsere Geräte werden, desto eher verbergen sie vor uns ihre Funktionsmechanismen und damit ihre Kontrolle über unser Alltagsleben. Der kategorische Imperativ des Spektakels greift dieses Paradox mehrfach auf und spielt es immer aufs neue aus, und zwar mit der Konsequenz, dass wir uns einerseits dem Digitalen zunehmend aussetzen, indem wir Schauspiele unserer selbst für Algorithmen und Kennzahlen produzieren, die uns beobachten und sich uns merken; andererseits führt dies dazu, dass das Digitale selbst unsichtbar wird, sich dem Blick entzieht und es einem damit unmöglich macht, zu erkennen, was in den digitalen Netzwerken des Lebens, der Arbeit und der Sprache ausgeschlossen bleibt oder als bloßes Störgeräusch abgetan wird.

MarcZuckerbergbeimWorldMobileCongressBarcelona2016 560 Facebook uVom Do-It-Yoursef-Hacker zum Imperator des Spektakels?  Facebook-Chef Marc Zuckerberg im Februar 2016 beim World Mobile Congress in Barcelona.  © Facebook

Der kategorische Imperativ des Spektakels ermöglicht uns auch ein gezielteres Eingehen auf Fragen der Infrastruktur, Historisierung, Produktion und Verteilung, die sich etwa darauf richten, wie das Internet entweder als ein Katalysator für neue Theaterpraktiken oder als ein infrastrukturbildendes Instrument genutzt werden kann, mit dem sich neue Zuschauerkreise oder Zielgruppen gewinnen lassen. Zugleich gilt, dass nur Körper, die sichtbar werden können, die der Prüfung der Blicke standzuhalten vermögen und die für die Logiken des Digitalen Lesbarkeit und Verständlichkeit erlangen können, als legitime Akteure in Betracht kommen. Dadurch sind wir eingenäht in die Narrative von Do-it-yourself-Hackern und selbstermächtigten Akteuren: jener Gestalter des digitalen Wandels also, die sich mit dem Digitalen verbunden und begonnen haben, damit ihre unmittelbare Umgebung gesellschaftlich, ökonomisch und politisch umzuwandeln. Wenn diese Narrative dann auf das Informationsterrain kartiert werden, generieren sie neue Geographien und neue Felder für weitere Erzählungen von Akteuren, die ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen und damit neue Strukturen der Kontrolle, Beteiligung und Zusammenarbeit schaffen. Wenngleich unbestritten ist, dass ein solcher Trend hin zu solchen individuellen Akteuren besteht, die sich die Macht des Internets zunutze machen, um mit diversen Kulturen und Existenzweisen innovativ zu experimentieren, halte ich doch dafür, dass sich diese immerhin sehr zahlreichen Akteure in der Struktur ihres Handelns gegenwärtig äußerst ähnlich sind.

Oder anders ausgedrückt: Ich bin der Auffassung, dass in der Welt der Big Data und des vermessenen Ich, in der die dominierende Ästhetik des Netzes eine visuelle ist, in dem Netzwerk-Snapshots, Infographiken und individuell angepasste Dashbords zu markanten Schnittstellen geworden sind, es zwar eine breite Skala, aber kaum eine echte Vielfalt an Menschen gibt, die gegenwärtig als präsentable und sichtbare Akteure des Wandels vorzeigbar wären. Die Beschäftigung mit Anliegen postkolonialer Theorie, feministischen Ansätzen in wissenschaftlichen und technologischen Studien sowie Anstöße aus infrastrukturellen und logistischen Kulturtheorien haben uns auch gezeigt, dass dies keine neue Erscheinung ist. Tatsächlich besteht ein Problem der digitalen Wende darin, dass sie trotz der Innovation, die sie verkörpert und verspricht, vermutlich doch weiterhein die Tropen der Diskriminierung perpetuiert, indem sie Körper, die nicht als spektakulär, also nicht als zuschauer- und darstellungswürdig gelten können, kurzerhand unsichtbar macht.

