Der Kosmos kotzt

von Janis El-Bira

17. März 2015. Zum Allerschönsten in der Literatur überhaupt zählen Verschwörungen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass die Prinzipien einer Verschwörung denen des Erzählens und des Lesens gleichermaßen verwandt sind. Wer sich verschwört, trifft geheime Absprachen, legt falsche Fährten, zieht die Fäden und tritt irgendwann doch immer ins Helle. Der Verschwörung zu folgen, ihr auf die Spur zu kommen, bedeutet andererseits, Sinn zu konstruieren, dem Flüstern eine Richtung abzulauschen, die Zeichen zu lesen. Auf beiden Seiten der Verschwörung lockt die Verheißung einer kaum zu steigernden Freude: Welterschließungseuphorie.

Im friesischen "Twin Peaks"

So gesehen ist "Der Fuchs", das gut 700-seitige, buchmessenpreisnominierte Romandebüt des Dramatikers Nis-Momme Stockmann, grandiose Verschwörungsliteratur. Nicht deshalb, weil es hier um ein Komplott im herkömmlichen Sinne ginge, sondern weil Stockmann die Partitur verschwörerischen Erzählens aufs Schönste zu instrumentieren versteht. Das beginnt schon beim Ort dessen, was anderswo "Handlung" hieße: Die Geschehnisse des Romans ereignen sich in Thule. Ausgerechnet Thule, diesem nur bei Seefahrern, Philologen und Nazis populären Mythenamalgam. Stockmann hat den Nicht-Ort verpflanzt, ihn in ein schlimmes, ja böses Kaff an der Nordseeküste verwandelt. Ein friesisches "Twin Peaks" mit doppeltem Boden und fremden Mächten, die unsichtbar die Geschicke zu lenken scheinen.

Zu Beginn allerdings lässt Stockmann diese Romanwelt erst einmal fluten: "Und dann kam das Wasser", lauten die lapidaren Eröffnungsworte, mit denen die Apokalypse über Thule hereinbricht. Das salzige Nass der See verschlingt das Dorf. Die Flut spült die Vergangenheit an und Artefakte aus dem öden Thuler Leben treiben im Wasser. Es braucht einen Archäologen, sie herauszufischen und aus dem Kataklysmus eine Ordnung, vielleicht sogar das Spiel mysteriöser Strippenzieher herauszulesen. Finn Schliemann heißt Stockmanns Archäologe bezeichnenderweise und gemeinsam mit seinen Freunden Jütte, Baumann und Dogge hockt er anfangs auf einem Häuserdach, während zu seinen Füßen die Welt untergeht und die Erinnerungen vorbeiziehen.

Ein Erinnern, das Erfinden heißt

Buchcover Stockmann Der FuchsDoch wer erwartet, bei Stockmann komme nun die Erinnerung auf der Salzsuppe dahergeschwommen wie bei Proust die Madeleine in die Teetasse fällt, der sieht bald kein Land mehr. Finn Schliemann ist nicht auf der Suche nach der verlorenen Zeit, sondern der Antwort auf die eklatant drängende Frage, weshalb "der Kosmos kotzt", wie sein Kumpel Dogge sagt. Stockmann zelebriert die Wucherungen eines "Erinnerns, das Erfinden heißt", und so scheint sein Held sich stellvertretend für Thule, für die ganze versinkende Welt, zum Grund der Katastrophe vorzutasten.

Da ist zunächst, breit aufgefächert, Finns Jugend im Dorf in den 1990er-Jahren. Sie wird beherrscht vom Stumpfsinn, der Gleichgültigkeit der Erwachsenen, einer rätselhaften Mordserie und insbesondere der schillernden Dämonie der drei Baschi-Brüder, die Tiere und Menschen gleichermaßen quälen: Ein lebendig gewordenes "Sinnbild des Schmerzes und der barocken Gewalt." Aber dann ist da auch Katja, Finns ziemlich entrückte, orakelnde Freundin, ausgestattet mit einem detektivischen Sinn für sphärische Interferenzen. Man erfährt schnell, dass er sie eines Tages an die Psychiatrie verlieren wird.