Der Ungläubige ohne Geschichte

Im Jahre 1835 schrieb Thomas Babington Macaulay, dessen Namen ich mir nur dadurch erklären kann, dass seine Eltern ihn vermutlich zuwenig liebten, in einer Minutes on Education betitelten Amtsschrift, dass "ein einziges mit guter europäischer Literatur bestücktes Regal die gesamte (einheimische) Literatur Indiens und Arabiens aufwiegt".

In Maculays Augen war der eingeborene indische "Heide" ein Subjekt mit einer Vergangenheit, aber ohne Geschichte und von daher auf eine englischsprachige Erziehung angewiesen, um so zur middleware für eine effiziente Verwaltung zu werden. "Macaulays Kinder", wie man sie in Indien verächtlich nennt, wurden zum Präzedenzfall des modernen Zuschauers, hervorgegangen aus der hybriden Technokratie einer Kolonialregierung im Bündnis mit den Codes und Kodizes von Wissensproduktion. Woran sich zeigt, dass Zuschauer insgesamt stärker von einer Politik der Kolonisation und Ausgrenzung betroffen sind, als von den eigentlichen Bildungs- und Interpretationsformen.

Thomas Babington Macaulay 280 um1850 gemeinfreiThomas Babington Macaulay um 1850So hatte Macaulay, anstatt die Bücher der großen Schriftsteller Englands nach Indien zu bringen und die Inder das Lesen und Schreiben zu lehren sowie ihnen ein Literaturverständnis zu vermitteln, zwei Arten von Lehrbüchern in das öffentliche Bildungswesen Indiens eingeführt: das Hauptbuch und das indische Strafgesetzbuch. Damit hatte Indien nun seine Vermesser und Buchhalter, die seinen Reichtum und seine Ressourcen für die British East India Company quantitativ erfassten. Das Buchhaltungssystem sollte aber nicht nur die Vormachtstellung des British Empire kodifizieren, sondern auch die zahlenmäßige Erfassung der indischen "Heiden" ermöglichen. Das Hauptbuch machte uns kenntlich als Wesen, die zählen und gezählt werden konnten.

Etwas, das sich auch in Konstruktionen von Akteuren des digitalen Wandels wiederfinden lässt, ist Macaulays entschlossenes Bemühen, den eingeborenen Inder zu einem Pukka Sahib, einem echten britischen Gentleman heranzubilden. Im Sinne dieser Umwandlung schuf Macauley das indische Strafgesetzbuch, welches zwanghaft darauf aus war, die vermeindlich orgiastischen Gebräuche der Inder zu zügeln. Macaulay formulierte darin ein Gesetz gegen "abnorme Sexualpraktiken" (Unnatural Sexual Acts Law), das alle Geschlechtsakte, mit Ausnahme des für die Fortpflanzung bestimmten Genitalverkehrs, kriminalisierte. Auch fanden sich dort eine Reihe von Richtlinien für die Zügelung homoerotischer Ausschweifungen der Inder, wie beispielsweise die, dass in geschlossenen Räumen Grenzen zu ziehen und festgelegte Abstände einzuhalten seien, um so zu verhindern, dass die unreinen Männerkörper einander berührten und so etwa den Versuchungen des Fleisches erlägen. Diese Abgrenzungen wurden dann zur Vorlage für das Maß an Abstand, der zwischen zwei Männern in einem engen Arbeitsumfeld einzuhalten war, damit sie sich auf ihre Arbeit konzentrierten, ihre libidinösen Begierden zügelten und dem Drang widerstehen sollten, in Gesang, Tanz und Sodomie zu verfallen.

Denn schließlich musste der "Eingeborene" erst einmal lernen zu zählen und sich zählen zu lassen, zu rechnen und ausgerechnet zu werden, musste der "Eingeborene" erst einmal dazu erzogen werden, die rechtlichen Folgen seiner penilen Begierden zu begreifen, um den Wert der Literatur und die Macht der Dichtung zu ermessen, die ihn dazu einluden, wie eine einsame Wolke dahinzuziehen und auf ein Heer von Goldnarzissen zu stoßen. Damit der "Eingeborene" ein des Lesens und Deutens kundiger Akteur und Teil eines Publikums werden konnte, hatte zuvor eine gewaltige Infrastruktur von Buchhaltung und Überwachung mobilisiert werden müssen.

Es ist dies, was ich die Nachtseite der Infrastruktur nenne. Wir machen uns etwas vor, wenn wir nicht erkennen, dass die Infrastruktur, ob nun für den Kulturraum des Theaters oder den diffusen Raum des Netzes, nicht allein der kontrollierenden Überwachung unterliegt, sondern ihrerseits auch die Grenzen des als Norm Geltenden und des Triebhaften überwacht. Wer immer dazu tendiert, diese beiden Räume als transgressiv, provokativ und zur Veränderung drängend zu begreifen, muss mit dem massiven Widerstand diverser Kontrollmächte rechnen, die darüber bestimmen, wer in unseren vernetzten Gesellschaften aktiv werden darf und wer lediglich aktiviert wird.

Ein stalkender Delphin

Wir stellen uns den Akteur in einem Informationsvorgang nicht nur als Menschen, sondern auch als einen bestimmten Typus vor: ein Wesen, das fähig ist, Informationen sowohl zu empfangen als auch zu entschlüsseln. Die Formen, Formate und Tropen unserer Informationserzeugung und -verteilung sind äußerst beschränkt und schablonenhaft, da sie der Tatsache nicht Rechnung tragen, dass der Informationsempfänger eigentlich ein Konstrukt ist. In den Informationsgesellschaften wird der Akteur des Wandels als selbstverständlich kompetent vorausgesetzt, und anstatt in dieser Kompetenz nur das Privileg einiger weniger zu erkennen, richten sich alle Bemühungen auf Ausweitung, Vermainstreamung und Verstärkung des gegenwärtigen Informationsangebots, wo doch vielmehr angebracht wäre, darüber nachzudenken, wie sich neue Akteure für das Informationsnetzwerk dazugewinnen ließen.

So richtet sich beispielsweise das Hauptaugenmerk unserer digitalen Informationsausbreitung auf Diversität, die dann aber häufig durch schiere Masse ersetzt wird. Oft stehen uns anfangs noch unterschiedliche Typen von Nutzern vor Augen, doch endet es meist damit, dass daraus eine Vielzahl des gleichen Nutzertyps wird; und es macht uns nicht einmal etwas aus. Sobald wir uns einen Akteur denken, der nicht einfach nur eine Variante des vorgestellten Typus ist, sondern ein davon deutlich verschiedener Akteur, erkennen wir zugleich die Begrenztheit und Möglichkeiten unserer derzeitigen Informationsformen.

MargaretHowe PeterDolphin 560 LillyEstateMargaret Howe und der Delphin Peter © Lilly Estate

Der Tropus eines Nutzers der anderen Art lässt sich vielleicht am besten anhand der Geschichte der Kybernetik und der Anekdote eines stalkenden Delphins veranschaulichen. Schon in den 1950er Jahren versuchte der finanziell von der NASA geförderte Neurophysiologe John C. Lilly herauszufinden, was geschehen würde, wenn Menschen mit außerirdischen Wesen kommunizieren könnten. Auch wenn dabei einiges an Einbildung mit im Spiel gewesen sein mag, so hatte Lilly doch ein echtes Problem berührt, nämlich, dass obwohl wir im Besitz hoch entwickelter Geräte der sprachlichen Informationsübertragung im zwischenmenschlichen Bereich sind und über Übersetzungsmethoden verfügen, die es gestatten, sich sprachlich mit denen zu verständigen, die eine andere Sprache sprechen, bisher wenig Forschungsarbeit zur sprachlichen Kommunikation mit nicht-menschlichen Wesen geleistet worden war.

In dem Bestreben, die (Sprach-)Barriere zwischen den Arten zu durchbrechen, ließ Lilly ein Delphinarium auf den amerikanischen Jungferninseln bauen. Das Delphinarium war ein mit Wasser geflutetes Haus. Lilly bot Margaret Howe, einer jungen Verhaltensforscherin, an, auf der Insel mit einem großen Tümmler namens Peter zusammenzuleben. Das Experiment basierte auf der Hypothese, dass sich Delphinen beibringen ließe, die menschliche Sprache zu erkennen, nachzuahmen und zu erlernen, und die darin angewandte Methodologie auf Howes Geschick, eine affektive, enge und liebevolle Beziehung zu Delphin Peter aufzubauen.