Sein behinderter Bruder Reini richtet unterdessen den apathischen Blick immerzu in eine andere Welt, später geraten zwei Deicharbeiter Ende des 18. Jahrhunderts über den Begriff der Revolution in einen tödlichen Streit und eine SPD-Gemeinderatsabgeordnete verhandelt mit einem koksnasigen Künstler, der für den Thuler Springbrunnen eine Skulptur entwerfen soll. Sein plötzlicher, von unheimlichen Symbolen begleiteter Tod treibt die SPD-Frau in den Wahnsinn und die Erzählung in eine schweißkalte Alptraumwelt. Schließlich und fast beiläufig gibt es da auch noch die babylonischen Gottheiten Tiamat und Abzu, grübelnd und blutig miteinander ringend, während sie ununterbrochen das Universum gebären. Irgendwann verdichten sich die Hinweise, dass alle hier nur die unfreiwilligen Protagonisten einer "Schlacht im Windschatten der Geschichte" sind, bei der die Gestirne ins Taumeln geraten. "Die Kategorien sind in Unruhe", raunt Katja: "Die Welt macht sich bereit. Sie will mehr von allem." Die Flut wird kommen.

Die Quadratur des Kreises postmodernen Erzählens

Gerade in der zweiten Hälften des Romans werden die Ebenen dieses irren Trips derart komplex ineinander montiert, dass einmal bis zu sieben dünne Hilfslinien vertikal über die Buchseiten gespannt und die Erzählstränge daran angeleint werden müssen. Und dennoch: Anstrengend ist das kaum einen Moment lang. Vielmehr liefert Stockmann hier tollen und oft sehr komischen Stoner Rock in einer immer jungenhaften, drastischen und trotzdem unendlich beschreibungssatten Sprache, der man vor allem in den angespitzten Dialogen den Theaterautor anzuhören meint.

Auf wundersame Weise gelingt ihm dabei so etwas wie die Quadratur des Kreises postmodernen Erzählens: Denn je größer die Fraktalisierung, desto weiter streut im "Fuchs" auch das Restlicht des Sinns. Die Dingsymbole wandern frei durch diesen Roman: Ein zwischen den Welten verlorener, abgetrennter Arm, plötzlich auffliegende Käferschwärme, eine schaurige Gestalt mit Zylinder und natürlich auch der Fuchs selbst, der ganz Thule untertunnelt und in eigener Mission unterwegs ist. Nicht Irrlichter sind das, sondern Scharniere. Leitmotivisch lässt Stockmann sie auftauchen, verknüpft so über Hunderte Seiten Entlegenes, schlägt Schneisen. Er kann das, weil er merklich an die innere Kohärenz seiner selbstgezimmerten Verschwörung glaubt; daran, dass das große Rätsel lösbar, der Weltinnenraum seines Romans fugendicht ausgekleidet ist. "Der Fuchs" ist eine Verführung zum Abenteuer, Fährtenlesen, zum Zurückblättern und Sich-eine-Übersicht-Aufmalen. Man könnte kaum Besseres tun, als ihr nachzugeben.

 

Nis-Momme Stockmann:
Der Fuchs
Rowohlt, 720 Seiten, 24,95 Euro (gebundene Ausgabe)

 

Alles über die Theaterarbeit von Nis-Momme Stockmann im nachtkritik-Lexikon. In Bild und Ton ist der Autor auf der nachtkritik-Festivalseite für die Mülheimer Theatertage 2010 zu erleben, wohin er bereits in seiner Debütsaison mit dem Stuttgarter Auftragswerk Kein Schiff wird kommen eingeladen wurde.

2010 veröffentlichte Stockmann auf nachtkritik-stuecke2010.de außerdem einen Text gegen die Bewertungsmacht der Kritik und für eine Dramaturgie der Zukunft. Im Rahmen der Theaterbiennale Neue Stücke aus Europa 2010 hielt Nis-Momme Stockmann die Rede Vom Verschwinden des Autors und dem anschwellenden Theater.

Vor Kurzem sprach Stockmann in einem Interview mit dem Blog intellectures.de über sein Romandebüt, aber auch über die "Idioten" von der theaterkritischen Zunft.

 

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