Als Howe und Peter nun in der Abgeschiedenheit der Insel zusammenlebten und ihre gesamte Zeit miteinander im Labor verbrachten, enwickelte Peter allmählich eine Fixierung auf Howe. Er begann, ihr überallhin zu folgen, wobei er nach einer Art von Körperkontakt verlangte, der sich nur mit Begriffen wie Liebkosung, Zärtlichkeit, Schmusen oder Kuscheln umschreiben lässt; ja, er schlief sogar unter ihrem Bett, das über dem Wasser hängend angebracht war. In seiner Leidenschaft zu Howe, die er mit körperlichen Bezeugungen seiner Liebe überhäufte, verweigerte der Delphin Peter den Kontakt mit Gefährtinnen der eigenen Art Delphinweibchen, die man ihm von Zeit zu Zeit zuführte. In dem Bestreben, ihn zu beruhigen und ihn dahin zu bringen, für das Erlernen der neuen Sprache empfänglich zu werden, bat man Howe, Peters aggressive Anhänglichkeit nicht nur zu fördern, sondern auch seinen seelischen und körperlichen Bedürfnissen zu entsprechen.

Nun fanden sich aber in der fünften Woche ihres Zusammenlebens in Howes Tagebuch, das mit täglichen Schilderungen ihrer Haushaltspflichten und dem Vertrautwerden mit Peter begonnen hatte, plötzlich Einträge, in denen sich neue Bedenken ankündigten. "Peter hat auf einmal Erektionen, und dies häufig, während ich mit ihm spiele',' ist in einem Eintrag zu lesen. Peter war dazu übergegangen, Howe mit seinen immer aggressiver werdenden Annäherungsversuchen dermaßen zu bedrängen, dass ihre Füße und Beine schließlich durch das Stoßen und Beißen mit leichten Wunden überzogen waren.

Und so beschreibt Howe Peters 'Werbungsversuche': "Ich stehe stockstill mit leicht gespreizten Beinen, und Peter lässt sein Maul sanft über mein Schienbein gleiten.....Peter umwirbt mich.....Er geht äußerst beharrlich und geduldig dabei vor....... Deutlich ist hier eine erotische Komponente im Spiel....Die Stimmung ist sehr zärtlich, still und gedämpft, ... alle Bewegung langsam." Beunruhigt fragte Howe sich, wohin das alles noch führen würde: "Wenn er wollte, könnte Peter mich in Stücke beißen", schreibt sie. Indes nicht gewillt, das Experiment abzubrechen, und neugierig auf die Auswirkungen dieser leidenschaftlichen emotionalen und körperlichen Verbindung, nahm Howe die Dinge selbst in die Hand, überzeugt, "dass der beste Weg, seine (Peters) Aufmerksamkeit wieder auf sein Training zu lenken, der war, sein Verlangen manuell zu stillen."

Das Experiment mit Howe und Peter wurde oft kritisiert, und Lillys Behauptung, Peter habe dank des neuartigen und innovativen Lernmilieus gelernt, Wörter wie "Ball" und "Diamant" auszusprechen, nicht unbesehen hingenommen. Doch obgleich Lillys Behauptungen den Kriterien wissenschaftlicher und objektiver Wahrheit nicht standhalten und es zweifelhaft ist, dass Howes gefühlsstarke artenüberschreitende Beziehung zu Peter tatsächlich zum vermutetem Lernerfolg des Delphins geführt hat, findet sich in diesem Modell eine Neukonzipierung des Lernenden, die in unseren Kartografierungen von Informationsakteuren fehlt.

Howes und Peters Geschichte zeigt die Brüchigkeit, die Fehlerhaftigkeit und Nutzlosigkeit all unserer derzeitigen Theaterpraktiken angesichts der Idee von einem Wesen, dem die Privilegien, Möglichkeiten und der Rang des üblicherweise vorgestellten Akteurs vorenthalten werden. Uns den Delphin als von uns gemeinten Kommunikationsteilnehmer zu denken, eröffnet uns völlig neue Perspektiven des Paradigmenwechsels und gibt uns ein neues Verständnis für das, was die Bedeutung einer Intervention/Vermittlung/eines Eingriffs ausmachen kann. Fuer Lilly war der Delphin kaum mehr als eine Gallionsfigur, die für eine Begegnung der dritten Art im Weltraum stand. Wenn wir den Delphin als jenen uns unvorstellbaren Veraenderungsrepräsentanten begreifen, der aus der heutigen Lage nicht klug wird, dann werden wir unsere Vorstellung von Aktivismus neu überdenken müssen. Und vielleicht werden wir, um uns mit ihnen zu verständigen, so wie Margaret, auf die Wünsche unserer Akteure eingehen müssen; und unsere Interventionen werden dabei notgedrungen die Kreisläufe der Perversion und der Paranoia zu durchlaufen haben und am Ende davon geprägt sein.

von einem der auszog 560 leonoreblievernicht hKein Zusammenspiel von Macht und Algorithmen: Bert Neumanns Bühne für René Polleschs Stück "Von einem der auszog, ...", Volksbühne Berlin 2015. © Leonore Blievernicht
Mit diesen beiden Geschichten aus Kolonialgeschichte und Kybernetik habe ich aufzuzeigen versucht, dass wir unser Augenmerk stärker auf die instrumentellen Beziehungen von Aspekten wie Verteilung, Zugang, Ausweitung oder Zirkulation richten müssen, wenn von den Akteuren des Wandels in unseren Organisationen die Rede ist. Ich meine, dass hier ein sehr bedrohliches Zusammenspiel von Macht und Planung, Algorithmen und Akteuren, Netzwerken und Auftritten am Werk ist, welches wir durchschauen müssen, wenn wir über die politische Zukunft und die gesellschaftlichen Strukturen eines zunehmend mit dem Internet verflochtenen Theaters nachdenken.

Ich denke, dass, wenn wir uns ausschließlich mit dem Imperativ des Spektakels im Kontext dieser Veränderung auseinandersetzen, wir den viel garvierenderen Zusammenhang unberücksichtigt lassen, den technologische Designs, Schnittstellenpläne sowie digitale Impulse darin bedeuten. Eben jene Zusammenhänge sind es aber, die unterschiedlichste Gruppen ausgrenzen und diskriminieren, welche dann in den Kreisläufen des digitalen Paradigmenwechsels nicht mehr sichtbar werden. Abschließend schlage ich vor, dass wir über den kategorischen Imperativ des Spektakels hinaus gehen müssen, der das Digitale konfiguriert, wenn wir hier von Infrastruktur, Maßnahmen, Repräsentanten und Vorsätzen sprechen. Es wird darum gehen, zunächst Körper, Praktiken und Prozesse in den Blick zu bekommen, die ausgegrenzt werden oder Ausgrenzung aus dem gegenwärtigen Ökosystem der Veränderung produzieren. Erst dann werden wir wirklich in der Lage sein, neue Vorstellungen zu entwickeln, die nicht durch Kategorien wie Größe und Reichweite eingeschränkt werden, sondern von einem Bekenntnis zu Gleichheit, Gerechtigkeit und Teilhabe getragen sind.

 

NishantShah 140Foto: PrivatNishant Shah ist Professor für Kultur & Ästhetik digitaler Medien an der Leuphana Universität Lüneburg sowie Mitbegründer des Centre for Internet & Society in Bangalore/Indien. Er forscht an Schnittstellen von Technologie, Gender und Identität, Cyberkulturen sowie sozialer und politischer Bewegungen. Oben stehender Text ist die überarbeitete Version der Keynote, die Shah am 2. Mai 2015 in englischer Sprache zur Eröffnung der Konferenz Theater und Netz. Vol. 3 der Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de in Berlin gehalten hat. 
Die deutsche Übersetzung des Essays ist von Leyla Igarashi.

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